Platsch! Ein dicker Tropfen fiel mitten in die kleine Pfütze vor Sinjas Füßen. Fröstelnd zog sie die Füße an und presste sich noch fester gegen die Hauswand. Drinnen hörte sie die erregten Stimmen ihrer Eltern. Sie stritten wieder einmal. Irgendetwas fiel klirrend zu Boden. Wahrscheinlich hatte die Mutter etwas nach dem Vater geworfen. Eine heiße Träne rann Sinja die Wange herunter. Sie fror in ihrem dünne, völligdurchnässten Kleid, doch sie wollte nicht nach drinnen gehen. Der Sturm trieb ihr Regentropfen ins Gesicht, wie tausend kleine Nadeln. „Darf ich mich zu dir setzen?“ Sinja hob den Kopf und blickte in das Gesicht eines Jungen. Was wollte er von ihr? Und wie kam er in den Garten ihrer Eltern? Aber irgendetwas sagte ihr, dass es gut war, dass er hier war. Sie nickte. Er ließ sich neben sie fallen.
„Was tust du hier, so allein?“, fragte Sinja.
„Das könnte ich dich auch fragen.“
„Sie streiten oft, aber so schlimm war es noch nie … meine Eltern meine ich.“
Der Junge nickte. Er sprach nicht, doch schien es Sinja, als würde allein diese kleine Bewegung ihr Herz erwärmen und ihr wieder Hoffnung zu geben.
„So, jetzt weist du, warum ich hier bin und nun kannst du ja auch meine Frage beantworten, warum du bei diesem Wetter hier draußen bist.“, sagte sie.
„Ich sehe mir den Regen an.“
„Aber wieso das? Regen ist kalt und nass, mehr nicht.“, meinte Sinja erstaunt.
„Aber nein“, sagte er, „komm ich zeig es dir!“
„Was denn?“
„Na das Wunder des Regens!“, er nahm ihre Hand und stand auf.
„Warte!“
„Worauf denn?“
Dazu wusste Sinja keine Antwort mehr. „Na gut, aber dann sag mir wenigstens deinen Namen.“ Er lachte. „Ich habe viele Namen, aber du kannst mich Elias nennen.“
So gingen sie los. Elias führte Sinja vorbei an ihrem Haus, in dem noch immer die Eltern stritten, heraus aus dem Garten, auf die Straße.
„Schau!“, rief er und zeigte nach oben. Sinja folgte seinen Hand und hielt den Atem an, vor so viel Schönheit. Abertausenden winzigen Diamanten gleich fielen die Tropfen herab, so unermesslich viele, dass ihr ganz schwindlig wurde.
„Das ist … wunderschön!“, hauchte sie. Er lächelte und führte sie weiter, entlang an der Straße. Hier und da fuhr ein Auto vorbei uns Wasser spritze hoch. Dann wurde eine Gischt aus winzigen, funkelten Edelsteinen hoch geschleudert und funkelte einen Moment in der Luft, bevor sie wieder zurück auf den kalten, schwarzen Beton regneten. Vor ihnen und hinter ihnen und rechts und links kamen Tropfen auf, zersträubten sich und rannen in kleinen Bächen vor ihren Füßen.
Nach einer Weile bog Elias von der Straße ab und führte sie auf eine Wiese. Das hohe Gras war vom Regen nass, doch es machte Spaß hindurch zu waten.
„Siehst du sie?“, fragte der Junge.
„Wen?“, Sinja sah sich um.
„Sie“, er blieb weiter hin rätselhaft. Doch als Sinja genauer hinschaute, erkannte sie seltsame Gestalten. Sie tanzten auf der Wiese, leicht wie feine Nebelschleier. Immer deutlicher konnte sie sie nun erkennen. Zarte Gestalten, ihre Gewänder schienen aus feinen Wolken zu bestehen, ihr langes Haar funkelte im Regen und bei jeder Drehung spritze ein Reigen glitzernder Regentropfen um sie.
„Es sind die Regengeister“, sagte Elias. Die beiden Kinder setzten sich ins Gras und schauten. Sinja hatte nachher keine Ahnung, wie lange. Die Tropfen fielen immer weniger, bis sie schließlich ganz auf hörten. Mit ihnen verschwanden die zarten Gestalten, lösten sich auf wie Nebelschleier und nachher war es Sinja fast so, als hätte sie alles nur geträumt.
Langsam erhob Elias sich und auch sie stand auf. Er führte sie weiter zu der Wiese. Über ihnen leuchtete ein Regenbogen. Sinja hatte oft schon welche gesehen, doch noch nie solch einen. „Komm, wir steigen hinauf!“, sagte Elias.
„Aber das weiß doch jeder, dass das nicht geht. Es ist doch nur ein Trugbild!“, protestierte Sinja.
„Und was war mit den Regengeistern?“, fragte er zurück. Nun wusste sie keine Antwort mehr und folgte ihm, über die Wiese, bis zum Anfang des Regenbogens. Dabei hatte Sinjas Lehrerin doch erklärt, dass es gar kein Ende von einem Regenbogen gab! Dem, so beschloss sie, wollte sie später noch einmal auf den Grund gehen, aber inzwischen hatte sie keine Zeit sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Elias zog seine Schuhe aus und begann vorsichtig auf den Regenbogen zu klettern. Sinja rieb sich die Augen, doch sie träumte nicht: Der Junge stand tatsächlich auf dem schillernden Band!
„Na komm schon!“, rief er zu ihr herunter.
Langsam streifte sie ihre Schuhe ab und tat es ihrem Begleiter gleich. Was für ein seltsames Gefühl! Der Regenbogen war weder hart, noch weich, er war irgendetwas dazwischen. Ihre Füße wurden nass, wie von Tau, doch es war kein unangenehmes Gefühl. Endlich hatte Sinja Elias erreicht und wagte nun auch einen Blick nach unten. Zu ihren Füßen lag das Land. Kleine Spielzeugautos fuhren unter ihnen hin und her und die Menschen waren kaum noch erkennbare Pünktchen.
Hätte zu diesem Zeitpunkt irgendjemand zum Himmel aufgeschaut, hätte er zwei kleine Gestalten erkennen können, die Hand in Hand dort auf einem schillernden Band aus Farben standen. Doch es gab viel zu tun und kaum jemand fand die Zeit dazu.
Sinja schlug die Augen auf. Es hatte zu regnen aufgehört, die ganze Welt um sie herum triefte vor Nässe. Hatte sie alles nur geträumt? Es war so gegenwärtig gewesen!
Drinnen stritten die Eltern. Die Mutter schrie den Vater an, der Vater die Mutter. Eine Tür knallte. Langsam erhob sich Sinja und ging hinein. Niemand bemerkte sie, als sie hinauf in ihr Zimmer schlich. Leise legte sie sich auf das Bett. Sie wünschte Elias wäre hier, doch er war bestimmt nur ein Traum gewesen. Eine Träne rann ihr die Wange herab.
Märchen für Julia und den Wind – Lindengrün
Sinja stand am Gartentor und schaute dem roten Auto hinterher, bis es aus ihrem Blickfeld verschwand. Schon früh am Morgen hatte der Vater seine Sachen gepackt und war, ohne der Mutter Lebewohl zu sagen, weggefahren. Auch als Sinja längst nichts mehr sehen konnte blieb sie eine Weile stehen und starrte ins Leere.
Jemand berührte sie an der Schulter, sacht wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Hinter ihr stand Elias. Er sprach nicht, sondern drehte sich um und ging. Sinja wusste durch irgendein Gefühl, über das sie jetzt nicht weiter nachdenken wollte, dass sie ihm folgen sollte und tat es. Wie bei ihrer ersten Begegnung führte er sie ein Stück die Straße entlang und bog dann auf die Wiese ab. Die überquerte er diesmal aber zügig und trat zwischen den Bäumen hindurch in den Wald. Dort herrschte ein Dämmerlicht, es war kühl und schattig. Sinja atmete tief den frischen Duft des Waldes ein und folgte dann weiter ihrem Führer.
Der Wald wurde immer unwegsamer. Elias glitt durchs Dickicht mit der Anmut einer Wildkatze. Sinja hatte Mühe ihm zu folgen. Schließlich verschwand er in einem Gebüsch und sie verlor ihn ganz aus den Augen. Einen Moment lang blieb sie stehen, um etwas Atem zu schöpfen. Warum hatte Elias sie allein gelassen? Es schien ihr unerklärlich. Wut und Trauer stiegen in ihr auf. Sie hatte ihn für anständig gehalten und seit ihrem letzten Treffen ungeduldig gewartet und gehofft, dass er wiederkommen würde. Und jetzt? Jetzt ließ er sie mitten in einem ihre unbekannten Teil des Waldes sitzen!
„Aber vielleicht ist er noch gar nicht so weit fort!“, versuchte sich Sinja zu beruhigen.
Sie biss die Zähne zusammen und kämpfte sich auch noch durch das Gebüsch, in dem Elias verschwunden war.
Heller Sonnenschein drang ihr entgegen. Sie war auf einer Lichtung gelandet. Von dem Jungen war nichts zu sehen. Blumen blühten im hohen Gras und alles sah wunderhübsch aus. In der Mitte der Lichtung thronte eine mächtige Weide. Zu ihren Füßen lag ein lieblicher Weiher, wie ein kleiner Juwel. Langsam ging näher. Im Schilf, welches das Gewässer umgab, saß eine Frau. Sie schaute auf das Wasser, so dass Sinja ihr Gesicht nicht sehen konnte. Volles Haar wogte um ihre schmalen Schultern. Es schien von warmen Braun und als sie es näher betrachtete, bemerkte sie, dass darüber ein Schimmer von Gold lag.
Begleitet war die Unbekannte mit einem zarten Kleid, von der Farbe junger Blätter im Frühling. Um ihre Schultern hatte sie einen Schleier von dunklen grün, in dem auch ein wenig Silber mit wirkte, so dass es an die Farbe von Weidenblättern erinnerte, gelegt. An ihren Füßen trug sie leichte Schuhe, die aus einem seltsamen Stoff, der Sinja irgendwie an Buchenrinde erinnerte, gemacht waren. Sie summte eine seltsame Melodie und hin und wieder schnappte Sinja das Wort Lindengrün auf.
Leise ließ sie sich auf der anderen Seite des Weihers ins Schilf fallen und lauschte dem Gesang der Frau. Nach einer Weile verstummte diese und hob den Kopf. Ihr Gesicht war schön und zeigte keinerlei Alter, doch zeugte es von großer Weisheit und Erfahrung. Ihre Augen waren von einem klaren Blau und tief wie Seen.
„Oh, Verzeihung, wenn ich gestört habe!“, Sinja wurde sich klar, dass sie die Fremde die ganze Zeit über mit offenem Mund angestarrt hatte und wurde nun bis über beide Ohren purpurrot.
„Du bist also der Gast, von dem Baumflüsterer gesprochen hat.“, stellte die Frau ruhig fest, ohne auf Sinjas Worte einzugehen. Ihre Stimme klang wie das fröhliche Plätschern eines kleinen Baches und das Wispern von Espenlaub im Wind.
„Ihr wisst von mich?“, fragte Sinja erstaunt. „Ich kenne aber keinen Baumflüsterer.“
„So?“, fragte die Frau. „Er hat gesagt, du bräuchtest vielleicht Trost, Sinja, so ist doch dein Name?“
„Wegen meinem Vater …“, murmelte Sinja. „Dann ist Baumflüsterer also Elias … und er hat mich nicht vergessen.“
Die Frau lächelte.
„Es mag sein, dass du ihn unter diesem Namen kennt. Er hat viele Namen.“
„Das hat er bei unserer ersten Begegnung schon gesagt, aber ist es unhöflich, wenn ich frage, wie Sie heißen?“
„Lindengrün.“
„Lindengrün? Der Name ist … äh … seltsam.“
Lindengrün ließ ein glockenhelles Lachen ertönen. „Ja, mag sein, dass ihr Menschen solche Namen nicht wählt.“
Nun war Sinja wirklich erstaunt.
„Sind Sie … sind Sie denn kein Mensch?“, fragte sie.
Lindengrün lachte abermals. „Nein, das bin ich wahrlich nicht. Man nennt mich die Hüterin des Waldes. Aber nun folge mir.“
Sinja tat, wie Lindengrün es ihr geheißen hatte. Was an diesem Tag genau geschah, konnte sie nachher nicht mehr recht sagen. Sie wanderten unter riesigen Bäumen hindurch und Sinja war erstaunt wie schön der Wald war.
Auch was sie sprachen wusste sie nachher kaum mehr. Sie plauderten über belanglose Dinge – oder doch vielleicht nicht.
Auf jeden Fall gelangten sie irgendwann ans Ende des Waldes und Sinja sah, dass die Sonne schon hoch stand. Sie musste mehrere Stunden weg gewesen sein. Nun wagte sie auch einen Blick auf ihre Armbanduhr und musste erschrocken feststellen, dass es schon zwei Uhr Nachmittag war.
„Ich muss gehen.“, sagte sie, mit einem bedauernden Blick zurück in den Wald.
„Es ist gut so.“, sagte Lindengrün. „Aber warte noch einen Moment.“
Sinja wusste nicht, wie sie es gemacht hatte, doch plötzlich hielt sie einen Samen in der Hand. Er war etwa so groß wie Sinjas Faust und hatte die Form eines Tropfens. Im hellen Sonnenschein schimmerte er golden.
„Das ist der Samen eines Feenbaums.“, erklärte Lindengrün. „Nur wenige Menschen haben je einen gesehen. Ich schenke ihn dir mit der Gewissheit, dass du viel Freude daran haben wirst.“
So verließ Sinja die Hüterin des Waldes und machte sich nachdenklich auf den Weg nach Hause. Den Samen bewahrte sie einige Tage in ihrem Zimmer auf, bis sie sich schließlich dazu durchrang und ihn in einer Ecke des Gartens einpflanzte. Sie ahnte noch nicht, dass Lindengrün mit ihrer Bemerkung, dass sie noch viel Freude daran haben würde, nur zu recht hatte.
Quelle: Ineya 2006 – 11 Jahre