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Märchenbasar

Rübezahl

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Er zählte die Rüben

Eines Abends fand er die Quelle des ewigen Lebens. Sie entsprang einer doppelten Kristalldruse und war so schwach, daß sie jeden Tag nur einen einzigen Tropfen von sich gab. Als er den dritten Tropfen getrunken hatte, verfiel er in einen tiefen Schlummer, schlief fünfhundert Jahre und erwachte als Jüngling. Nun vermochte er auch die Runen zu entziffern, die von den Händen aller seiner Ahnen in die fünfzehn Stäbe geritzt worden waren und ihm Kunde gaben von der zauberhaften, unüberwindlichen Macht des richtigen Wortes. Dadurch wurde er ein Zauberer und Berggeist, der durch seinen Willen und den Hauch seines Mundes imstande war, unsichtbare Dinge hervorzurufen, sichtbar zu machen und vor Augen zu stellen. Und da er ein guter Geist war, wollte er sogleich seine Kunst zum Besten der Menschen erproben. Schleunigst entfuhr er seiner Höhle, betrat die Oberwelt und hielt Umschau. Das Land hatte sich inzwischen wieder mit Menschen gefüllt. Wohin er sah, überall regten sich fleißige Hände. Gelichtet waren die düsteren Wälder. Zwischen freundlichen Hainen, fruchtbaren Feldern und blühenden Obstbäumen ragten die Dächer der schlesischen Siedlungen hervor. Aus den Schloten wirbelte der Herdrauch lustig in die Frühlingsluft. Es duftete ganz deutlich nach Streuselkuchen und schlesischem Himmelreich, der aus Backobst, Klößen und Speck bestehenden Festspeise der Schlesier. Auf den blumenreichen Bergwiesen weideten die Herden, die Bienen summten, die Hunde kläfften, und der Hirt blies fröhlich seine Schalmei. Das gefiel Schles und er murmelte zufrieden: „Das sind sanfte Leute und lustige Kinder, sie werden mir nicht davonlaufen, um sich in Beutejäger zu verwandeln.“ Wie er nun so durch die Täler dahinstrich, hörte er einen Wasserfall rauschen und gewahrte in der Felsgrotte, durch die das Bächlein strömte, eine liebreizende Jungfrau beim Baden. Ihre zwölf Gespielinnen lagerten am Ufer und sagen ein Lied zur Preisung ihrer großen Schönheit. Es war die Prinzessin Emma, die einzige Tochter des mächtigsten der schlesischen Fürsten, der auch das dem Riesengebirge vorgelagerte Hirschberger Tal von seinem hohen Schloß aus beherrschte. Auf den ersten Blick verliebte sich Schles, der Jüngling und Berggeist, in diese Fürstentochter, und seine Liebe zu ihr wuchs so über alle Maßen und Begriffe, daß er nur noch darauf sann, sie zu entführen. Und als sie wiederum in der Grotte badete, gab der kiesige Grund des Baches nach, und sie versank blitzschnell in der Tiefe. Als sie die Augen öffnete, fand sie sich auf einem wunderweichen Ruhebett in einem prächtigen Palast, mit dessen Herrlichkeit das Schloß ihres Vaters keinem Vergleich standhalten konnte. Und vor ihr kniete ein schöner Jüngling, der ihr mit heißen Worten seine unstillbare Liebe gestand. „Wer bist du?“ fragte sie bestürzt und verwundert. „Ich bin der Berggeist“, gestand er und küßte ihre Hand. Der Prinzessin gefiel es, auch einmal von einem richtigen Berggeist geliebt zu werden, und sie ließ sich nun von ihm durch die hundert Säle und Gemächer führen. Er schenkte ihr tausend Kleider und eine ganze Wagenladung Schmucksachen. Und je mehr er ihr schenkte, umso lieber hatte sie ihn. Dann wandelten sie durch den wundervollen Lustgarten mit duftenden Blumenbeeten und grünen Rasenplätzen, die das Schloß von allen Seiten umgaben. Alle Bäume trugen reife, süße Früchte. Und die Gebüsche wimmelten von Singvögeln, die mit ihrem hunderstimmigen Gesang die Luft erfüllten. Das hatte alles Schles aus dem Unsichtbaren hervorgezaubert, und die Prinzessin erfreute sich daran drei Tage lang. Dann begann sie zu schmollen, denn sie sehnte sich nach ihren Gespielinnen. Flugs ging der Berggeist hinaus aufs Feld, zog aus seinem Acker ein Dutzend Rüben, legte sie in ein Körbchen und brachte es der Prinzessin. „Holdeste aller Jungfrauen“, sprach er zu ihr, „nimm diesen kleinen bunten Stab, und berühre damit diese unscheinbaren Gewächse. Und sogleich werden sie die leuchtenden Gestalten deiner Sehnsucht annehmen.“ Sie gehorchte, nahm den Stab, und schon hatte sie ihre zwölf Dienerinnen um sich. Nun war die Freude groß, es gab fröhliche Tänze, rauschende Feste, große Gastmähler und ritterliche Spiele. Immer zahlreicher wurde der Hofstaat der Prinzessin, und sie ruhte und rastete nicht, ihn stetig zu erweitern. Sie sann nur auf bunten Tand, Flitter und Prunk und dergleichen höhere und allerhöchste Kulturerrungenschaften. Und je mehr sich der Körper des Hofstaates aufblähte, umso leerer wurden die Felder, und umso bedrohlicher Schmolz der Rübenhaufen im Schloßkeller zusammen. Nur aus dem Unsichtbaren verstand Schles etwas hervorzuzaubern. Die Kunst, aus dem Nichts zu schaffen, war ihm versagt. In seiner grenzenlosen erkannte er nicht einmal, daß eine richtige Prinzessin tausendmal mehr Wünsche haben kann, als zehn tüchtige Zauberer zu befriedigen vermögen. Als nun der Rübenvorrat immer rascher zerrann, eilte der Berggeist in der Gestalt eines Pächters nach Hirschberg, kaufte eine Eselslast Rübsamen, bestellte damit alle seine Felder und schürte unter der Erde ein mächtiges Kohlenfeuer an, um die Keimlinge rascher emporzutreiben. Aber der Prinzessin wuchsen sie lange nicht rasch genug, und sie begann darüber, dem Berggeist zu grollen. Schließlich wandte sich ihr Herz ganz von ihm ab, weil er nicht einmal imstande war, die kleinen und unschuldigen Wünsche einer hochwohlgeborenen Prinzessin zu erfüllen, und sann auf Flucht. Zu diesem Zwecke verwandelte sie die vorletzten drei Rüben mittels des Zauberstabes in eine Biene, in eine Grille und in eine Elster und sandte sie alle drei zu ihrem früheren Liebhaber, dem Prinzen von Ratibor, an den sie sich plötzlich erinnerte. Die Biene wurde von einer Schwalbe, die Grille von einem Storch gefressen, aber die Elster, dieses klügste, listigste und geschwätzigte aller Tiere, kam glücklich ans Ziel und richtete die Botschaft getreu aus. Eilig rüstete der Prinz ein Geschwader seiner Reisigen, und fort ging’s, was die Rosse zu traben vermochten, dem Riesengebirge zu, um die holde Gefangene zu befreien. Weit dem Zuge voran flog die Elster und brachte der Prinzessin die frohe Nachricht. „Morgen soll die Hochzeit sein!“ sprach sie darauf zum Berghgeist und begann sich bräutlich zu schmücken. „Und damit ich sehe, daß du mich auch wahrhaft liebst, so gehe hinaus, und zähle mir alle Rüben auf dem Acker. Aber zähle genau, und verzähle dich nicht, sonst kann ich nimmermehr die Deine werden!“ Und Schles sprang hinaus, zählte und zählte, eilte die Furchen wohl auf und ab und brachte schließlich eine sehr hohe Summe heraus. Um aber seiner Sache ganz sicher zu sein, wiederholte er die Zählung. Und es stellte sich heraus, daß er sich das erste Mal bös verzählt hatte. Zum dritten Mal begann er die schwierige Arbeit. Und wiederum war das Ergebnis ein anders, er raufte sich das Haar und zählte zum vierten Male. Und so ging es weiter und weiter, bis ihm der Schweiß von der Stirne troff. Indessen hatte die Prinzessin die letzte Rübe in ein mutiges Roß verwandelt. Und während der Berggeist so in seine Zählerei vertieft war, daß er nichts anders sah und hörte, schwang sie sich in den Sattel und sprengte mit dem Sturmwind um die Wette über die Kuppen und Halden des Gebirges zu Tal. „Rübezahl! Rübezahl!!!“ rief sie noch zurück, als sie die Grenze seines Gebiets erreicht hatte, und flog in die offenen Arme des Prinzen von Ratibor. Da hob der Berggeist den Blick und erkannte, wie schmählich er vernarrt worden war. Im ersten Zorn packte er einige Wolken, knüllte sie zusammen und schleuderte sie der Entflohenen nach. Aber er erreichte sie nicht mehr. Nur ein Hagelwetter schlug neben ihr in die Tannen, und Blitz zerschmetterte weit hinter ihr eine tausendjährige Eiche. Nun riß der Berggeist das Bild der Undankbaren aus seinem Herzen und vollbrachte einen Schwur, sich niemals wieder zu verlieben, sondern fortan einsam zu bleiben und nur sich selber getreu zu sein. Seitdem lebt er ausschließlich mit seinen rasch wechselnden Launen. Ist er heute ungestüm, wild und rauh, kann er morgen schon gutmütig, bieder und freundlich sein. Er ist genau so rätselhaft, unsicher und wendig wie das Wetter und die Klüfte seines Gebirges. Lieber narren, als genarrt werden! Das ist sein Wahlspruch. Seinen Schwur, den er sich selbst gegeben hatte, hat er gehalten. Aber seitdem heißt es bei den Bewohnern der umliegenden Gegenden, die ihn bis heute noch niemals mit seinem richtigen Namen zu nennen gewußt haben, der Rübezahl. Doch wer ihn mit diesem Spottnamen ruft, dem zahlt er’s heim, und das gründlich.

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