Einstmals lebte in einem Aul ein Mann mit Namen Chamid. Erlebte mit seinem schönem Weib Sejnai in großer Armut. Beide hatten sich als Tagelöhner verdingt.
Sie arbeiteten unermüdlich und brachten es dennoch zu keinem Wohlstand.
Dafür liebten sie einander so aufrichtig, daß alle im Aul sich nicht zu lassen wußten vor Verwunderung. „Schaut an, sie sind die Allerärmsten, aber wie fröhlich und einträchtig leben sie miteinander, ohne Streit und Zwietracht. Alle Menschen hatten Freude an ihnen, allein der Mulla sah sie scheel an. Wozu braucht der arme Teufel Chamid so ein schönes Weib? dachte er bei sich. Eines Tages machte sich Chamid auf in den Wald, um Brennholz herbeizuschaffen.
Als er hinter dem Aul über eine Lichtung kam, erblickte er miteins zwei Wassermelonen.
Es waren so große Früchte, wie sie Chamid sein Lebtag noch nicht gesehen hatte.
Er staunte von Herzen über die Wassermelonen, noch mehr allerdings verwunderte ihn, daß sie zu einer so ungewöhnlichen Jahreszeit gediehen waren, mitten im Winter. Chamid nahm eine Wassermelone mit sich und eilte heim in seine Saklja zu seinem Weib. Trug sie heim und sagte: „Schau, was ich dir für eine ungewöhnliche Wassermelone mitgebracht habe!“ Er griff zum Messer und wollte die Melone zerschneiden, doch Sejnai hinderte ihn daran: „In unserer Gegend sind Wassermelonen eine große Seltenheit, ganz besonders um diese Jahreszeit. Wollen wir sie deshalb nicht lieber an einen Reichen verkaufen und uns für den Erlös Brot holen gehen?“ „Du hast recht“, erwiderte Chamid. „Wem soll ich die Melone bringen? Wer wird sie mir abkaufen?“ „Bring sie dem Mulla, er ist in unserem Aul der Reichste.“ Chamid tat, wie seine Frau ihm geraten, und ging mit der Wassermelone zum Mulla. Der Mulla freute sich, kaufte die Melone und fragte Chamid: „Hast du nicht noch eine zweite so schöne Melone?“ Entgegnete Chamid: „Eine ist noch vorhanden. Sie wächst auf derselben Lichtung, auf der ich diese hier geholt habe.“ „Hole sie für mich“, bat der Mulla, „ich will dir dafür geben, was du mit deiner Hand in meinem Hause berührst. Doch wenn es dir nicht gelingt, sie mir zu bringen, so will ich in deine Saklja kommen. Alsdann mußt du mir geben, was ich mit meiner Hand bei dir berühre!“ Chamid war es zufrieden und eilte freudig zu seinem Weib. Unterwegs überlegte er: Ich will dem Mulla eine zweite Wassermelone bringen und werde, wie es unsere Abmachung will, mit der Hand die Truhe berühren, in welcher der Mulla sein Geld verwahrt. Dann werden wir endlich reich!“ Sejnai hörte an, was ihr Mann sich überlegt hatte, und sprach: „Erinnerst du dich wirklich genau, auf welcher Lichtung die Melonen wuchsen?“ „Wie sollte ich mich nicht erinnern. Die Lichtung liegt hinter unsrem Aul auf der linken Seite, wenn man in den Wald geht.“ „Dann eile dich, damit dir keiner zuvorkommt und die zweite Melone holt, sonst gibt es ein Unglück.“ „Warum sollte es ein Unglück geben?“ wollte Chamid wissen. „Der Mulla wird in unsre Saklja kommen, wird mich mit der Hand berühren und fortschleppen“, erwiderte Senja.
Als sie so miteinander redeten, standen vor ihrer Saklja zwei Mutalime, Schüler des Mulla, die jener ausgeschickt hatte. Sie hörten aufmerksam zu, wo die Lichtung lag, machten sich sogleich auf, rissen die zwei Wassermelonen ab und brachten sie auf Umwegen dem Mulla, um Chamid nicht zu begegnen. Kaum hatten sie die Melone abgerissen und fortgetragen, trat Chamid auf die Lichtung. Suchend schaute er sich um, doch die Melone war verschwunden!
Jemand war also vor ihm hier gewesen und hatte die Frucht mit sich genommen.
Tief betrübt zog Chamid aufs Geratewohl los. Lange wanderte er fürbaß und kam schließlich, er wußte selbst nicht wie, ans Ufer eines breiten stürmischen Flusses. Müde setzte er sich am Ufer nieder und sann darüber nach, was er tun, wie er sich verhalten solle.
Plötzlich hörte er jemanden rufen, um Hilfe flehen. Chamid folgte der Stimme und erblickte mitten im Fuß einen alten Mann. Die Strömung trug den Greis fort, er konnte sich nicht mehr ans Ufer retten und drohte jeden Augenblick in der wilden Flut zu ertrinken. Ohne sich zu besinnen, sprang Chamid in den Fluß und schleppte den Greis ans Ufer. Der alte Mann dankte ihm und fragte: „Wie kann ich dir deine gute Tat vergelten?“ „Ich brauche nichts. Mir kann in meiner Not sowieso keiner helfen“, erwiderte Chamid. „Erzähle mir, was plagt dich für eine Not, vielleicht kann ich dir wenigstens einen guten Rat geben?“ fragte der alte Mann.
Chamid erzählte, ohne etwas zu verheimlichen, alles, was ihm widerfahren war. Der Greis hörte ihn aufmerksam an und sprach: „Kehre heim in deine Saklja und tu, was ich dir sage. Laß deine Frau die Leiter hinauf auf den Boden klettern und sich dort verbergen. Dann rufe die Nachbarn, und wenn sich alle versammelt haben, laß nach dem Mulla schicken. Er wird natürlich mit der Hand dein Weib berühren und es mit sich führen wollen. Wenn er ihre Stimme vernimmt, wird er die Leiter zum Boden hinaufklettern. In diesem Augenblick sag so laut, daß alles es hören: „ah, du hast meine Leiter berührt, nun nimm sie mit!“
Chamid wurde bei diesen Worten fröhlich ums Herz. Er dankte dem Greis für den weisen Rat und eilte heim. Er machte alles, wie ihm der alte Mann geraten hatte, und ließ nach dem Mulla schicken. Der kam sofort.
„Na“, fragte er, „erinnerst du dich unserer Abmachung? Was ich als erstes mit meiner Hand berühre, soll mir gehören!“„Ich habe die Abmachung nicht vergessen“, entgegnete Chamid. „Was du als erster mit deiner Hand berührst, mag dir gehören.
Die Menschen hier sollen unsere Zeugen sein.“ Der Mulla begann in der Saklja auf und ab zu gehen. Um jedoch nicht aus Versehen etwas zu berühren, verschränkte er die Hände auf dem Rücken. Mit einem Mal vernahm er Senjais Stimme vom Boden: „Ach, komm doch herunter zu uns“, bat der Mulla. „Nein“, Sejnai ihm Beschied. „Ich habe zu tun, kann jetzt nicht herunterkommen.“ Der Mulla begann mit verschränkten Armen die Leiter hinaufzuklettern. Die aber lehnte so an der Wand, daß sie ins Wanken geriet, wenn man sie bestieg. Der Mulla stand auf der untersten Sprosse, erklomm die zweite und wollte gerade den Fuß auf dir dritte setzen, da schwankte die Leiter und wäre fast umgestürzt! Der Mulla erschrak, vergaß die Abmachung und packten mit beiden Händen an die Leiter. „He, Mulla“, rief Chamid, “da hast du dir ja ausgesucht, was dir am besten in meiner Saklja gefällt! Nimm die alte Leiter und mache dich fort!“ Der Mulla schulterte die Leiter, und alle geleiteten ihn aus der Saklja.
Ächzend schleppte er sie durch den Aul, die Menschen aber lachten ihm laut hinterher:
„Unser Mulla hat ja etwas Feines erworben!
Fortan werden in seiner Saklja gleich zwei Leitern stehen!“
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Tschetschenisches Märchen