War es gestern oder war es heut, da lebte eine arme, alte Frau in einer erbarmungswürdigen Hütte tief im Wald. Die Wände waren schief, durch die Bretter pfiff der Wind, es gab keine Feuerstelle und die losen Strohballen rutschten ab und an vom Dach. Das Einzige, was die alte Frau ihr Eigen nennen konnte, war ein Schaf. Und dieses, wusste sie, musste sie früher oder später verkaufen. So kam, was unvermeidlich war.
Die alte Frau zog sich eines Tages ihren schäbigen Mantel an, band das Tier an einen Strick und zog es hinter sich her durch den Wald, um es in der Stadt zu verkaufen.
Auf dem Weg dorthin hüpfte plötzlich eine merkwürdige Gestalt hinter einem Baum hervor und schrie: „Autsch! Jetzt hättest du mich beinahe zertreten!“ Die Stimme gehörte einem kleinen, unordentlichen Troll, der einen langen, struppigen Bart und zerfetzte Kleider trug. Sofort entschuldigte sich die alte Frau für ihre Unachtsamkeit. Doch der Troll wollte sich nicht beruhigen: „So lasse ich dich nicht davonkommen! Jetzt bist du mir etwas schuldig!““Es tut mir aufrichtig leid. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich nicht auf den Weg geachtet habe. Na schön! Ich will es wieder gutmachen. Was könnte ich denn für dich tun?“Das Gesicht des Trolls hellte sich auf. Etwas freundlicher sagte er: „Du könntest mir etwas Wolle von deinem Schaf schenken. Nachts friere ich fürchterlich. Ich brauche etwas, womit ich mich zudecken kann!“Die alte Frau freute sich, dass sie dem kleinen Kerl mit so einer Kleinigkeit Freude bereiten konnte und sagte lächelnd: „Nimm dir so viel du brauchst!“Hastig kletterte der kleine Troll am Bein des Schafs hinauf auf dessen Rücken und begann verfilzte Wolle auszuzupfen. Dabei sang er vor sich hin: „Wolle, Wolle, Wolle! Wolle ist weiß, Wolle macht heiß! Wolle ist schön, Wolle ist bequem! Wolle ist weich, Wolle macht reich! Wolle, Wolle, Wolle!“Ein wahrhaft eigenartiger Gesang, dachte die alte Frau. Wie sehr verwunderte sie es auch, als der kleine Troll auf ihre Schulter sprang und ihr ins Ohr flüsterte: „Hier hast du ein Beutelchen als kleines Dankeschön für die Wolle!“Der Alten war es recht. Sie bedankte sich und dachte: „Wer weiß, vielleicht kann ich es eines Tages noch zu etwas gebrauchen, obwohl es schon recht schäbig ausschaut.“Die alte Frau hatte beinahe die Stadt erreicht. Unvermittelt griff sie in die Manteltasche und fühlte, dass das unscheinbare Beutelchen etwas hartes enthielt. Wie staunte sie, als sie eine Goldmünze entdeckte.
„Ach, was hab ich für ein Glück! Ich kann mein Schaf behalten. Und obendrein kann ich mir eine Schere kaufen. Mit der Schere kann ich meinem Schaf die Wolle schneiden. Und die Wolle kann ich auf dem Markt verkaufen!“, träumte die alte Frau vor sich hin. „Und wenn ich eines Tages genügend Geld habe, dann kann ich meine Hütte ausbessern lassen!“Gedacht – getan! Eiligen Schrittes marschierte sie mit dem Schaf der Stadt zu, um sich beim Krämer eine große Schere zu kaufen. Nun konnte sie es kaum erwarten nach Hause zu kommen, um sich an die Arbeit zu machen.
Auf dem Heimweg kam sie wieder beim kleinen Troll vorbei. Er tanzte umher und schien sich über das Wiedersehen sehr zu freuen. Als er die Schere sah, fragte er: „Würdest du mir wohl meinen Bart schneiden? Er ist so lang, dass ich darauf herumtrete oder irgendwo hängenbleibe. Das ist für mich oft nicht einfach!“Hilfsbereit stutzte die alte Frau dem kleinen Troll den Bart. Und wieder begann dieser sein merkwürdiges Lied zu singen: „Wolle, Wolle, Wolle! Wolle ist weiß, Wolle macht heiß! Wolle ist schön, Wolle ist bequem! Wolle ist weich, Wolle macht reich! Wolle, Wolle, Wolle!“ Zum Abschied schenkte er der alten Frau einen löchrigen Sack. Sie wollte nicht unhöflich erscheinen und nahm das Geschenk dankend an. Als sie mit dem Schaf, dem Beutelchen, der Schere und dem Sack zu Hause ankam, machte sie sich sogleich daran, das Schaf zu scheren. Ihr Blick fiel auf den löchrigen Sack. „Ich könnte die Wolle in diesen Sack geben! Aber vielleicht fällt sie durch die Löcher wieder heraus? Ich will es wenigstens versuchen!“Kaum war die Wolle in den Sack gestopft, da quoll sie heraus und bedeckte den ganzen Boden damit. Hätte sich jemand zur Hütte der alten Frau verirrt, so hätte er meinen können, eine tief verschneite Winterlandschaft vor sich zu sehen. Die alte Frau traute ihren Augen kaum. So viel Wolle hatte sie noch niemals gesehen. Wie viele Münzen sie dafür wohl bekommen würde? Der Gedanke ließ sie nicht in Ruhe und noch am selben Tag machte sie sich erneut auf den Weg in die Stadt zum Markt. Für das gefeilschte Geld kaufte sie sich ein Spinnrad und einen Webstuhl. Mit dem Spinnrad wollte sie das feinste Garn spinnen. Und wieder führte ihr Weg beim kleinen Troll vorbei. Mittlerweile konnte er sie nicht mehr erschrecken. Er bedeutete ihr, sie möchte sich doch zu ihm herunterbücken. Er hätte ein großes Anliegen und möchte nicht, dass seine Worte jemand hören könnte. Die Alte lächelte und beugte sich zu ihm hinunter.
„Könntest du mir vielleicht meine Kleider flicken?““Aber ja! Natürlich kann ich das!“ Sie freute sich, dass sie ihrem Wohltäter helfen konnte, schließlich hatte er es wirklich verdient.
„Aber ich werde deine Kleider nicht flicken!“, lächelte sie.
„Nicht? Aber du hast doch gerade gesagt, dass du es tun würdest!“ Der Troll schaute sie mit traurigen, bittenden Augen an, sodass die Alte nun herzlich lachen musste.
„Ich werde dir ganz neue Kleider nähen, Was sagst du dazu?“
Der Troll verabschiedete sich zufrieden und sagte, dass er zu ihr käme, wenn ihre Arbeit beendet wäre. Die Alte nickte, ging nach Hause und machte sich in ihrer Hütte sogleich an die Arbeit.
Schon nach sieben Sonnenaufgängen war es vollbracht und der Troll klopfte an ihre Tür. Sie hieß ihn eintreten und als er seine neuen Kleider auf dem Tisch ausgebreitet sah, begann er sich umziehen und sang dabei sein Liedchen: „Wolle, Wolle, Wolle! Wolle ist weiß, Wolle macht heiß! Wolle ist schön, Wolle ist bequem! Wolle ist weich, Wolle macht reich! Ich muss nun geh’n, auf Nimmerwiederseh’n!“
Mit diesen Worten war der kleine Troll verschwunden. Die alte Frau hat ihn seitdem nicht mehr gesehen.Am nächsten Tag konnte sie sich vor lauter Arbeit nicht erwehren. Ihre feine Arbeit wurde überall gerühmt. Das aus der Schafswolle gesponnene feine Garn und das seidig gewebte Tuch waren in aller Munde. Sie wurde von allen nur noch „Frau Wolle“ genannt. Ihr Ruhm ließ sogar die reichsten Edelleute aufhorchen. Jeder im ganzen Lande wollte nur von ihr betucht werden.
Frau Wolle besaß ein Beutelchen, welches sich immer wieder mit einer Goldmünze füllte, einen löchrigen Sack, der jedes Mal überquoll, wenn sie nur eine Handvoll Wolle aus dem Schafsfell zupfte und hineintat, ein Spinnrad, das das feinste Garn spann und einen Webstuhl, der das seidigste Tuch wirkte. Das wunderbare Schaf, mit dessen Wolle alles begann, lebte mit der alten Frau bis ans Ende ihrer Tage in einem schönen, gemütlichen Holzhaus tief im Wald.
Quelle: Carmen Kofler