Vor langer, langer Zeit lebte im Land hinter den Federbergen der Zwerg Purzelbaum.
Alle Zwerge liebten ihn, denn er war stets gut gelaunt und immer zu einem Schwätzchen bereit, wenn er in seiner knallroten Hose und seinem froschgrünen Hemd daherkam. Besonders stolz aber war er auf seine goldene Mütze, die ihm der König beim letzten Palastfest für besondere Verdienste im Goldschnüffeln verliehen hatte. Jeder, der ihm begegnete, wusste gleich, dass er dem besten Schnüffler des Reiches gegenüberstand.
Ein Körnchen Goldstaub tief in der Erde reichte aus. Sofort begann seine Nase zu jucken und zu wackeln und zeigte mit der Spitze nach unten. Wenn die Zwerge dann genau an dieser Stelle gruben, stießen sie unweigerlich auf ein Goldvorkommen. Vor lauter Glück schlug er dann jedes Mal einen doppelten Purzelbaum und rief: „Was habe ich doch für ein Glück mit meiner feinen Schnüffelnase!“
Eines schönen Sommertages aber war Purzelbaum einfach verschwunden. Einige Arbeitszwerge hatten ihn am Morgen noch getroffen, als er Richtung Blumenwiese hüpfte, doch von da an hatte ihn niemand mehr gesehen. Im ganzen Reich schwärmten die Zwerge aus, selbst unter den Grenzbäumen des gefährlichen Zauberwaldes hinter der Wiese suchten sie – jedoch keine Spur von Purzelbaum!
Voller Sorge berief der Zwergenkönig die „Große Versammlung“ ein, in der die Weisheitszwerge immer dann berieten, wenn ihrem Land Unheil drohte. Nach siebentägiger Beratungszeit trat der oberste Weise vor seinen höchsten Herrn und sagte: „Allerhöchste Majestät, wir sind zu folgendem Schluss gekommen: Purzelbaum muss sich im furchtbaren Zauberwald verlaufen haben. Vorwitzig, wie er nun einmal ist, hat er sich zu weit hineingewagt und findet nicht mehr hinaus. Vielleicht hat ihn auch der böse Zauberer Sokarastos entdeckt und gefangen genommen. Unsere besten Sucher sind Scharfauge und Horchmal. Sie sollen den Spuren Purzelbaums folgen und herausfinden, welch Schicksal ihm im unheimlichen Wald widerfahren ist.“
Mit allen guten Wünschen des Zwergenvolkes versehen machten sich Horchmal und Scharfauge am nächsten Morgen auf den Weg. Gegen Mittag gelangten sie an den Rand des großen Zauberwaldes. Schwarz und drohend lag der Wald vor ihnen und verströmte mit jedem Windhauch Angst und Zähneklappern. Die beiden Sucher hatten kaum ein paar Schritte hineingetan, da verbarg die Sonne ihr Gesicht, und dicke Nebelschwaden versperrten ihnen den Blick. Scharfauge jedoch fand jede noch so winzige Lücke im wabernden Nebel und führte sie sicher über die blubbernden sumpfigen Pfade.
Horchmal, der selbst das winzigste Knistern und Knacken vernahm, warnte ihn jedes Mal rechtzeitig, wenn ein speiender Feuerwolf oder ein Eisenhorn ihren Weg kreuzte.
Müde und erschöpft gelangten die beiden Sucher auf diese Art am Abend an das Schloss des Zauberers Sokarastos.
„Es hilft alles nichts“, wandte sich Scharfauge an Horchmal, „wir müssen hineingehen und ihn nach Purzelbaum fragen. Kann sein, er weiß etwas über das Schicksal unseres Freundes.“ Die zwei nahmen ihren ganzen Mut zusammen und betraten unter großem Herzklopfen die Eingangshalle, die dunkel und bedrohlich vor ihnen lag.
Doch kaum hatten die beiden Zwerge sich etwas weiter in das dunkle Schloss hineingewagt, da waren sie plötzlich von fünf Gelbgiftkröten umringt, die sie unter Androhung schlimmster Strafen unverzüglich vor den Thron ihres Zauberherrschers brachten. Sokarastos musterte sie scharf mit seinen gelben Geiferaugen, während er höhnisch fragte: „Sucht ihr lächerliches Kleingemüse möglicherweise den Goldschnüffler? Da seid ihr hier genau richtig, denn ich halte ihn tatsächlich gefangen. Tagsüber steht er als Steinfigur in meinem Garten und am Abend mache ich ihn lebendig, damit er während der Nacht für mich nach Gold schnüffelt. So werde ich bald der reichste Zauberer der Welt sein. Der Mächtigste bin ich ja ohnehin schon!“
„Allermächtigster Zauberer“, schmeichelte Horchmal nun der hässlichen Gestalt. „Wir wissen, dass wir armseligen Zwerge dir nichts entgegensetzen können, aber könntest du uns in deiner unendlichen Güte nicht eine kleine Hoffnung lassen, unseren Freund wieder mit nach Hause zu nehmen? Natürlich nur zu deinen Bedingungen, du Mächtigster aller Mächtigen!“
Das hässliche Lachen Sokarastos tönte von den schwarzen Wänden des unheimlichen Schlosses zurück.
„Wohl gesprochen, elendes Gewürm“, rief er. „Nun denn, in meinem unendlichen Großmut will ich euch eine Bedingung nennen. Ihr könnt euren Freund Purzelbaum nur aus meinem Zauberbann befreien, wenn ihr binnen drei Tagen herausfindet, woher ich meine immerwährende Zauberkraft nehme. Gelingt euch das Unterfangen nicht, so werdet auch ihr für immer zu Stein und Purzelbaum wird mir auf ewig zu Diensten sein müssen. Wenn ihr euch darauf einlassen wollt, erwarte ich euch jeden Abend hier, um mir die Lösung der Aufgabe zu unterbreiten.“
Die beiden Zwerge erklärten sich mit der Bedingung des Zauberers einverstanden und begannen sofort damit, sich unter den Bediensteten umzusehen und umzuhören, aber es gab nicht einen, der ihnen helfen konnte. So kam es, dass sie bei der ersten abendlichen Zusammenkunft mit dem Zauberer wild drauflos rieten: „Du benötigst bestimmt das Gold für immer neue Zauberstäbe, oder trinkst du vielleicht jeden Morgen Krötensuppe? Badest du jeden Abend in Schlangenblut, oder isst du bei Neumond Hexenherzen?“ Aber nichts von alledem stimmte, und die beiden legten sich betrübt zur Nachtruhe nieder. Der arme Purzelbaum jedoch, der, da es Abend war, zwergenlebendig an der Zusammenkunft teilgenommen hatte und all seine Hoffnung auf Rettung in seine Freunde setzte, musste eine weitere Nacht für den grässlichen Zauberer arbeiten.
Am zweiten Tag befragten die beiden Sucher viele aus dem Volk der Waldmännchen, doch auch hier hatte niemand eine Lösung für die beiden Zwerge.
So standen sie am Abend abermals vor dem Zauberer und versuchten ihr Glück mit den seltsamsten Antworten: „Badest du möglicherweise täglich im verwunschenen See der Feen, oder schläfst du auf einem Kissen aus Feuerwolfsköpfen? Isst du Brot aus zermahlenem Eisenhorn oder legst du dich zu Neumond in einen großen Ameisenhaufen? Speisest du zur Winterwende eingelegte Krötenaugen, oder reibst du dich mit zerstoßenem Drachenzahn ein?“
Doch jedes Mal schüttelte Sokarastos nur seinen Kopf, sprang endlich von seinem Stuhl auf und höhnte: „Wohlan ihr Zwergenwürmer, auch dieser Abend war vergeblich für euch. Genießt eure letzte Nacht als Zwerge, denn morgen Abend werde ich euch in Stein verwandeln, und Purzelbaum gehört für immer mir.“ Purzelbaum, der wiederum beim abendlichen Treffen neben dem Zauberer gestanden hatte, sank die Kinnspitze vor Hoffnungslosigkeit bis auf die Brust. Um ihn zu retten würden seine Freunde ihr eigenes Leben verlieren!
Horchmal und Scharfauge konnten in dieser Nacht kein Auge zu tun. Kaum schickte die Sonne ihre ersten Strahlen über den Rand der Welt, da standen sie am Brunnen im Hof des Schlosses, um sich zu erfrischen und ihren gedankenschweren Köpfen Klarheit zu verschaffen. Auch der Koch und die Küchenmamsell waren schon wach und hielten, wie gewohnt, ihr Morgenschwätzchen in der Nähe des Brunnens. So geschah es, dass Horchmals scharfe Ohren vernahmen, wie der Koch sich bitterlich bei der Mamsell beschwerte, dass er seit dem Beginn seines Dienstes auf dem Schloss, alle Speisen des Zauberers nur mit Tausendgüldenkraut würzen dürfe.
Sofort machten die zwei Sucher sich auf den Weg in den Schlossgarten. Dort angelangt, entdeckte Scharfauge alsbald im hintersten Winkel, hinter einer Buchsbaumhecke versteckt ein großes Feld, das mit herrlichstem Tausendgüldenkraut bewachsen war. Ein Gärtner düngte das Feld gerade mit flüssigem Gold. Kaum hatte er seine Arbeit beendet, da riefen die Zwerge mit scharfem Pfiff Enten, Hühner, Gänse und Kaninchen herbei. Auch Hamster und Mäuse folgten dem Pfeifen. Hirsche und Rehe wurden aus dem Wald herbeigelockt. Binnen einer Stunde fraßen sie gemeinsam das Feld ratzekahl leer.
So kam der Abend des dritten Tages und Purzelbaum musste neben einem denkbar schlechtgelaunten Zauberer Aufstellung nehmen. Sokarastos war wütend, denn sein Koch hatte ihm das Abendessen nur mit einem Quäntchen Tausendgüldenkraut gewürzt. Allein der Gedanke an die Zwerge, die heute zu Stein werden sollten, besserte seine Laune etwas auf.
Da ging auch schon die Tür auf und Horchmal und Scharfauge traten vor den Zauberer. Geradewegs in die Augen schauten sie der hässlichen Gestalt und riefen dann im Chor: „Deine Macht ist zu Ende, du grässlicher, elender Gernegroß. Deine ganze Zauberkraft hast du nur durch das Tausendgüldenkraut erhalten, das im verborgenen Teil deines Gartens wächst. Aber die Tiere der Wiesen und des Waldes haben es mit Stumpf und Stiel aufgefressen. Wir haben dein Rätsel gelöst!“
Da zersprangen auf einmal mit lautem Knall alle Fenster des Zauberschlosses, grüne Blitze zuckten durch die Halle und unter schrecklichem Heulen zerfiel der Zauberer zu Staub. Purzelbaum aber war gerettet.
Quelle: nicht angegeben