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Märchenbasar

Imap Ukua, die Mutter des Meeres

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Es wird erzählt, daß Uitsataqangitsoq, „Der Blinde“, einmal beschloß, hinunter zur Mutteer des Meeres zu reisen, die die Herrscherin über alle Meerestiere und Seevögel ist. Er war ein gewaltiger Angakok . Und seine Landsleute hatten ihn gebeten, diesen Geisterflug zu machen, weil die Jagd beim Wohnplatz schon seit langer Zeit fehlgeschlagen war.
Der Blinde begab sich also auf die Reise und folgte sehr genau dem Weg der Toten. Aber es dauerte gar nicht lange, bis er zu einem anderen Weg kam, der nach links führte, und den schlug er ein. Der war lang, und die Reise dauerte ihre Zeit, aber alle seine Hilfsgeister folgten ihm. Er begab sich immer vorwärts, und plötzlich hörte er ein starkes Dröhnen. Das war das Brausen des Stroms, der durch den langen Gang in der Hütte floß, in der die Mutter des Meeres wohnte.
Der Blinde wanderte weiter und kam seinem Ziel immer näher. Und schließlich hatte er den großen Fluß erreicht. Dort war eine Brücke, die aus drei Steinen gemacht worden war. Und auf sie mußte man springen, wenn man hinüber wollte. Aber die Steine waren alle mit glitschigen Algen und Tang bedeckt, so daß der; welcher den Sprung wagte, Gefahr lief, auszugleiten und in den Fluß zu fallen. Der Blind wagte zuerst nicht zu springen. Er stand zweifelnd da, bis alle Hilfsgeister auf die andere Seite gekommen waren. Erst da faßte er Mut, machte einen Versuch und kam glücklich auf die andere Seite.
Nun setzte er die Reise fort und kam schließlich zu der Hütte, in der die Mutter des Meeres wohnt. Aber er stellte fest, daß ihr Eingang von einem schäumenden Fluß versperrt wurde, durch den er nicht durchzukommen glaubte. Schließlich aber fand er doch eine Stelle, wo er hindurchwaten konnte, und endlich stand er vor der Hütte. Dort wurde er von seinen Hilfsgeistern angehalten, die ihm sagten: „Sobald du vor der Mutter des Meeres stehst, mußt du ihr auf den Leib rücken und sofort in Haar fassen, das du gleich um deinen rechten Arm wickeln mußt. Denn sie wird versuchen, dich sofort auf den hinteren Teil ihrer Pritsche zu werfen, und dort sollst du dann in der Dunkelheit erdrosselt werden.“
Als die Hilfsgeister das gesagt hatten, gingen sie alle in die Hütte. Und als sie in den Gang gekommen waren, merkten sie, daß der Fluß seine Richtung geändert hatte. Der floß nun zur anderen Seite und brauste schäumend in die Hütte hinein. Das war der Grund dafür, daß keine Robben mehr von der Mutter des Meeres kamen und daß die Jagd der Menschen so schlecht war, daß sie zu hungern begannen.
Als der Blinde in die Hütte kam, sprang er sofort auf die große Frau zu und griff nirgends anders hin als in ihr Haar, wie es ihm die Hilfsgeister gesagt hatten. Ganz schnell wickelte er alles um seinen rechten Arm, und ihr Versuch, ihn auf die Pritsche zu werfen, schlug völlig fehl. Aber sie hob ihn so hoch, daß sich vor ihm ein starker Schlund öffnete. So kämpften die beiden lange miteinander. Und während des ganzen Kampfes klopften die Hilfsgeister auf die Ohren und sagten: „Sei nur ruhig, sei still, sei still! Er ist ja nur gekommen, um dich zu waschen. Um dein Haar zu kämmen und dich zu lausen!“
Aber in ihrem Zorn hörte die Mutter des Meeres nichts. Und sie versuchte mit all ihren Kräften, ihn in den Abgrund hinter der Pritsche zu werfen. Schließlich wurde sie doch müde, und da fiel ihr plötzlich ein, was die Hilfsgeister ihr zugerufen hatten. Da wurden sie gleich ruhig und still und sagte nur: „Ich bin sehr froh, das zu hören. Hier liege ich und tauchte unter in all dem Schmutz der Menschen. Die Unreinheit eurer Sünden befleckt mich. Wasch mich nun schnell und kämme mein Haar!“
Und nun legte sie sich auf die gewaltige Pritsche, und Der Blinde begann, sie zu kämmen. Das war sehr schwer; denn das Haar war so lang, so widerspenstig und verfilzt. Ja, es war so lang, daß es zweimal mit den Armen umfassen mußte, um endlich seine Länge zu finden.
Als er mit ihrem Haar fertig war, sammelte er all den Schmutz zusammen und warf ihn fort. Der Schmutz aber wurde sofort lebendig. Er wurde zu Bären, Füchsen, Klappmützen, Großrobben, Sattelrobben, Grönländerrobben, Walrossen, Narwalen und allen Arten Vögeln. Der ganze Schmutz, den er aus ihrem Haar gekämmt hatte, wurde auf diese Weise zu lebenden Tieren, und die brachen alle aus dem Gang der Hütte hinaus und gelangten durch den Fluß hinauf zum Meer.
Der Blinde stand da und sah ihnen zu, wie sie alle aus der Hütte wimmelten. Und er wurde auf eine kleine Grönländerrobbe aufmerksam, die auf der einen Seite ihres Kopfes weiß und auf der anderen schwarz war. Diese kleine Grönländerrobbe konnte er seitdem nie vergessen, denn just als sie aus dem langen Gang sich bewegte, drehte sie sich um und lachte ihm zu. Diese Robbe sollte die erste sein, die er fangen wollte, wenn er nach seiner Heimkehr wieder mit seinem Kajak hinausfuhr.
Als alle Tiere ihre Herrscherin verlassen hatten, begann er wieder ihr Haar zu kämmen und band es zu einem Knoten hoch. Und als dies getan war, bat er sie aufzustehen. Nun kannte ihre Dankbarkeit keine Grenzen, und sie sagte zu ihm: „Du hast mir mit deinem Kommen einen große Freude bereitet, und du kamst zu mir, ohne allein an Essen zu denken. Froh hast du mich gemacht, weil du von Kindesbeinen an dich in schweren Gedanken geübt und dich zum Geisterbeschwörer erzogen hast. Lange und schwere Zeiten sind vergangen, bevor jemand zu mir kam, um mich zu waschen!“
So sprach sie und fügte dann hinzu: „Wenn du wieder zur Erde zurückkehrst, sollst du deinen Leuten auf dem Wohnplatz sagen, daß sie immer den Vorschriften ihres Glaubens gehorchen sollen und die Gebote halten, die den Menschen bei Geburt und Tod vorgeschrieben sind. Die Menschen wollten kein rechtfertiges Leben führen, und wegen ihrer großen Gleichgültigkeit mußte ich im Schmutz leben. Ihr Trotz strömt über mich als Unreinlichkeit und besudelt mich und macht mich schmutzig. Ich will ihnen gern meine Tiere schenken, aber oft mußte ich das bleiben lassen, um die Menschen zum Nachdenken zu zwingen. Solange das Erdenleben noch deins ist, mußt du oft zu mir kommen und mich waschen, und du mußt die bitten, die nach dir kommen, dasselbe zu machen. Denn es ist für die Menschen nicht gut, nur immer in Gedanken ans Essen zu leben.“
Als die große Frau ihre Rede geschlossen hatte, sagte Der Blinde: „Kannst du mir nicht eine deiner Haarsträhnen schenken?“
Die Mutter des Meeres antwortete: „Du darfst dir eine nehmen. Aber die, welche du wählst, mußt du fest um deinen Arm binden!“ Da riß ihr Der Blinde eine Haarsträhne aus und wickelte sie sich ums Handgelenk, bevor er sich wieder auf den Weg begab. Draußen im Gang war nun alles verändert. Ein kleiner Fluß floß munter sprudelnd aus der Hütte zur Erde, und der Grund war nicht mehr mit großen Steinen bedeckt, sondern glänzte vor blendend weißem Sand. Der Blind begann seine Heimreise. Und er reiste und reiste, aber er sah nicht mehr den großen Strom, der ihm so viele Beschwerden bereitet hatte. Er reiste sehr schnell und traf viele Meerestiere und Vögel,, die ihn alle freundlich anlachten. Bald kam er wieder zu seiner Hütte, schloß die Beschwörung ab und sagte zu seinen Leuten auf dem Wohnplatz: „Wenn ich nun recht gehandelt habe und meine Künste zu eurem Besten übte, dann kommt bald Regen. Und ein gewaltiger Südweststurm wird anbrechen und das Eis entzweibrechen und das Meer für die Tiere öffnen!“ Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: „Die Mutter des Meeres bat mich, euch zu sagen, daß ihr unrecht handelt, wenn ihr eure Gedanken nur ums Essen kreisen laßt und eure Handlungen nur darauf ausgehen, Nahrung zu beschaffen. Es ist für euch sehr wichtig, daß ihr genau nach den Geboten eures Glaubens lebt und nach den Vorschriften der Geisterbeschwörer und nicht vergeßt, die Bußen bei Geburt und Tod einzuhalten, die Bußgebote für eure Unreinheit. Denn die Sünden der Menschen strömen über sie wie Schmutz und machen sie dreckig und schrecklich!“
Wieder schwieg er, und es herrschte Schweigen unter den Lauschenden, als er sagte: „Das Eis bricht jetzt auf, und wir bekommen offenes Wasser. Viele Tiere werden und jetzt aufsuchen. Aber während der ersten drei Tage darf niemand mehr als eine Robbe am Tag fangen!“
Alles traf nun ein, wie er es vorausgesagt hatte. Es wurde milde in der Luft, und der Regen kam, ein Südweststurm brach an und brach das Eis entzwei, und mit dem offenen Wasser kamen die Tiere.
Als sich der Sturm gelegt hatte, fuhren alle im Kajak hinaus, und sie gehorchten alle den Anweisungen Des Blinden. Nur ein Jäger war so gierig, daß er mehr als eine Robbe tötete. Und seitdem erlegte er niemals mehr als nur eine Robbe, auch wenn alle anderen so viele erlegten, daß sie sie nur mit Mühe heimschaffen konnten.
Und das erste Tier, das Der Blinde erlegte, war just die kleine Robbe, die sich umgedreht und ihn angelacht hatte, als sie Imap Ukua, die Mutter des Meeres, verließ.

Quelle:
(Märchen der Eskimo)

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