Der Täuberich schwang sich hoch in die Luft, nahm Richtung und schoß dann davon. Der Prinz folgte ihm mit den Augen, bis nur mehr ein ganz kleiner Punkt am fernen Horizont zu sehen war, der allmählich in der Weite entschwand. Tag um Tag wartete Achmed auf die Rückkehr des Liebesboten; aber vergebens suchte er stundenlang den Himmel nach dem Tauber ab. Schon fing er an, ihn der Vergesslichkeit zu schelten, als der treue Vogel eines Abends gegen Sonnenuntergang in sein Zimmer flatterte, dort auf den Boden fiel und starb. Der Pfeil eines mutwilligen Bogenschützen hat ihm die Brust durchbohrt, und dennoch flog er mit den letzten Lebenskräften weiter bis auf den Turm des Prinzen, der ihn so dringlich erwartet hatte. Als dieser sich kummervoll über den Märtyrer der Treue beugte, bemerkte er, daß der tote Tauber eine feine Perlenschnur um seinen Hals trug, an der, versteckt unterm Flügel, ein kleines Medaillon hing, auf dem ein wundervolles Emailbildchen zu sehen war. Dieses zeigte eine schöne Prinzessin in der ersten Blüte ihrer Jahre. Ohne Zweifel handelte es sich um die schöne Unbekannte, von der der gute Tauber einst gesprochen hatte. Wie hatte sie seinen Brief aufgenommen, und war das kleine Bildchen wirklich eine Zusage und eine Antwort, ein Zeichen der Genehmigung seiner Leidenschaft? Die tote Taube aber schwieg und blieb für immer stumm, und der feurige Liebhaber sollte auf seine Fragen keine Antwort mehr bekommen. Er blickte sehnsuchtsvoll auf das Bild, bis seine Augen in Tränen schwammen; dann küßte er es, drückte es an sein Herz und betrachtete es wieder stundenlang mit zärtlicher Leidenschaft. „Schönes Bild“, sagt er, „ach du bist nur ein Bild! Doch deine frischen Augen strahlen mir zärtlich entgegen, deine rosigen Lippen scheinen mich zu ermutigen! Eitle Einbildung, alles ist Phantasie! Lächelten sie einem glücklichen Nebenbuhler nicht ebenso lieblich zu? Mein Gott im Himmel, wo kann ich wohl dieses schöne Mädchen finden, das der Künstler hier malte? Wer weiß, welche Berge und Länder uns trennen. Wer kennt die Gefahren, die uns drohen? Vielleicht drängen sich jetzt, gerade jetzt, Freier um sie, während ich hier im Turm gefangen sitze und meine Zeit mit Seufzen und der Anbetung eines geheimen Schattens verliere!“ Rasch entschlossen sagte Achmed: „Ich will aus diesem Palast entfliehen, denn er wurde mir zum verhaßten Gefängnis! Und als Pilger der Liebe werde ich durch die ganze Welt ziehen und suchen, bis ich die unbekannte Prinzessin finde und an mein Herz drücken kann.“ Weiter überlegend sagte sich der junge Mann, daß tagsüber, wenn die Diener und Wächter alle aus und ein liefen, eine Flucht wohl schwerlich gelingen dürfte, er also den Einbruch der Nacht abwarten müsse, denn da stünden dann nur ganz wenige Posten auf den Mauern, und selbst die schliefen oft, denn niemand befürchtete einen Ausbruch des lammfrommen Prinzen. Aber wie sollte er auf seiner Flucht in dunkler Nacht den rechten Weg finden? Er kannte doch die Gegend nicht!
In dieser unangenehmen Lage fiel ihm die Eule ein, die Rat wissen mußte, denn sie war es gewohnt, bei Nacht herumzustreifen und auf geheimen Pfaden und Wegen auf die Pirsch zu ziehen. Umgehend begab er sich nun in ihre Klause und fragte sie diesbezüglich ihrer Landeskenntnisse aus. Die Eule setzte eine gewichtige Miene auf und sagte ernst, jedes Wort betonend: „Du mußt wissen, mein Prinz, daß wir Eulen eine weitverzweigte und alte Familie darstellen; es ist richtig, daß wir etwas verarmt und heruntergekommen sind, aber noch immer nennen wir in allen Teilen Spaniens viele hundert verfallene Schlösser und Türme unser eigen. Es gibt kaum eine Bergwacht auf schroffem Fels, keine Festung in den Ebenen, keinen Palast in einer kastilischen Stadt und keine Pfalz auf den Hügeln Andalusiens, in der nicht ein Bruder, ein Oheim oder Vetter wohnte. Oft besuchte ich schon meine lieben Verwandten und kam dabei durch das ganze Land, das ich meinen Wissensdrang genauestens durchforschte. Ich kenne also jeden Winkel, jeden Weg und Steg von nah und fern und auch, den geheimsten Unterschlupf, den Menschen je betreten hatten.“ Achmed war hocherfreut, in der Eule eine so kundige Beraterin gefunden zu haben und berichtete ihr nun im Vertrauen von seiner zärtlichen Liebe und seinen Fluchtplänen. Auch bat er sie inständig, ihn auf der Reise zu begleiten, da er ihren Rat so notwendig brauche, denn allein käme er in seiner Unerfahrenheit nicht weiter. „Wieso ich!“ schnauzte ihn die Eule unfreundlich an, „glaubst denn du wirklich, daß ich mich mit Liebeshändeln befasse? Ich, deren Zeit, Tun und Lassen ausschließlich der sinnenden Betrachtung, dem Studium und dem Mondkult geweiht ist?“ „Sei nicht böse, höchst ehrwürdige Eule“, war Achmeds Antwort, „opfere mir deine kostbaren Tage, und laß eine Weile die Meditation und den Mond. Hilf mir bei meiner Flucht, und sei mein Führer durchs unbekannte Land. Ich will dich reichlich dafür belohnen, denn alles sollst du haben, was dein Herz wünscht.“ „Ich habe alles, was mein Herz begehrt“, schnarrte der unfreundliche Vogel, „ein paar Mäuse als frugales Mahl, dieses Mauerloch als Wohnung sind reichlich genug für mich, denn ein Philosoph braucht nicht mehr.“