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Vom Eschenheimer Turm

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Einst hatten die Frankfurter einen Wilddieb gefangen. Sein Name war Hänsel Winkelsee. Neun Tage lang saß er schon im finsteren Loch und wartete auf sein Urteil, und in jeder Nacht hörte er über seiner luftigen Behausung hoch oben im Eschenheimer Turm die Wetterfahne kreischen. Schließlich sprach er: „Wenn ich frei wäre und schießen dürfte, wie es mir gefällt, dann schösse ich dir, du lausige Fahne, so viele Löcher durchs Blech, wie ich Nächte hier gesessen bin.“ Der Kerkermeister hatte dies gehört und so gleich dem Stadtschultheißen berichtet. Der aber entschied, wenn der Winkelsee ein gar so guter Schütze sein wolle, dann soll er sein Glück versuchen. Man gab dem Winkelsee eine Büchse. Wenn es ihm gelänge, aus zu führen, was er angekündigt habe, so sei er ein freier Mann. Gehe aber auch nur eine Kugel daneben, dann müsse er am Galgen baumeln.

Da hatte der Wildschütze seine Büchse und seine Kugeln genommen und sie mit guten Waidmannssprüchlein besprochen. Er legte an, zielte auf die Fahne, drückte ab: Tatsächlich war nun ein Löchlein im Blech. Nun machte er es achtmal genauso und jede Kugel saß an der richtigen Stelle. Mit dem neunten Schuss aber war der Neuner fertig, der noch heute in der Fahne auf dem Eschenheimer Turm zu sehen ist, und alle bejubelten den Schützen. Der Stadtrat aber dachte im Stillen: „Wehe unserer armen Hirsche und allem sonstigen Wild, wenn dieser Wilderer wieder hinaus in die Wälder kommt!“ Er teilte seine Bedenken dem Schultheiß mit, welcher zum Winkelsee sprach: „Höre Hänsel, dass du gut schießen kannst, das haben wir nun mit eigenen Augen gesehen. Bleibe bei uns! Dann sollst du Schützenhauptmann in unserer Bürgerwehr werden!“

Der Hänsel aber erwiderte: „Eure Dachfahnen quietschen mir zu sehr und euer Hahn kräht mir zu wenig. Mich seht ihr nicht wieder und fangen werdet ihr mich auch nicht mehr. Danke für die Herberge!“ Er nahm seine Büchse und stapfte davon. Was den Hahn betrifft, so hatte Hänsel nur gespottet. Er hatte nämlich das Frankfurter Wahrzeichen gemeint, den vergoldeten Hahn, der mitten auf der Sachsenhäuser Brücke steht, welche fertig zu bauen der Teufel geholfen hatte. Denn als der Baumeister sie nicht zu vollenden vermochte, da hat er den Teufel um Hilfe gerufen und ihm die erste Seele versprochen hat, die darüber laufe. Dann aber, in der Frühe, jagte der Baumeister zu aller erst einen Hahn über die Brücke. Da wurde der Teufel böse, zerriss den Hahn und warf ihn mitten durch die Brücke hindurch.

Hierbei sind zwei Löcher entstanden, die bis heute nicht zugemauert werden konnten, weil über Nacht immer alles wieder in sich zusammen fiel, was am Tage zuvor gemauert worden war. Auf der Brücke aber wurde der Hahn zum ewigen Wahrzeichen aufgestellt.
Diesen Hahn hatte der Hänsel Winkelsee gemeint, als er sagte, dass er zu wenig krähe. Dieser Hahn kräht nämlich überhaupt nicht.
Die Wetterfahne auf dem Eschenheimer Turm an Ende der Schillerstraße in Frankfurt am Main, einem der ehemals 60 Wehrtürmen der Stadt, weist heute noch die neun Löcher auf, die der Wilddieb hinein geschossen haben soll.

Quelle: Friedrich Ranke

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