Ein wenig brauchbarer Knecht hatte das Unglück bei jedem seiner Dienstgeber seiner ungezähmten Zunge wegen mit Prügel derb bedacht zu werden. Natürliche Folge war es daher, dass seine Kleidung in Fetzen um ihn herumflatterte.
Ein Kaufmann, der diesen Knecht – Georg war sein Name – seit früheren Jahren kannte, begegnete ihm einmal und konnte sich nicht satt wundern über dessen lumpiges Aussehen. »Was mag die Ursache sein«, fragte ihn der Kaufmann, »dass es Dir so leidig ergeht? Saufbold, Ehebrecher oder Verschwender bist Du nicht; wie gerätst Du in diese elende Lage?«
»Herr«, antwortete Georg, »nichts anderes hat mein Unglück verursacht, als weil ich jedermann geradezu die Wahrheit sage. Die Lüge ist mir fremd, ich rede nur Wahrheit; deshalb werde ich überall hinausgestossen.«
»Mit gebläutem Buckel als Wegzehrung«, fügte der Kaufmann hinzu; »Du gefällst mir, denn Leute Deiner Denk- und Handlungsweise sind heute selten. Für meine Geschäfte brauche ich gerade einen Mann der Wahrheit.«
Georg hatte nichts zu entgegnen, und so ward er Diener im Hause des Kaufmannes. Da er als ein Anfänger jedoch bei wichtigeren Geschäften nicht verwendet werden konnte, begleitete er den Herrn auf den Marktplatz. Nachdem Futter, Mehl u.a. eingekauft worden waren, gebot der Kaufmann dem Knechte, nach Hause zurückzukehren und alles der Kaufmannsfrau zu übergeben.
Als Georg zu Hause angelangt war und vor die Hausfrau trat, um ihr das Eingekaufte zu überreichen, blickte er ihr mit tölpelhafter Miene in die Augen und rief voll Verwunderung aus: »Himmel! Ihr kommt mir vor wie eine Henne, die mit einem Auge in den Garten, mit dem anderen nach der Hausthür blickt.« Als solches die Hausfrau hörte, war sie sehr erzürnt, ergriff den Stock ihres Mannes, der neben der Zimmerthür stand, und indem sie auf den Knecht dreinschlug, schrie sie: »Elender! Du willst mit mir Dein Possenspiel treiben? Du sollst Dich in meinem Hause nicht mehr blicken lassen; so ist’s!«
Georg hatte genug. In Eile verliess er das Haus, um weiter zu gehen. Unterwegs stiess er auf den Kaufmann, der ihn anredete: »Was giebt’s? Wohin gehst Du?«
Georg hatte keine Worte, sondern betastete nur mit einer wehmutsvollen Miene die Stellen, die mit dem Stocke unsanft berührt worden waren. Erst nach einer Pause war er im stande, dem Kaufmann zu entdecken, dass er von der Hausfrau fortgeprügelt worden.
»Warum?« fragt der Kaufmann. »Mir erging es«, antwortete Georg, »wie das Sprichwort sagt: Wahrheit findet kein Gehör!« Sodann erzählte er seinem Herrn umständlich, was und wie es sich zugetragen.
»Du hast es verdient«, antwortete hierauf der Kaufmann; »Dein Lästermund ist daran schuld. Dich hat Dein Mund geschlagen und wird Dich noch oft, sehr oft schlagen.«
[Ukraine: Raimund Friedrich Kaindl: Ruthenische Märchen und Mythen aus der Bukowina]