Suche

Märchenbasar

Das Märchen von der silbernenen Kugel

0
(0)
Hier schwieg Luana einen Augenblick und seufzte traurig, währen Frau Reinald und Johannes wie die Träumenden saßen und lauschten. Mitleidig ruhten ihre Augen auf dem schönen, fremden Kinde. Endlich sagte der Knabe leise: „Wie geht es zu, Luana, dass du unsere Sprache verstehst? Du bist bald hier, bald dort gewesen, und es scheint, als ob du dich mit allen Erdenbewohnern verständigen könntest.“ Das Mondmädchen lächelte freundlich: „Ich verstehe alle Sprachen, die es auf Erden gibt und ein jeder spricht meine Sprache. Das heißt: Wir Mondleute sprechen die ursprüngliche, vom Allschöpfer beim Anbeginn der Welt eingesetzte Sprache, die auch alle Menschen sprachen, bis beim Turmbau von Babel die Sprachverwirrung eintrat. Wir sind von dieser Strafe nicht getroffen worden; denn wir haben gegen die Gesetze des Allmächtigen nicht gesündigt, darum verstehen wir die Reden aller Menschenkinder, und sie hinwiederum verstehen auch uns. Aber nun lasst mich erzählen, wie ich heute in diese große Not geriet. Denn je eher ich offen meine Schuld bekenne, desto eher darf ich auf Erlösung hoffen. Als ich am Abend von meiner lieben Mutter Luna Abschied nahm, da warnte sie mich eindringlich: „Luana, du bist oft sehr dreist und unbesonnen. Laß nie die silberne Kugel von dir! Ich gönne dir von Herzen deine Spiele und Vergnügen auf der Erde, aber halte stets dabei die Kugel fest und löse sie um keinen Preis von der Kette. Schrecklich ist die Strafe, die die ungehorsamen Mondkinder trifft!“
Ach, Mutter Luna, Mutter Luna, hätte ich doch deinem Rat gefolgt! Hier weinte Luana schmerzlich, und ihre Tränen fielen gleich silbernen Tautropfen zur Erde. Als sie sich wieder gefasst hatte, fuhr sie leise und klagend fort: “ Das taufrische, grüne Gras schimmerte im Mondenscheine gar so verlockend; und da dachte ich, es müsse zauberhaft aussehen, wenn meine silberne Kugel den Abhang der Wiese hinunterrollt. Ehe ich es noch wollte, hatte ich mein Kleinod von der Kette gelöst und ergötzte mich, wie es glitzernd und gleißend über den sammetgrünen Teppich glitt. Ich durfte ja nur rufen, dann kam es wieder in meine Hand zurück. Leider vergaß ich, dass mir Mutter Luna einst von bösen Schwarzelfen erzählt hatte, die nichts Höheres kennen, als ein Mondkind in ihre Gewalt zu bekommen. So geschah das Unglück und mein Ungehorsam wurde aufs grausamste bestraft! Der Schwarzelf, aus dessen Händen du mich befreitest, Johannes, hatte schon seit langem danach getrachtet wieder ein Mondmädchen zur Dienerin zu bekommen.
Meine arme Schwester, die ihre Kugel im Jahre 1510 an Peter Hele in Nürnberg verlor, war inzwischen verdorben und gestorben; und er hatte nun niemand, der ihm seine Wünsche erfüllen musste. Sobald wir nämlich in der Gewalt dieser tückischen Kobolde sind, müssen wir bedingungslos jeden ihrer Befehle ausführen, und sie selber können herrlich in Freuden leben.
Was ich empfand, als ich während meines schönsten Spieles plötzlich das teuflisch grinsende Gesicht meines größten Feindes neben mir sah, kann ich unmöglich beschreiben! Mein Ungehorsam! Weiter vermochte ich nichts zu denken. Aber das andere weißt du ja, Johannes! Nie, nie kann ich dir deine Furchtlosigkeit und Treue genugsam danken! Selbst wenn die silberne Kugel für mich verloren sein sollte, bei euch, ihr guten Menschen, werde ich mein Elend leichter tragen. Euch aber wird meine Gegenwart zum Segen gereichen! Und nun geht zur Ruhe, ich bleibe im Strahle des Mondlichtes, bis der Morgen dämmert.“ Luana schwieg, und Frau Reinald und Johannes wagten keine Gegenrede. Bald sanken sie in festen Schlummer, während die arme, kleine Fremde trauernd und weinend am mondbeglänzten Fenster saß. Als Hannes einmal aus seinen süßen Träumen erwachte und schlaftrunken die Augen aufschlug, bot sich ihm ein wundersames Bild: Lachend und weinend stand Luana inmitten des glänzenden Mondlichtes, und draußen, vor dem geöffneten Fenster, schwebte eine wunderschöne Frau in silberweißen Gewändern. Klagend rang sie die durchsichtigen Hände:
„Luana, Liebling, warum hast du meine Lehren und Mahnungen nicht beherzigt! Nun sind wir auf lange Zeit, wenn nicht gar für immer getrennt! Die Boten haben nichts über den Verbleib deiner silbernen Kugel erfahren können. Sie sahen nur deinen Kampf mit unseren Feind und das Hinzutreten des braven Knaben, als dir gerade das schrecklichste Ende droht. Der Allgütige sei gepriesen, dass dir das Fürchterlichste erspart blieb, und wir wenigstens die Hoffnung die Hoffnung haben, dich in absehbarer Zeit wieder zu gewinnen.“ Das kleine Mädchen weinte schmerzlich:
„Mutter Luna, vergib, ach vergib! Ich bereue meinen Ungehorsam von Herzensgrund! O, sage doch allen unseren Boten, dass sie ausschauen sollen, wo meine Kugel geblieben ist! Der gute Knabe dort wird mir dann helfen, sie wieder zu erlangen.“ Die schöne Fee lächelte ihrem traurigen Kind tröstend zu.

Wie hat dir das Märchen gefallen?

Zeige anderen dieses Märchen.

Gefällt dir das Projekt Märchenbasar?

Dann hinterlasse doch bitte einen Eintrag in meinem Gästebuch.
Du kannst das Projekt auch mit einer kleinen Spende unterstützen.

Vielen Dank und weiterhin viel Spaß

Skip to content