Suche

Märchenbasar

Rübezahl

0
(0)
Woher ist er gekommen

In grauer Vorzeit lebten im hohen Norden drei Brüder, die Schles, Wil und Wan hießen. Schles, der älteste von ihnen, hatte seinen Namen von seinen Vorfahren geerbt und war wie sein Vater ein Bauer und Fischer. Er wußte Runen zu schneiden und verstand es in den Sternen zu lesen. Auch war er geschickt in Heilkunst und in der Kräuterkunde und half jedem, dem noch zu helfen war, ohne etwas dafür zu fordern. So blieb er arm, aber er wurde weit und breit gelobt.
Wil und Wan dagegen waren zwei rauhe, wilde, gierige Gesellen, die vom Pflügen und Säen nichts wissen wollten, sondern mit ihren großen Schiffen die weiten Meere durchpflügten und Seeraub trieben. Und da sie mit viel Schlauheit und List zu Werke gingen, hatten sie niemals Ärger und wurden reicher und mächtiger. Mit jedem neuen Raubzug wuchs ihre Beliebtheit unter dem Volk. „Bleibt im Lande eurer Väter, und nährt euch redlich“, sprach Schles zu ihnen, als sie sich zu einem neuen Beutezug rüsteten. Aber sie lachten ihn aus, schimpften ihn einen dummen Bauern und faßten an ihre Schwerter, die sie stets an der Hüfte trugen. „Was ihr nicht wollt, das man euch tu‘, das fügt auch keinem andern zu!“ rief Schles warnend. „Du bist ein Narr und ein Feigling!“ knirschten sie und bedrohten ihn mit Fäusten. „Je siegreicher der Räuber, um so jämmerlich sein Ende!“ murmelte Schles, drehte sich um und spannte die beiden Rappen vor den Pflug. Nun bliesen Wil und Wan in ihre großen silbernen Kampfhörner, lockten damit ihre Anhänger zum Strand und gingen mit ihnen an Bord. Das Getreide sproß schon, als sie vom Ufer stießen. Als es wieder reifte, kehrten sie heim. Sie waren im fernen Land gewesen, hatten drei reiche Städte überfallen und Beute über Beute gemacht. Sogleich riefen sie das Volk zum Rate zusammen und sprachen: „Auf, laßt uns hinüberfahren und sie alle mit unseren Schwertern zum Gehorsam zwingen, auf daß sie uns fortan dienen und wir ihre Herren sind in Ewigkeit!“ Und da sie alle die erbeuteten Schätze vorwiesen, fanden sie Beifall auf allen Seiten. Nun aber hob Schles seine Stimme und rief: „Wehe allen, die solche Taten gutheißen! Hochmut kommt vor dem Fall. Die Sterne drohen.“ „Die Sterne lügen!!!“ brüllten Wil und Wan wie aus einem Munde und pochten mit den Schwertern an die Schilde, um des Bruders Stimme zu übertönen. Darüber begann sich das Volk zu spalten. Die Alten standen zu Schles, aber die Jungen wollten ihn nicht hören. Doch die Alten gewannen noch einmal die Oberhand, und Schles sprach zu allen: „Gewalttat und unrechtes Gut gedeihen nimmermehr. Wem es hier in der Heimat nicht gefällt, der möge ausziehen in ein neues Land, darin noch keine Menschen wohnen. Aber in ein Land einzudringen, um die darin Wohnenden zu unterjochen und auf ihnen zu schmarotzen, das ist die größte aller Torheiten. Niemals hätten unsere Väter solche Schändlichkeiten gebilligt. Wer abweicht vom Brauch seiner Vorfahren, der wird untergehen! Und je höher er sich erhoben hat, umso schneller und tiefer wird er fallen. “Solche Worte vermochten Wil und Wan nicht zu widerlegen, und deshalb entschied sich die Mehrheit des Volkes gegen sie. Aber sie ließen nicht locker und zogen mit dem geraubten Gold immer mehr Wankelmütige zu sich herüber. Nun hatte Schles, dreizehn Kinder und auch sie vermochten der Versuchung nicht zu widerstehen, nahmen Gold und verließen ihren Vater. Das ging Schles sehr zu Herzen, aber er blieb fest und unbeirrt. „Bist du nicht mit uns, so werden wir gegen dich sein!“ sprachen seine Brüder zu ihm und boten ihm zehn Lasten Silber und fünf Lasten Gold. „Nicht um alles in der Welt!“ rief er und wies sie von sich. Darauf drohten sie ihm mit Schimpf und Schlimmerem und verließen ihn. Schles aber trat hinaus auf den Acker, schaute empor zu den ewigen Sternen und las darin, daß ihm daheim ein großes Unglück drohe. Deshalb kehrte er nicht in sein Haus zurück, sondern schlug sein Lager in einem Heuhaufen auf, den er am Rande der Wiese aufgeschichtet hatte. Kurz vor Mitternacht begann sein Haus zu brennen. Er erwachte erst, als es schon in hellen Flammen stand. Nur das Vieh und eine uralte Truhe, die in der Tenne stand, konnte er retten, dann brach das Gebälk zusammen. Dem Vieh gab er die Freiheit, die Truhe brachte er an Bord seines kleinen Schiffes, noch vor Sonnenaufgang spannte er das Segel auf und ließ sich im Morgenwind das Wasser hinuntertreiben. Sieben Hartbrote lagen unter der Ruderbank, davon nährte er sich. Dann öffnete er die Truhe und fand darin zwei Angeln, mit denen er sich jeden Morgen einige Fische aus der Flut holte. Weiterhin barg die Truhe fünfzehn Runenstäbe, deren Zeichen er aber trotz aller Mühe nicht zu entziffern vermochte, und eine escherne Wünschelrute, die von seinem Großvater stammte. Als er sie aufhob, brach der mürbe Bast, mit dem die Griffe umwickelt waren, schälte sich los und gab die Buchstaben frei, die darauf standen. Und Schles las: „Nimm mich zur Hand, und folge mir, dann wirst du kommen zur Höhle, darin die Quelle des ewigen Lebens fließt.“ Er gehorchte diesen Worten, nahm die Wünschelrute, wie er es bei seinem Großvater gesehen hatte, in beide Hände, stellte sich mitten in das Schifflein und drehte sich langsam auf seine Ferse. Das tat er siebenmal, und immer schlug die Rute nach Süden aus. Also fuhr er fortan entlang der Küste, bis er die Mündung eines Stromes erreichte, der von Süden kam. In dieses breite, ruhig fließende Gewässer lenkte er ein und fuhr darauf so lange, bis sein Kiel in einer Sandbank steckenblieb. Hier ging er an Land, lud sich den geringen Mundvorrat und die dunklen Runenstäbe auf den Rücken, nahm die Wünschelrute zur Hand und drang am Ufer des Flusses immer weiter nach Süden vor. Und da die Fische immer spärlicher wurden und das Brot längst zur Neige gegangen war, nährte er sich von Beeren und Pilzen, suchte Wurzeln und wilde Rüben, las Früchte von den Bäumen und erlegte Wild. So kam Schles in das Land, das nach ihm den Namen Schlesien trägt. Er fand es völlig menschenleer, weil es damals gerade von seinen bisherigen Bewohnern verlassen worden war, sie waren nach Süden davongezogen. Er durchschritt das verlassene Land, bis er am Fuß einer steilen Bergkette stand. „Welch ein riesiges Gebirge!“ sprach er zu sich selbst, denn er kam aus einem Lande, das ganz flach war. Nun erstieg er die rüstige Bergkette, die seitdem „das Riesengebirge“ heißt, und zog dabei fleißig die Wünschelrute zu Rate. Und als auf dem Gipfel des höchsten Berges stand, der seitdem „die Schneekoppe“ genannt wird, schlug die Rute plötzlich nach Norden aus. Daran erkannte er, dass er den richtigen Ort erreicht hatte, und suchte solange, bis er den geheimnisvollen unterirdischen Raum gefunden hatte. Weit oberhalb des Tales, in dem heute das Städtchen Schmiedeberg steht, lag der Eingang zur Höhle inmitten eines dichten Knieholzgebüsches. Es war ein schmaler Spalt, der von einer krausen, weit überhängenden Felsspalte geschützt wurde. Dann kam ein langer, gerader Gang, durch den ein Bächlein rauschte. Immer weiter drang Schles mit seiner Kienfackel vor und fand riesige, dunkle Räume, die sich in vielfachen Windungen und Verzweigungen von einem Ende des Gebirges bis zum anderen erstreckten. Die Höhle wurde von unzähligen Quellen durchrieselt, kleinen und großen, und hatte insgesamt neun Ausgänge. Mitten in diesem Reich schlug Schles sein Lager auf und lebte seitdem als Waldbauer, Jäger und Bergmann. Da die Wünschelrute ihm in der Höhle den Dienst versagte, trank er jeden Morgen aus einer anderen Quelle. Unermeßliche Reichtümer bargen die unterirdischen Räume an Gold, Silber und edlen Steinen. „Ich muß reich werde“, sprach er zu sich selbst, „viel reicher als Wil und Wan, auf daß meine Kinder wieder zu mir zurückkehren.“ Und er brach die Schätze und Kostbarkeiten aus dem Gestein und häufte sie emsiglich neben seinem Lager. Dabei wurde er älter und älter, denn aus der Quelle des ewigen Lebens hatte er noch nicht getrunken. So wurde Schles der erste aller Schlesier. Seine Kinder aber hatten inzwischen unter Anführung von Wil und Wan ein großes fremdes Land erobert, saßen dort als stille Gebieter auf ihren festen Burgen, unterdrückten das arme Volk mit aller Gewalt, lebten davon gar herrlich und in Freuden und hatten ihren Vater längst vergessen.

Wie hat dir das Märchen gefallen?

Zeige anderen dieses Märchen.

Gefällt dir das Projekt Märchenbasar?

Dann hinterlasse doch bitte einen Eintrag in meinem Gästebuch.
Du kannst das Projekt auch mit einer kleinen Spende unterstützen.

Vielen Dank und weiterhin viel Spaß

Skip to content