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Das Märchen von der silbernenen Kugel

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Auch Johannes war jetzt so froh, wie noch nie in seinem Leben. „Gelt, Mutterle, so schön war es niemals bei uns!“ rief er oft mit leuchtenden Blicken, wenn sie abends traulich beisammensaßen und Luana von ihrer Heimat erzählte. Immer wieder mußte sie ihm von der Herrlichkeit der silberglänzenden Städte und Landschaften berichten: und niemals wurde er müde, von allen sonstigen Einrichtungen auf dem Monde zu hören. Könnte ich doch auch einmal alles sehen,“ Sag Luana, gibt es keine Möglichkeit, meinen Wunsch zu erfüllen?“ Das Mondmädchen lächelte wehmütig. „Nein, Johannes. Euch Menschen isz meine Heimat verschlossen, denn ihr seid ganz anderen Naturgesetzen unterworfen, als wir. Wenn ich meine Kugel habe, kann ich in wenigen Minuten von der Erde zum Mond emporsteigen. Du aber würdest viele Jahre brauchen, ehe du das himmlische Gestirn erreichen würdest. Und wenn du dann bei uns wärest, könntest du doch nicht leben, denn die Speise, dir nötig ist, fehlt. Freue dich darum an deiner Erde, denn es ist ja so schön bei euch, und ihr habt unendlich viel vor uns voraus.“ Der Knabe nickte staunend. „ Du hast recht, Luana, und ich will mich bescheiden. Über ein Jahr weilte das Elfenkind nun schon in der Waldhütte, aber trotz alles Forschens und Suchens hatte Johannes bis jetzt nichts über den Verbleib der silbernen Kugel erfahren können. Jedesmal, wenn er von einem erfolglosen Gang heimkehrte, war Luana stundenlang still und traurig, So wohl sie sich auch bei ihren gütigen Beschützern fühlte, die Sehnsucht nach der Heimat überwog doch immer wieder. Äußerlich zwar hatte sie sich der Erde mehr und mehr angepasst. Die irdische Speise hatte ihrem Gesichtchen Farbe verliehen und ihr Wesen menschenähnlicher gemacht. Sie schlief nicht mehr den ganzen Tag über, und floh auch nicht, wie zuerst, jeden Sonnenstrahl. Trotzdem sie nur Milch, Honig und Weißbrot genoß, gedieh sie sichtlich, und Frau Reinald und Johannes hatten ihre Herzensfreude an ihr. Oft vergaßen beide ganz und gar, dass das holde Wesen nicht zu ihnen gehörte und über kurz und lang, wieder von ihnen scheiden mußte. Nur in den Vollmondnächten wurde ihnen die seltsame Begebenheit stets ins Gedächtnis gerufen: Dann besuchte Frau Luna ihren verlorenen Liebling. Klagend schwebte die Mutter vor dem Fenster und sehnsuchtsvoll streckte das Kind die Arme nach ihr aus. Dann trauerten Frau Reinald und ihr Sohn mit den Ärmsten und wünschten von Herzensgrund die silberne Kugel herbei. Es war am Morgen eines trüben Novembertages. Frau Reinald und Luana schliefen noch, als Johannes leise aufstand, um die Ziegen und sein zahmes Reh zu füttern. Aber nicht wie sonst antworteten die Tiere auf seinen Zuruf wie Meckern und ungeduldigen Bewegungen. Nur klägliches, wimmerndes Stöhnen tönte ihm entgegen.
„Das ist etwas nicht in Ordnung,“ rief er erschrocken und hob die Stallaterne, um besser sehen zu können. „Ach, wer hat mir das getan!“ schrie er gleich darauf und glitt weinend zu seinem Reh nieder, das mit einer großen Schlinge erwürgt vor ihm lag. Von den Ziegen war nichts zu sehen. Dagegen krümmte sich auf deren Lagerstätte eine alte hässliche Frau. Der Knabe erschrak und wandte sich mit Widerwillen ab: Das, das war die böse Muhme, die größte Feindin seiner Mutter! So lange er denken konnte, hatte dieses schlechte Weib ihnen alles mögliche Ungemach angetan; und in jedem Abendgebete bat die Witwe den Allmächtigen, sie vor den Nachstellungen dieser boshaften Alten zu schützen. Die Feindschaft stammte schon von den Voreltern her; und kein Bitten und Flehen der sanften Frau Reinald hatte die Muhme bis jetzt zur Nachgiebigkeit gestimmt. Bei jeder Gelegenheit kränkte sie die schutzlose Witwe und tat ihr alles denkbar Böse an. Jetzt lag die Schlimme stöhnend und bewusstlos vor dem entsetzten Johannes, und dieser wusste gut genug, woher ihr Unheil gekommen war: Sein liebes Reh hatte sie erwürgt und die Ziegen davongejagt; und zur Strafe war sie denn ausgeglitten und hingefallen und hatte sich bei ihrem Alter verletzt sie
zählte achtzig Jahre-So sehr der gute Junge um sein Reh und die verlorenen Ziegen jammerte und der alten Feindin zürnte, er brachte es nicht über sich, sie hilflos in ihren Schmerzen liegen zu lassen. Eilends lief er ins Haus. „Mutterle, Mutterle, komm und hilf! Die alte Muhme ist in unserem Stalle gefallen und ist bewusstlos. Ich glaube, sie stirbt. Komm schnell! So rasch sie konnte, sprang Frau Anna von ihrem Lager auf, der Alten bei. In selbstloser Menschenliebe trugen gleich darauf Mutter und Sohn die todkranke Greisin ins Haus. In diesem Augenblick erwachte Luana, die bis dahin friedlich geschlummert hatte. „Meine Kugel!“ rief sie aufgeregt. Meine silberne Kugel muß in der Nähe sein! O, sagt, was ist geschehen.“ Aber Frau Reinald und Hannes achteten diesmal kaum auf das sonderbare Wesen ihres Schützlings, da sie vollauf mit der allem Anscheine nach sterbenden Muhme beschäftigt waren. Die gebrochenen Glieder und die Nacht auf dem kalten Stallboden hatten der bösen alten Frau den Rest gegeben. Trotzdem versuchte Frau Anna alle Mittel.
„Hannes, du musst zum Doktor laufen.“ Aber ehe es noch dazu kam, geschah etwas Wunderbares: Als Frau Reinald die bewusstlose Greisin entkleidete, rollte plötzlich ein glitzerndes, rundes Ding unter den Hüllen hervor und sprang mit melodischem Klingen auf die Erde. Im selben Augenblick wurde die niedere Stube mit überirdischem Lichte erfüllt. Mit einem Jubelschrei sprang Luana empor und haschte nach dem Kleinod. „Meine Kugel! Ich habe meine silberne Kugel wiedergefunden. Gott sei Lob und Dank!“ Mit beiden Händen hielt das glückstrahlende Kind den wiedergefundenen Schatz in der Höhe: „Mutter Luna! Mutter Luna! Noch heut darf ich bei dir sein! Aber auch die bewusstlose Alte schlug bei dem strahlenden Scheine der Mondkugel wider Erwarten die Augen auf. „ Meine Kugel! Ihr habt mir meine Kugel genommen!“ kreischte sie mit schriller Stimme, und versuchte umsonst aufzustehen und das Kleinod zu ergreifen. “ Gebt mir meine Kugel wieder! Ich habe zu Haus viel, viel Geld versteckt, das soll dann euer sein! In der Johannisnacht, vor Jahr und Tag, habe ich das wunderbare Ding auf der Waldwiese gefunden; und seitdem gingen Gold und Silber in meiner Hütte nicht mehr aus. Gebt mir die Kugel wieder! Gebt mir meine silberne Kugel wieder!“
„Nein,“ sagte hier plötzlich die sonst so sanfte und stille Luana ernst. „Nein, diese Kugel gehört nicht dir! Sie ist mein Eigentum!
Gefundenes Gut, gestohlenes Gut!
Gib’s ab, eh’ es dir Schaden tut!
Nur dem rechtmäßigen Eigentümer und seinen Freunden bringt die Kugel wahres Glück.“ Entsetzt und scheu sah die Alte auf das schöne Kind. „Wer bist du?“
„Ich bin Luana, das Mondmädchen, und mir gehört die Kugel, die du gefunden hast. Du hast viel Böses getan, aber es sei dir verziehen, wenn du jetzt dein Unrecht einsiehst und bereust.“ Die sterbende Greisin zitterte am ganzen Körper:
„Ja, ja, ich bin schlecht gewesen! Trotzdem Johannes Reinald und seine Mutter mir immer nur Gutes erwiesen haben, suchte ich sie doch auf alle Weise zu kränken. Heute Nacht drang ich in ihren Stall ein und wollte ich alle ihre Tiere vernichten, denn ich wusste, wie lieb sie ihnen waren. Dabei trat ich fehl und kam zu Fall, und mußte die ganze Nacht hilflos am Boden liegen.“
„Das ist des Sünders Lohn!“ sagte Luana wieder ernst. „Aber der Allmächtige wird auch dich in Gnaden annehmen, wenn dir deine Sünde leid tut! Bedenke deine letzte Stunde ist da!“
„Ja, ja! Ich bereue alles Unrecht von Herzensgrund,“wimmerte die Alte kläglich. „Anna Reinald und Johannes vergebt mir.“
„Wir tragen dir nichts nach, Muhme. Du kannst in Frieden heimfahren.“ Die arme Alte tat einen tiefen Atemzug und legte sich befriedigt zurück.
„Das lohne euch Gott in Zeit und Ewigkeit!“ Eine Stunde später war sie verschieden. Als der Abend kam und die Zeit des Mondaufganges nicht mehr fern war, fasste Luana Frau Reinalds Hände: „ Mutter Anna, die Scheidestunde naht. Wenn der Vollmond am Himmel steht, muß ich von euch gehen. Habt Dank für alle Liebe und vergesst mich nicht.“ Johannes traten sie Tränen in die Augen und die Witwe drückte das Pflegetöchterchen zärtlich an sich. „Ach, mein Liebling, wenn du doch bei uns bleiben könntest!“ Luana sah ihre beiden Beschützer herzlich an: „ Ich bin sehr gerne bei euch gewesen, aber ich freue mich von ganzem Herzen, dass ich nun zu den Meinen heimkehren darf. Habt Dank! Wäret ihr dem natürlichem Rachebedürfnis gefolgt und hättet ihr die Feindin hilflos liegen lassen, so hätte ich niemals mein Kleinod wiedererlangt! Und nun kommt mit mir hinaus auf die Waldwiese. Wenn die Mondstrahlen, unsere Boten, meine wiedergefundene Kugel sehen, dann herrscht große Freude in meiner Heimat; und Mutter Luna kommt und holt mich heim ins Vaterhaus. Seid nicht traurig, ihr Guten, sondern freuet sich mit mir, dass mein Leid in Freude verwandelt ist. Wenn ich kann, sehe ich euch von Zeit zu Zeit wieder.“
Während sie also sprach, hatte Luana das rote Röckchen und Käppchen abgestreift und stand nun, wie einst, in überirdischer Schöne leuchtend, vor ihren Freunden. „Kommt, kommt, es ist Zeit.“ Betrübt und doch froh, folgten ihr Frau Reinald und Johannes auf die Waldwiese hinaus. So lieb sie den kleinen, fremden Gast gewonnen hatten, so freuten sie sich doch von Herzen, dass er nun wieder in die ersehnte Heimat zurückkehren durfte. Inzwischen war der Vollmond aufgegangen. Da hob Luana mit beiden Händen die silberne Kugel zu ihm empor, und die Mondstrahlen glänzten über alle Maßen herrlich auf dem wiedergefunden Kleinode. Gleich darauf glitt es wie eine Sternschnuppe vom Himmel herunter. „Mutter Luna, Mutter Luna! Jubelte das schöne Kind und breitete die Arme der überirdischen Frauengestalt entgegen.
„Nun darf ich heimgehen! Dank, Dank, ihr Lieben! Einen Augenblick später schwebten Mutter und Kind Hand in Hand dem leuchtenden Mond zu; und melodisches, wundersames Klingen zog durch die stille Nacht. Weinend schlang Johannes die Arme um Frau Reinalds Hals. „ Ach, Mutterle, wie einsam wird s uns sein! Aber trotzdem freue ich mich, dass wir die silberne Kugel gefunden haben, und Luana nun wieder bei den Ihren ist!“
„So ist es recht, mein Sohn,“ sagte Frau Anna ernst. Man muß nie an sich selbst, sondern immer an das Wohl der andern denken. Nun komm heim und laß uns in treuer Arbeit unser Leben fortsetzen.“

Viele, viele Jahre waren seitdem vergangen. Längst schlummerte Mutter Anna im Schatten der Kirchhoflinden; und der frische, fröhliche Johannes von einst war nun ein angesehener, tüchtiger Mann und schon Großvater. Nimmer aber konnte er sein wundersames Jugenderlebnis vergessen; und mit Freude und Sehnsucht dachte er an Luana. Unermüdlich erzählte er den lauschenden Enkelkindern von der silbernen Kugel und dem lieblichen Mondmädchen; und atemlos hörten die blondhaarigen Knaben und Mädchen zu. Ein blauäugiges Dirnlein besonders, zu Ehren der lieben Verlorenen „Luana“ genannt, konnte nie genug bekommen. „Ach, Großvater, wenn dich das liebe Mondkind nur ein einzigmal sehen könnte!“ Der Greis nickte, in wehmütige Erinnerungen verloren. „Ja, Liebling, ich würde mich auch freuen, und versprochen hat es mir damals Luana. Aber sie muß wohl keine Erlaubnis mehr bekommen haben, die Erde zu besuchen.“ Acht Tage nach diesem Gespräch trat Johannes Reinald nach seiner Gewohnheit abends noch einmal an die Betten der Enkelkinder. Da stutzte er plötzlich. Hell schien der Vollmond ins Zimmer, und an seinen silbernen Strahlen glitt soeben Luana, das Mondmädchen, zu ihrer irdischen Namensschwester herab. Freundlich sprach und spielte sie mit dem entzückenden Kinde, und der Greis konnte sich an dem lieblichen Bilde gar nicht satt sehen.“ Luana!“ rief er endlich leise und sehnsüchtig. Da wandte sich die Kleine und sah den einstigen Retter und Gespielen liebreich an.
„Gott segne dich, Johannes Reinald! Ich bin sehr glücklich, und das habe ich dir zu danken. Ich bin froh, dass ich dich noch einmal sehen durfte. Du bist inzwischen ein alter Mann geworden, und ich bin noch immer ein Kind. Aber uns beide eint dankbares Gedenken an unser wundersames Erlebnis.“
Als Johannes aufsah, war Luana verschwunden. Er sah sie auf dieser Erde nicht wieder, aber er vergaß Luana nicht und gedachte stets mit Freude und Rührung des lieblichen, fremden Gastes.

Quelle:
Helene Berthold 1925 das dreizehnte Bändchen

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