Plötzlich klang die bisher nur wie plaudernd daherredende Stimme der Alten befehlend, und das Mädchen sah etwas erschrocken hoch, um neben sich eine Frau mit gebietenem Ansehen zu erblicken; hochgewachsen und stolz stand sie in dem weiten Höhlenraum, in den sie gelangt waren, schaute aber freundlich auf das Mädchen, das stammelnd fragte: „Die Alte…wo ist sie? Was geschah?“ Die Frau legte dem Mädchen eine Hand auf die Schulter, ein seltsames Wohlbehagen durchströmte den von steter Arbeit ermattenden jungen Körper bei der Berührung. „Die Alte, meine Tochter, bin ich, und dieses ist mein Reich, das der Wasser unter der Erde. Wenn ich hinaufsteige, nehme ich jene Gestalt an, in de du mich sahst. Wir sind das Fruchtbare, wir sind die stete Feuchte, und aus uns erwachsen viele seltsame Sträucher und Blüten. Ist es nicht ein schönes Tun, der harten, von Sonne bedrängten Erde die ersehnte Feuchte zu schenken? Was denkst du davon, meine Tochter?“ Das Mädchen atmete begierig die Feuchte ein, schaute um sich in der grünen Dämmerung, fühlte zum ersten Male in ihrem Leben der harten Mühe, wie jung sie war, wie unbeschwert. „Es ist ein wunderbares Tun, o Sultana der Schlangen, und ich will für einige Stunden gerne deine Kinder pflegen, wenn nur die daheim nicht Not leiden indessen, denn sie sind es nicht gewohnt, zu arbeiten.“ Die Frau lächelte wieder, streckte die Hand aus und legte sie dem Mädchen auf die Stirn, sagte dabei halblaut: „Niemand leidet Not, und deine Gedanken sollen Friede und Freude sein.“ Da vergaß das Mädchen alles, was auf dem heißen Boden der Erde sich begab, und fühlte sich heimisch in der Dämmerkühle.
Zur gleichen Stunde aber begehrte ein stämmiges Mädchen am Haus der Mutter Einlaß, und als ihr die schöne jüngere Schwester mißmutig, daß ihr solches zugemutet wurde, die Tür öffnete, reichte die Fremde ein kleines Kraut mit gelben Blüten hinein, sagte leise und ergeben, wie Dienerinnen reden: „Dieses Kraut, Herrin, schickt dir deine Schwester; es ist jenes, das du begehrtest, und sie läßt sagen, für kurze Zeit nehmt meine Dienste hin an ihrer Stelle, denn sie hat sich den Fuß verletzt und kommt nur sehr langsam nach.“ Die Mutter, die den Wortwechsel vernahm, kam nun ihrerseits zur Tür, und die Fremde mußte nochmals alles wiederholen. Wieder und wieder wurde sie befragt, auch darüber, was ihre Dienste kosteten, und als ihre Antwort kam, daß nichts zu entrichten sei und alles schon entgolten, da zuckte die Mutter die Schultern und ließ es geschehen, daß die Fremde einträte. Verwundert stand sie dann dabei, während das fremde Mädchen schaffte, so als kenne sie schon lange alle Bedürfnisse des Hauses, und verstand immer weniger, was hier geschah. Die jüngere Tochter aber saß indessen vor dem Spiegel, der ihr liebster Besitz war, und tauchte das begehrte Kraut in Wasser, um es dann auf die Augen zu legen. Als nichts geschah, kein erhöhter Glanz ihre strahlenden Blicke aufstrahlen ließ, warf sie das Kraut zornig zu Boden und zertrat es, heftig scheltend, die Schwester habe sie betrogen. Mit einem Schrei fuhr sie gleich darauf zurück, denn aus dem Kraut ringelte sich eine kleine Schlange, schlug mit dem spitzen Kopf nach dem zerstörenden Fuß und war gleich darauf verschwunden. Lautlos trat in diesem Augenblick die Fremde ein, nahm das Kraut auf und barg es im Ausschnitt ihre Gewandes. Die Mutter, die auf den Schrei der verwöhnten Tochter erschreckt herbeieilte, verstand nicht von des Mädchens Klagen und sagte sich, daß offenbar das Kismet an diesem seltsamen Tage sein Spiel mit ihnen treibe. So, wie es da geschah, so ging es noch viele, viele Tage weiter. Mit dem ersten Sonnenlichte erschien die Fremde, tat alle Arbeit und verschwand, sobald es dämmerte. Das Haus war sauber und ruhig, die Mahlzeiten mundeten, es gab kein Rufen und Befehlen, kein Fragen. Und doch, der Mutter wie der Tochter schien etwas zu fehlen, und es währte lange, bis sie darauf kamen, daß es die stille, liebevolle Anwesenheit der älteren Schwester sei, die sie entbehrten. Seltsam, daß sogar dem verwöhnten jüngeren Mädchen eine Ahnung davon aufging, daß sie der Schwester stilles Walten vermisse und sich danach sehne, die Stimme zu hören, die halblaut oftmals gefragt hatte: „Ist etwas, das ich für dich tun könnte, meine Schöne, meine Liebe?“ Seltsam, sehr. Sie aber, deren Dasein niemals gehört worden war, doch deren Fehlen fühlbar ward, was tat sie? Sie lebte in Frieden und in fremder Schönheit der Welt unter der Erde. Die Schlangen liebten sie und sammelten sich um sie, wann immer sie ihnen die Nahrung bereitete, auch wohl ein rattenartiges Tier vertrieb, das die Pfleglinge verletzen könnte, und so ihnen immer zu Diensten war. Unken fanden sich ein, kluge, viel wissende Tiere, und eine war, die trug einen leuchtenden Stein in der Stirn, der ihr den Weg erhellte. Fremdartige Laute begann das Mädchen zu verstehen, und da sie alles vergessen hatte, was sich auf der Oberwelt befand, so war sie vollkommen glücklich. Die schöne wandlungsfähige Frau, die dieses Reich beherrschte, sah sie nur selten; dann aber wurde ihr immer Lob gespendet, nichts Lob.
Sie hastete weiter, dem weisen Sonnenpfeil nach, und stand urplötzlich in greller Helligkeit des Tages genau an der Stelle, an welcher sie damals die Alte getroffen hatte.
Und da war sie ja, die zerlumpte, jämmerliche Alte, ebenso wie damals. „Nun, meine Tochter, hast du dich erinnert und willst uns nun verlassen? War es nicht schön bei uns, sage?“ Das Mädchen ergriff die Hand der Alten, führte sie an Mund und Stirn, sagte leise: „So schön, wie ich niemals wußte, daß das Leben sein könne, und all mein Dank ist dein. Doch man braucht mich, ich muß heim, sie werden staunen, wo ich geblieben bin.
Und die Abendmahlzeit ist zu bereiten; laß mich gehen, o meine Wohltäterin!“ Die Alte schien mühe zu haben mit der Antwort und sagte endlich: „Wie du willst, meine Tochter, geh nur, du, die immer zu helfen bereit ist. Aber nimm diesen Stein hier, ihn behalte in deinem Gewande und zeige ihn niemanden, hörst du mich, niemanden! So unansehnlich er auch sein mag, so stark ist doch seine Kraft. Denn wenn du ihn unter deine Zunge legst und einen wünschenden Gedanken hast, so wird er dir erfüllt werden, welcher Art er auch sei. Hast du verstanden, meine Tochter? Sage gut, verstanden?“ Das Mädchen sah in die Augen der Frau, die sie so oft in anderer Gestalt erblickt hatte, und der tiefe Ernst dieses Blickes drang in sie ein. Sie antwortete feierlich: „Ich habe verstanden, o meine Sultana.“ Die Alte wandte sich ab ohne ein weiteres Wort, und nach der anderen Seite hin ging das Mädchen ihres Weges.
Kurz schien ihr die Zeit zu sein, bis sie am Hause der Mutter anlangte und den Klopfer rührte, den sie so vielmals schon betätigt hatte.
Die Tür ward sogleich geöffnet, und eine Fremde stand und sah fragend das Mädchen an. Tödlich erschrocken fragte sie, kaum der Sprache mächtig: „Wo ist…wo sind…?“ Die Fremde trat höflich beiseite und gab den Weg frei, verneigte sich und antwortete: „Herrin, deine Mutter und deine Schwester befinden sich in Strafhaft, angeklagt des Diebstahls vieler Edelsteine, deren Herkunft sie nicht zu erklären vermochten.“ Das Mädchen sank vor Schreck auf dem Boden zusammen und erfuhr dann die seltsame Geschichte solcherart: „Jeden Tag, Herrin, seit du das Haus verließest…o ja, Tage, nicht Stunden, vierzig Tage, Herrin, warst du abwesend, fand sich im Gemach deiner Schwester ein Edelstein, ein grüner. Da niemand wusste, wie das geschehen konnte, und sie viel davon sprach, so wurde sie des Diebstahls angeklagt. Meldete sich auch kein Bestohlener, dennoch wurden sie abgeholt. Und so warten wir deiner, o Herrin, uns zu befreien, jene aus der Haft und ihnen den Reichtum zurückzugeben, und mich aus diesem Sonnenlande, das mir die Stirn vor Schmerzen zerschlägt.“ Als die Fremde das sagte, beugte sie sich noch tiefer zu Boden, war vor den Augen des Mädchens klein und kleiner, wurde eine kleine braune Schlange, die sich an das Gewand des Mädchens schmiegte. Und in diesem Augenblick ward alles verstanden, ward alles klar. Es ging wie das Aufleuchten durch des Mädchens Sinn, und sie begriff, wozu sie zurückgekehrt war und daß es nun an der Zeit sei, die Kraft des Steines zu versuchen. Schnell entnahm sie den farblosen den Falten ihres Gewandes und legte ihn unter die Zunge, fühlte ihn kühl und weich und dachte mit aller Kraft ihres Seins dieses:
„Hilf mir, o du Sultana der Wasser, daß Mutter und Schwester frei werden und sich ihre Unschuld erweist. Und dann, o meine Herrin, hilf mir und dieser deiner Dienerin zurück zu dir, zurück in die Kühle der tiefen Wasser…hilf mir, hilf!“ Weiter wusste das Mädchen nicht mehr viel, denn ihr war es, sie träume und werde ihm Traum dahingetragen, ob auf einer Wolke oder einer Woge, das wusste sie nicht.
Denn als sie im Reich der Wasser wieder erwachte, da war auch das Erinnern, das immer unbarmherzig ist, von ihr genommen worden, und die kleine braune Schlange, die sich noch an sie schmiegte, vermochte sie auch nicht von den anderen zu unterscheiden.
Droben aber, auf der sonnenheißen Erde, da begab es sich, daß Mutter und Tochter mit vielen Ehrenbezeigungen vom Kadi selbst heimgeleitet wurden, der sich bemühte, alles dazustellen als einen schlimmen Spaß des großen Bey, der die köstlichen Edelsteine so heimlich dem schönen Mädchen geschenkt habe, das nun sein Weib werde. Doch der Bey, woher kam urplötzlich der helfende Bey?
Es wird geflüstert, daß das schöne Mädchen, welches die Schlangen so sehr fürchtete, nachts eine schöne grüne Schlange neben sich sah und darob langsam des Verstandes beraubt wurde und auch des Glanzes ihrer Augen, daran ihr so viel gelegen hatte. Doch das sind Berichte, nur Berichte. Wahr aber ist, daß auch bei der schrecklichen Dürre, wenn Frucht und Blüten allerorten verdorrten, dieser Landstrich immer fruchtbar blieb, immer alles in Fülle und Pracht stand. Denn die Herrin der unterirdischen Wasser hatte Zeit, Sorge dafür zu tragen, da ihre Kinder, die Schlangen, von helfender Hand gepflegt wurden – vierzig Tage, vierzig Wochen, vierzig Monde, vierzig Jahre lang…denn was ist Zeit dem Reich der Geister? Wer weiß dort von der Menschheit Geißel’? Vielleicht nur eine, eine einzige: die weiße Kröte mit dem Edelstein in der Stirn, auch sie ein Geschenk Allahs, des Allbarmherzigen.
Märchen aus dem Osmanischen Reich