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Märchenbasar

Feenstaub

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Es war einmal eine kleine Fee. Sie hieß Lucy und lebte zusammen mit ihrer Familie und dem ganzen Volk in einem riesigen Baum eines sehr alten Waldes.
Die Feen hatten sich ganz oben in der Krone des Baumes ein paar Blätter so zurechtgebogen, dass das Gebilde einer Kuppel glich. Diese schützte zusätzlich vor Regen und Schnee und spendete im Sommer Schatten.
In den jeweiligen Stockwerken des Baumes befanden sich die Wohnungen der Feen und im Geäst bauten unzählige Vögel ihre Nester.
So klein und zierlich die Feen waren, ihr Feenstaub besaß magische Kräfte.
Da gab es die roten Feen. Trotz ihrer Zartheit besaßen sie Bärenkräfte. Ihr Staub ließ auch das kleinste Vögelchen groß und stark werden wie einen Adler. Dann gab es die grünen Feen. Wenn sie ihren Staub auf eine Wunde rieselten, verheilte alles sofort. So blieb der Wohnbaum gesund und kräftig und seine Rinde dick und stark.
Die dritte Art der Feen waren die violetten. Wenn sie es wollten, machte ihr Staub alles unsichtbar. So konnten sie sich auch selbst gut verstecken.
Wurde eine Fee geboren, war sie weiß wie Schnee und die Flügel winzig klein, so dass sie nicht zum Fliegen taugten.
Einen Monat lang mussten die Feenkinder zur Schule gehen und die vielen Regeln und Feengesetze lernen. Danach waren die Flügel ausgereift.
Die Farbe der Feen entwickelte sich mal langsamer, mal schneller. Zuerst färbten sich die Flügelspitzen und die Haare, danach der Körper. Schlussendlich bildete sich auf den Flügeln der magische Feenstaub.
War dies geschehen, konnte die Fee ihre Aufgaben im Volk übernehmen. Sie war erwachsen.

Lucy war noch weiß. Sie war schon zwei Monate alt, jedoch zeigte sich an ihr nicht einmal der Hauch einer Farbe. Sie konnte zwar einwandfrei fliegen, aber ihrer Farblosigkeit nach galt sie nicht als erwachsen.
Ihre Cousine Mimi war gerade einen Monat alt gewesen, da war ihr Haar schon knallrot. Jetzt patrouillierte sie gerade um den Feenbau. Mimi hatte eine Aufgabe. Lucy nicht.
Lucy war unglaublich traurig. „Was stimmt denn nicht mit mir?“, fragte sie ihre Großmutter. Diese lächelte und antwortete: „Die einen brauchen länger, die anderen sind schneller, das ist doch ganz egal. Eines Tages wirst auch du deine Farbe bekommen.“
Der grüne Staub auf Omas Flügeln verblasste langsam. Im Laufe ihres langen Feenlebens hatte sie unzählige Tiere gesund gemacht, jetzt war sie Lehrmeisterin für die Jüngeren, damit auch diese ihre Aufgaben richtig erfüllen konnten.
„Mama hatte ihre Farbe bestimmt viel eher als ich“, schmollte Lucy weiter. „Und Trixi war erst fünf Wochen alt, als ihr Haar violett wurde, obwohl sie noch gar nicht fliegen konnte.“ Lucy war neidisch auf ihre kleine Schwester.
„Ach Kind“, seufzte die Großmutter und nahm einen Schluck Blütennektar aus einem Kelch. „Lass der Natur ihre Zeit, du wirst sehen, alles wird gut.“
Lucy stopfte eine Holunderbeere in den Mund, gab ihrer Großmutter einen Kuss und schwirrte zurück nach Hause.

Kaum hatte sie die Blättertür hinter sich geschlossen, sah sie Trixi verschwommen auf dem Bett hocken. Ihr ganzer Körper flimmerte und sie strahlte übers ganze Gesicht. „Schau mal, Lucy! Mein Staub ist da. Ich kann mich ab jetzt unsichtbar machen. Schau doch nur!“ Augenblicklich wurde Trixi wieder vollständig sichtbar. „Das war ja stark! Ich hab richtig gemerkt, wie ich durchsichtiger wurde.“ Lucy fühlte sich vom Leben benachteiligt und murmelte verdrossen: „ Na toll! Mama wird stolz auf dich sein.“
„Och Lucy, ich kann doch auch nichts dafür“, murrte Trixi.
„Nein, kannst du nicht. Tut mir leid. Ich hab nur schlechte Laune.“ Lucy ging langsam wieder hinaus. Sie wollte Trixi nicht beim Üben zusehen. Sie schwirrte langsam auf den Ausgang des Baumes zu.
„Halt!“, rief die Wache. „Wo willst du hin?“
„Spazieren! Bin bald wieder zurück.“
„Bleib in der Nähe des Baumes, damit dich die Patrouillen immer sehen können!“
„Man darf auch gar nichts, wenn man noch keine Farbe hat“, murmelte die kleine Fee und wollte zur Ablenkung die neue Vogelfamilie besuchen, die seit ein paar Tagen im Baum lebte.
Die Vogeleltern waren Cousine Mimi begegnet und in heller Aufregung, da eine Wildkatze ihr Nest zerstört hatte. Mimi ließ roten Staub über die Federn rieseln, damit das neue Nest wieder schnell gebaut werden konnte. Die beiden Küken wollten auch bestäubt werden und waren total begeistert.
„Ich bin ein Superheld!“, krakelte Pete.
„Nein, nein, nein! Ich bin noch viel roter, ich bin stärker als du!“, kreischte Pat.
„Gut, dass du kommst, Lucy. Die beiden streiten schon eine ganze Weile“, seufzte die Vogelmama. „Kannst du mir helfen, den noch anhaftenden Feenstaub aus ihren Federn zu klopfen?“
Die Kleinen wehrten sich, doch endlich war der ganze rote Staub fort und die Küken wieder friedlich.
„Danke!“, keuchte die Vogelmama. „Ich werde auf Futtersuche fliegen. Mein Mann müsste gleich zurückkommen. Er wollte noch die Wildkatze verjagen, ehe die Wirkung des Zauberstaubs nachlassen würde. Könntest du ein paar Minuten auf die beiden Rabauken aufpassen? Bitte!“
„Lucy! Übst du mit uns fliegen?“, wollten Pete und Pat wissen.
Lucy nickte. Das würde sie von ihrem Kummer ablenken.
Die kleinen Vögel flatterten emsig mit den Flügeln und gaben sich alle Mühe. Endlich schaffte es Pat, ein kleines Stück vom Nest abzuheben. Lucy klatschte Beifall. Nun wollte es natürlich auch Pete schaffen. Er hüpfte auf den Rand des Nestes und sprang in die Mitte. Dabei flatterte er wie wild mit den Flügeln und jammerte: „Och menno! Ich will auch fliegen können!“
Pat schaffte es, noch einmal ein Stückchen abzuheben und landete auf dem Nestrand. Dort blieb er erschöpft sitzen.
„Du bist ein Angeber!“, schimpfte Pete und pickte mit seinem spitzen Schnabel in Pats Flügel.
„Aua!“, kreischte Pat aufgebracht und kippte aus dem Nest.
Lucy und Pete waren vor Schreck wie erstarrt. Wo war Pat? Das hatte Pete nicht gewollt.
„Du bleibst ganz still hier sitzen! Ich suche deinen Bruder“, sagte Lucy streng und schwirrte los. Auf den Zweigen darunter war nichts zu sehen. Einen Ast weiter schauten zwei große Augen über den Rand eines anderen Nestes.
„Hast du einen Vogel herunterfallen sehen?“, fragte Lucy den fremden Vogel. Das Eulenküken nickte. „Ja, ganz weit runter geplumpst ist er. Bis zur Wiese.“
Lucy flog so schnell sie konnte nach unten. Da lag ein Federknäul. Vorsichtig landete sie.
„Pat? Kannst du mich hören?“, Lucy war voller Sorge.
„Aua, aua, aua! Mein Flügel tut so weh!“, jammerte der Kleine. Hier unten auf der Wiese war Lucy viel zu weit von den Patrouillen entfernt. Niemand würde sie hören. Aber sie konnte Pat auch unmöglich alleine lassen. Im Wald lauerten Füchse, Luchse und Raubvögel.
Sie untersuchte den Flügel. Er sah gar nicht gut aus. Die Federn waren zerzaust und an einer Stelle war der Flügel seltsam verdreht. „Ach hätte ich doch nur schon meine Farbe, dann könnte ich dir sicher helfen“, jammerte Lucy mit Tränen in den Augen. Die Sorge und die Verzweiflung krochen ihr den Rücken hinauf und hinunter. Die Flügel kribbelten, ihr wurde schwindelig.
„Lucy!“, keuchte Pat. „Was passiert hier?“
Die kleine Fee fragte verwirrt: „Was hast du denn?“
„Lucy, du… du leuchtest wie ein Regenbogen!“ Pat versuchte aufzustehen, plumpste aber wieder auf seinen Popo.
„Ich tue was?“ Lucy schaute an sich hinunter. Und wirklich, ihr ganzer Körper leuchtete rot, gelb, grün, blau und violett.
Und dann, ganz plötzlich wurde das Leuchten schwächer. Ihre Flügel schimmerten wie ein Regenbogen. Das Haar war leuchtend rot. Ihre Hände und Arme schimmerten hellviolett und Beine und Füße waren grün wie das Gras auf dem sie stand.
„Du hast deine Farbe!“, piepste Pat und versuchte noch einmal aufzustehen, doch er zuckte vor Schmerz zusammen.
„Nein“, hauchte Lucy. „Ich habe alle Farben.“
Ganz vorsichtig wackelte sie mit ihren Flügeln. Schimmernder Staub rieselte nun auf Pats verletzten Flügel. Jetzt schimmerte auch der Vogeljunge, aber der Flügel wurde nicht heil.
„Warum geht das nicht?“, wunderte sich Pat.
Lucy war ratlos. Von einer Fee mit mehreren Farben hatte sie schließlich noch nie gehört. „Ich weiß es nicht“, gab sie zu. „Aber es muss klappen! Heile, heile!“, flüsterte sie, konzentrierte sich mit geschlossenen Augen und strick sanft über den Flügel.
Da wurde das Schimmern heller. Die zerzausten Federn richteten sich. Die seltsame Verdrehung war verschwunden.
„Du hast es geschafft!“, jubelte Pat und beugte vorsichtig den Flügel. „Alles heil! Aber wie komme ich jetzt wieder auf den Baum?“
„Lass mich mal was probieren“, sagte Lucy und rieselte noch etwas Feenstaub auf Pat.
Sie stellte sich vor, wie er groß und stark wurde.
Pat wuchs auf die doppelte Größe an, breitete die Flügel aus und jauchzte vor Freude: „Wahnsinn! Das hast du prima gemacht. Komm, meine Retterin. Nimm Platz!“
Schnell kletterte Lucy auf Pats Rücken und gemeinsam flogen sie hinauf ins Nest.
Pete war schon ganz zappelig. Zuerst erkannte er die beiden Ankömmlinge nicht. Dann aber überzog ein breites Lächeln sein Gesicht. Er hüpfte auf Pat zu und krächzte: „Oh Pat, es tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe.“
Erst dann entdeckte er Lucy. „Menno! Das ist ja großartig. Dein Volk wird Augen machen!“
Lucy war unglaublich stolz und konzentrierte sich ganz fest darauf, unsichtbar zu werden. Sofort verschwammen ihre Umrisse und sie konnte ungehindert an den Wachen vorbei in den Feenbau fliegen.
Dort zeigte sie sich zuerst ihrer Großmutter, dann Mutter und Schwester Trixi. Alle freuten sich für sie und waren mächtig stolz, so eine besondere Fee in der Familie zu haben.

Quelle: Jana Rösch

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