Suche

Märchenbasar

Die Sage vom Prinz Achmed al Kamel dem Liebespilger

0
(0)
„Bedenke, weiseste aller Eulen und Uhus, hier im Verborgenen gehen deine großen Talente und Kenntnisse für die Welt verloren; niemandem nützten sie, und niemand kennt sie. Ich werde eines Tages regierender Fürst sein, und dann kann ich dich auf einen Posten von Rang und Ehren setzen, von wo du mit deinen weisen Entschlüssen das ganze Land beglückend organisieren und seine Bewohner als guter Kanzler führen könntest.“ Wenn auch die Eule ein Philosoph war und sich über die gewöhnlichen Bedürfnisse des Lebens erhaben fühlte, so hatte sie dennoch noch nicht jeden Ehrgeiz verloren, und Minister konnte man schließlich und endlich nicht alle Tage werden. Der kluge Vogel ließ sich nach einigen Versprechungen ohne Mühe dazu bringen, daß er zusagte, den jungen Prinzen auf seiner Liebesfahrt zu begleiten und sein Führer und Ratgeber zu werden. Verliebte pflegen rasch zu handeln und ihre Pläne umgehend zu verwirklichen.
Der Königssohn suchte alle seine Juwelen, Goldmünzen und Schmuckstücke zusammen und versteckte das Reisegeld in seinen Kleidern. In derselben Nacht noch ließ er an zugeknüpften Gürteln vom Balkon herunter, lief durch den Garten und sprang ungesehen über die Außenmauer der Generalife.
Einmal draußen, übernahm gleich die Eule die Führung, und beide erreichten noch vor Tagesanbruch glücklich das Gebirge, wo sie in Sicherheit waren. Der Prinz und sein Mentor setzten sich nun zusammen und berieten, was weiterhin zu tun sei und welchen Weg man nehmen müßte. Ernst und gewichtig, wie alle Hofräte hub die Eule allsogleich zu sprechen an: „Wenn ich dir raten darf, so schlage ich vor, daß wir uns nach Sevilla begeben. Du mußt wissen, daß ich vor Jahren mehrmals dort meinen Oheim besuchte, einen Vogel von hoher Würde und großem Ansehen. Er wohnte in einem verfallenen Flügel des Sevillaner Alcazars und empfing nachts seine Besuche, daß ich also gar viele Bekanntschaften machen konnte. Allein oder mit guten Freunden durchstreifte ich dann die Stadt und konnte dabei viel sehen und lernen. Auf meinen nächtlichen Spazierwegen hatte ich auch bemerkt, daß in einem Turm in der Nähe des königlichen Alcazars fast immer eine Ölfunzel brannte, was natürlich meine Neugierde ganz gewaltig erregte. Ich ging der Sache nach, flog zum Turm und ließ mich vorsichtig auf der Zinne nieder. Von dort aus sah ich einen arabischen Zauberer, der beim Schein der rauchenden Lampe emsig arbeitete und wissenschaftliche Versuche machte.
Vor, neben und hinter ihm lagen stoßweise Bücher und gelbe Pergamentrollen, und auf seinen Schultern saß ein alter Rabe, der vertrauteste Freund, den er seinerzeit aus Ägypten mitgebracht hatte. Mit dem Raben bin ich sehr gut bekannt und verdanke ihm einen großen Teil meiner Kenntnisse. Der Magier selbst ist seitdem gestorben, aber der Rabe selbst lebt noch im gleichen Turmzimmer, denn du weißt ja, daß diese Vögel ein wunderbar langes Leben haben. Ich möchte dir nun raten, o Prinz, diesen Raben aufzusuchen; er ist ein großer Wahrsager und Beschwörer, ein Astrologe und Fachmann in der schwarzen Kunst, wegen der gemeinhin alle Raben, vorzugsweise aber die aus Ägypten, bekannt und berühmt sind.“ Dem Prinzen leuchtete der weise Rat ein, und seinem zukünftigen Minister folgend, zogen sie in Richtung Sevilla weiter. Achmed reiste seinem Genossen zuliebe nur des Nachts und ruhte bei Tag in irgendeiner dunklen Höhle oder in einem verfallenen Wachtturm, denn die Eule war mit den Unterkünften und Schlupfwinkeln solcher Art wohlbekannt, und außerdem hatte sie von je her eine wahre Leidenschaft für jede Art von alten Bauten und archäologischen Kunstschätzen. Alles hat einmal sein Ende, und so erreichten auch die beiden Reisenden eines schönen Tages kurz vor Sonnenaufgang die Stadt Sevilla. Die Eule blieb draußen vor den Mauern. Sie verabscheute die Helligkeit und den großen Lärm in den dichtgedrängten Straßen. In einem hohlen Baum bei einer Muhme schlug sie ihr Quartier auf, wo sie von niemandem belästigt wurde.

Der Prinz schritt rasch durchs Tor und fand bald den beschriebenen Turm, der sich gleich einer Palme hoch über die Häuser der Stadt erhob. Es war in der Tat derselbe, der heute noch steht und unter dem Namen Giralda als das berühmteste maurische Bauwerk Sevillas bekannt ist. Achmed stieg die Wendeltreppe bis zur Spitze des Turms hinauf und traf dort tatsächlich den zauberkundigen Raben. Es war ein alter Vogel, grauköpfig, mit struppigem Gefieder; auf einem Auge schien er blind zu sein, denn eine weiße Haut deckte es zu, was seinen Anblick gespensterhaft, ja furchterregend machte. Als der Prinz kam, stand er auf einem Bein und starrte einäugig mit zur Seite geneigtem Kopf vor sich hin auf die kabbalistischen Zeichen, die auf den Bodenfliesen zu sehen waren. Leise und ehrerbietig näherte sich ihm der königliche Besucher, mit jener Scheu, die das würdige Aussehen und sein übernatürliches Wissen jedem unwirklich einflößten.
„Verzeih mir, o ältester Meister in der Kabbala“, rief er aus, „wenn ich einen Augenblick diese Studien unterbreche, die die gesamte Welt in Bewunderung versetzen. Du hast einen Mann vor dir, der sich der Liebe geweiht hat und ich nun um Rat fragen möchte, wie er ans Ziel, zum Gegenstand seiner Leidenschaft gelangen könne.“ „Mit anderen Worten“, sagte der Rabe, ihn bedeutungsvoll anschielend, „du willst meine Kenntnisse in der Chiromantie erproben. Komm, zeig mir deine Hand, und laß mich die geheimnisvollen Schicksalslinien entziffern.“ „Entschuldige“, versetzte der Prinz, „ich komme nicht um einen Blick in die Zukunft zu tun, auch will ich nicht das wissen, was Allah dem Auge der Sterblichen verborgen hält; ich bin ein Pilger der Liebe und suche den Weg, der mich ans Ziel und zum Gegenstand meiner Irrfahrten führt.“ „Aber mein guter Junge, wie ist es möglich, daß du im fröhlichen und leichtlebigen Andalusien nicht ein deiner Liebe wertes Leben finden kannst?“ krächzte der alte Rabe und blickte ihn von der Seite her an, „hier im üppigen Sevilla kannst du doch unmöglich in Verlegenheit kommen, hier, wo unter Orangenbäumen auf den Straßen und Gärten glutäugige Mädchen Zainbra tanzen?“ Der Prinz wurde rot vor Verlegenheit und staunte einigermaßen darüber, einen so alten Vogel, der übrigens bereits mit einem Fuß im Grabe stand, locker sprechen zu hören. „Glaube mir“, sagt er dann ernst, „ich bin auf keines jener leichtfertigen Liebesabenteuer aus, wie du vielleicht vermutest. Die leichtgeschürzten, schwarzäugigien Mädchen Andalusiens, die unter Orangenbäumen an den Ufern der Guadalquivirs tanzen, sind für mich nicht vorhanden, und ich kümmere mich keineswegs um sie. Ich suche eine unbekannte, aber makellose Schönheit, das Mädchen, das zu diesem Bild Modell stand. Ich ersuche dich, höchst mächtiger Rabe, sage mir, wenn du kannst und es dein Wissen erlaubt, wo ich das begehrte Geschöpf suchen muß und finden werde.“ Der alte Graukopf war wirklich etwas betroffen, als er den Prinzen mit solchem Ernst sprechen hörte. Er erwiderte daher abweisend: „Was weiß ich von Jugend und Schönheit! Ich besuche ja nur Alte und von Krankheiten gezeichnete Wesen; nichts habe ich mit Frische und Schönheit zu tun! Ich bin des Schicksals Bote und krächze von den Schornsteinen herab meine traurigen Weissagungen, die fast immer eine Todesnachricht enthalten, und schlage dann und wann mit meinen Flügeln an die Fenster eines Krankenzimmers, wenn der Sensenmann sich nähert. Du mußt schon anderswo nach deiner unbekannten Schönen forschen, denn ich bin wirklich nicht der Richtige dazu, der dir darüber Nachricht geben könnte.“ „Aber bei wem soll ich suchen, als bei den Söhnen der Weisheit, ich bin ein Prinz königlichem Geblüts, von den Sternen zu geheimnisvollen Unternehmungen auserwählt, von denen die Zukunft und das Schicksal ganzer Länder und Nationen abhängen kann.“ Als der Rabe merkte, daß die Angelegenheit von Wichtigkeit war und daß deren Verwirklichung von den Sternen abhänge, da änderte er gleich seinen Ton: „Über diese Prinzessin kann ich dir leider keine Auskunft geben, denn in Garten und Lauben, wo Frauen sind, halte ich mich in der Regel nicht auf. Aber ziehe nach Cordoba weiter und gehe dort zur ehrwürdigen Palme des großen Abderrahman, die im Hof der Mezquita steht, und dort wirst du einen Weisen finden, der alle Länder und alle königlichen Residenzen besucht hat und ein Liebling vieler Königinnen und Fürstinnen gewesen ist. Man wird dir dort sicherlich die gewünschte Auskunft geben können.“ „Vielen Dank für diese wertvolle Nachricht“, sagte Achmed, „und lebe wohl, du ehrwürdiger Astrologe.“ Der Prinz eilte aus der Stadt hinaus, holte seinen Reisegenossen, die Eule, ab, die noch immer im hohlen Baum bei ihrer Gevatterin schlummerte, und zog eiligst in Richtung Cordoba weiter. Sie wanderten das fruchtbare Tal des Guadalquivirs aufwärts, durch duftende Haine, Orangenpflanzungen und Zitronenwälder, und kamen endlich an den hängenden Gärten Cordobas vorbei, die die Umgebung der Stadt zierten. Am stark bewachten Tor trennten sich die beiden Fahrtgenossen; die Eule blieb draußen und flog in ein dunkles Mauerloch unter dem Wachtturm, während der Prinz eilig weiterging, um die Palme zu suchen, die der große Abderrahman vor uralten Zeiten gepflanzt hatte. Leicht war es ihm, sie zu finden, denn sie stand im Vorhof der Hauptmoschee und überrage weit die üppigen Bäume. Derwische und Fakire saßen gruppenweise in den Säulengängen der Patios und erörterten diskutierend und gestikulierend irgendein theologisches Problem. Auch waren viele fromme Gläubige da; sie verrichteten ihre rituellen Waschungen, ehe sie das Gotteshaus betraten. Am Fuße der Palme drängte sich eine Menge von Menschen und horchte aufmerksam auf die Weise eines Redners, der mit gewandter Geläufigkeit zu sprechen schien. „Dies“, sagte sich der Prinz“, muß der Weise sein, der mir Auskunft über die unbekannte Prinzessin geben soll.“ Achmed mischte sich unter die Leute und bemerkte mit Erstaunen, daß alle einem Papagei zuhörten, der mit seinem hellgrünen Rock, den verschmitzten Äuglein und einem wehenden Federbusch auf dem Kopf den Eindruck eines eitlen und von sich selbst eingenommenen Wesens machte. „Wie kommt es“, sagte der Prinz zu einem der Zuhörer, „daß so viele ernste Personen an dem dummen Geschwätz eines plappernden Vogels Gefallen finden können?“ „Freund, ihr wisst nicht, von wem und was ihr sprecht!“ antwortete leise der andere, „dieser Papagei ist ein direkter Nachkomme des berühmten persischen Papageis, der wegen seines Erzählertalents auf der ganzen Welt berühmt war. Dieser kluge Vogel hier hat alle Gelehrsamkeit des Morgenlandes auf seiner scharfen Zungenspitze; er ist Philosoph und Dichter, und er spricht in gereimten Versen ebenso schnell wie der klügste Derwisch seine auswendig gelernten Koranzitate. Weit kam er herum! Er besuchte fremde Königshöfe, Universitäten und hohe Schulen, und überall bestaunte ihn jung und alt wegen seiner Gelehrsamkeit. Auch war er der allgemein bekannte Liebling schöner Damen und verbrachte viel Zeit in Kemenaten und Harems, was bei der Vorliebe des schwachen Geschlechtes für dichtende und gebildete Papageien leicht verständlich ist.“ Hier unterbrach Achmed den Bürger von Cordoba und rief: „Genug, ich will eine private Unterredung mit diesem berühmten Weisen haben.“ Die Audienz wurde ihm gewährt, und der Liebespilger setzte dem weisen und vielgereisten Vogel Ziel und Zweck seiner Wanderschaft auseinander. Doch kaum hatte dieser vom Herzeleid Achmeds gehört, als er auch schon in ein trockenes und lautes Lachen ausbrach, daß ihm die Tränen aus den Augen flossen. „Entschuldige meine Heiterkeit“, sagte der Papagei, schon die bloße Erwähnung des Wortes Liebe bringt mich zum Lachen.“ Der Prinz war von dieser unhöflichen Heiterkeit keineswegs erbaut und sagte etwas verletzt: „Ist die Liebe nicht das große Geheimnis der Natur, das heilige Prinzip des Lebens, das gemeinsame Band, das in zarter Seelenverwandtschaft Mann und Frau sich finden läßt?“ „Ja, was du nicht alles weißt!“ rief der Papagei, ihn laut unterbrechend, „sag mir doch, woher hast du eigentlich dieses sentimentale Geschwätz? Glaub mir, Liebe ist aus der Mode! In der guten Gesellschaft, bei Leuten von feiner Bildung und Witz wird darüber nicht mehr gesprochen.“ Mit Wehmut dachte Achmed an seine arme Freundin, die gute Taube, und wie die ganz anders von der Liebe gesprochen hatte. Der Prinz fand aber das Verhalten des Papageis verständlich und nahm es ihm nicht übel, denn das lange Hofleben, so dachte er sich, habe den Vogel affektiert und eingebildet gemacht, was ja auch Männern von Ruf zustoßen soll. Keineswegs jedoch wollte er seine innersten Gefühle dem Spott des schwatzenden Papageis nochmals preisgeben. Er kam daher rasch auf den unmittelbaren Zweck seines Besuches zu sprechen. „Sage mir, hochgebildeter Freund von Königen, Fürsten und Prinzessinnen, der du überall, selbst in die geheimsten Gemächer der adeligen Schönen Zutritt hattest, begegnetest du einmal auf deinen Reisen diesem schönen Mädchen, das hier abgebildet ist?“ Der Papagei nahm das kleine Rundbildchen in seine Krallen, wackelte mit dem Kopf von einer Seite zur anderen und prüfte mit neugierigen Äuglein die Gesichtszüge des Mädchens. „Blitz und Donnerschläge“, rief er, „wirklich ein recht hübsches Gesicht; wirklich schön und zart. Aber ich habe auf meinen Reisen so viele nette Frauenzimmer gesehen, daß ich mich wirklich nicht erinnern kann. Doch halt, wahrhaftig! Wenn ich recht sehe….nun bin ich ganz sicher: Es ist die Prinzessin Aldegunda! Wie konnte ich nur diesen Engel vergessen, bei dem ich in so hoher Gunst stand!“ „Die Prinzessin Aldegunde“, wiederholte Achmed. „Und wo kann ich sie finden?“ Immer langsam“, antwortete der Papagei, „sie ist nämlich viel leichter zu finden als zu gewinnen. Aldegunde ist die einzige Tochter des christlichen Königs von Toledo. Wegen einer Prophezeiung von Astrologen und Wahrsagern, die sich ja bekanntlich in alle Sachen mischen, auch wenn diese sie selbst nichts angehen, hält man das schöne Mädchen bis zu ihrem siebzehnten Geburtstag von aller Welt abgeschlossen. Du wirst sie nicht bewundern können, denn kein Sterblicher darf sie sehen. Ich wurde seinerzeit eingeführt und zugelassen, um sie zu zerstreuen und zu unterhalten, was mir bei dem guten Kind auch leicht gelang. Auf mein Ehrenwort kann ich dir versichern, daß ich auf der Welt kein hübscheres und liebeswerters Wesen gesehen habe.

„Ein Wort im Vertrauen, lieber Papagei“, sagte Achmed, „du mußt wissen, daß ich der Erbe eines großen Königreiches bin und eines Tages auf dem Thron von Granada sitzen werde. Ich sehe, daß du ein kleiner Vogel bist und die Welt kennst. Hilf mir die Prinzessin freien, und du sollst einer meiner höchsten Hofbeamten werden.“ Ernst antwortete der Papagei: „Von Herzen gern, lieber Freund! Was aber die Stellung bei Hof anbelangt, so möchte ich dich bitten, mir eine gute Pfründe ohne Amtsgeschäfte zu geben, denn wir Schöngeister haben einen gewissen Widerwollen gegen Arbeit.“ Bald war alles geordnet, das Anstellungsdekret unterzeichnet, und Prinz und Papagei verließen die Kalifenstadt durch dasselbe Tor, durch das vor Stunden die königliche Hoheit ratsuchend allein hergekommen war. Draußen vor der Stadtmauer pfiff Achmed die Eule aus dem Mauerloch heraus, machte seine beiden Kronräte miteinander bekannt, und gemeinsam zogen sie dann nach Erledigung einiger Förmlichkeiten gegen Norden und den Bergen zu. Die Fahrt ging allerdings nicht so schnell vonstatten, wie es der Prinz wohl wünschte; er mußte einige Unannehmlichkeiten mit in Kauf nehmen: Da war einmal der verwöhnte und an ein bequemes Leben gewohnte Papagei, der in der Frühe nicht gestört sein wollte. Die Eule ihrerseits wieder hielt eine ausgiebige Siesta und döste bis in den späten Nachmittag hinein; dazu kam noch ihr Fimmel für alte Bauten und archäologische Kunstschätze, die sie alle sehen wollte. Bei jeder Ruine machte sie halt, kroch in allen Mauerlöchern herum, besuchte Basen und Vettern, Uhus und Käuze und erzählte dann gar lange Geschichten von den Burgen und Türmen, von deren einstigen Bewohnern und den Umständen, die ihre Mauern zum Bersten brachten. Zu all dem kamen noch unangenehme Familienzwistigkeiten: Eule und Papagei vertrugen sich nämlich ganz und gar nicht. Obschon beide Vögel sehr gebildet waren, behagte keinem die Gesellschaft des anderen; den ganzen Tag hindurch stritten sie, kaum daß sie sich irgendwo trafen. Der Papagei war ein Schöngeist, die Eule ein Philosoph. Erster rezitierte Verse, kritisierte die neuesten wissenschaftlichen Arbeiten und Bücher, wobei er mit beißendem Spott, aber ohne Fachwissen, die verschiedensten Disziplinen der Gelehrsamkeit eingehendst behandelte. Für die Eule waren natürlich derartige Kenntnisse ganz und gar bedeutungslos und reiner Unsinn, und sie antwortete mit einem Vortrag über Metaphysik. Dann wieder sang der Papagei mancherlei Lieder, die nicht für jedermanns Ohr waren; er erzählte gute Witze und unterhielt sich auf Kosten seines Reisegenossen. Solches Gehabe verletzte natürlich die Würde der Eule, die sich furchtbar ärgerte, vor Wut fast barst und den weiteren Rest des Tages wie ein Grab schwieg. Der junge Prinz gab sich ganz seinen Träumen hin und betrachtete stundenlang das Bildnis der schönen Tochter des christliches Königs von Toledo. Er ließ also die beiden Reisegefährten um des Kaisers Bart streiten, mischte sich nicht in ihre langen Diskussionen und sorgte nur dafür, daß nicht zuviel Zeit verlorenging. So kamen sie durch die hohen Bergtäler der Sierra Morena, über die ausgedörrten Ebenen Kastiliens und der Mancha, dann den Tajo entlang, der sich durch halb Spanien und Portugal hindurchwindet. Endlich erblickten sie in der Ferne eine feste Stadt mit starken Mauern und Türmen. Sie erhob sich auf einem felsigen Vorgebirge, das weit ins Tal hinausschaute und an dessen Fuß die Wasser des Tajo wild aufspritzten. „Seht“, rief die Eule aus, „das berühmte Toledo, bekannt seiner historischen Schätze wegen. Beachtet dort die ehrwürdigen Türme und die hohen Kuppeln; der Staub von Jahrhunderten deckt sie, und reiche Sagen heiligen den Ort, an dem so viele meiner Vorfahren sich dem Studium und der stillen Meditation hingaben und noch hingeben.“ „Still und halt den Schnabel!“ rief unwillig der Papagei und schnitt weitere kunsthistorische Erörterungen kurz ab. „Was kümmern uns die Altertümer, Monumente aus vergangenen Zeiten, Sagen und Geschichten von deinen Vorfahren? Sieh hinüber, dort zur Wohnstätte der Jugend und Schönheit! Das ist es, was wir wollen, denn, o Prinz, hier lebt deine langgesuchte und so heiß ersehnte Prinzessin!“ Achmed blickte in die vom Papagei angedeutete Richtung und sah in einer herrlichen Au am Ufer des Tajo einen prächtigen Palast, der aus vielen Hunderten von Baumkronen hervorzuwachsen schien. Es war wirklich der Ort, den die Taube ihm beschrieben hatte. Klopfenden Herzens starrte der verliebte Prinz zum Schloß und murmelte leise vor sich hin: „Vielleicht lustwandelt jetzt das schöne Kind unter jenen schattigen Baumgruppen oder schwebt mit leicht beschwingtem Schritt über die kunstvolle Terrasse dort; vielleicht ruht und schlummert sie in einem kühlen Mirador des Palastes. Als der junge Mann allmählich wieder zu sich kam, bemerkte er voll Schreck, daß der Ansitz der Toledaner Königstochter von unübersteiglich hohen Mauern umgeben war und daß die bis an die Zähne bewaffneten Soldaten ununterbrochen die Runde machten, um zu verhinderten, daß jemand sich der Prinzessin nähern konnte.

Wie hat dir das Märchen gefallen?

Zeige anderen dieses Märchen.

Gefällt dir das Projekt Märchenbasar?

Dann hinterlasse doch bitte einen Eintrag in meinem Gästebuch.
Du kannst das Projekt auch mit einer kleinen Spende unterstützen.

Vielen Dank und weiterhin viel Spaß

Skip to content