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Die Sage vom Prinz Achmed al Kamel dem Liebespilger

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Die Eule flog des Nachts fort, flatterte durch in die Dunkelheit gehüllte Stadt und ließ sich auf Dächern und Schornsteinen nieder, um so etwas zu erfahren.
Sie kam natürlich auch zum königlichen Palast, der auf felsiger Höhe über der Stadt emporragte, und stöberte dort in einsamen Zimmern, auf Zinnen und Terrassen herum; lauschte an jeder Mauerritze und Türspalte und glotzte durch die beleuchteten Fenster der Diensträume und, neugierig wie sie war, auch in die Frauengemächer, so daß beim Anblick der großen starren Augen einige der Hofdamen in Ohnmacht fielen. Als der Morgen dämmerte, kam sie endlich wieder zurück und erzählte dem hart wartenden Prinzen alles, was sie gesehen und gehört hatte. Nach einem ausführlichen Lagebericht erzählte der Uhu schließlich: „Als ich einen der höchsten Türme auskundschaftete, sah ich in einem schön eingerichteten Schlafzimmer die holde Prinzessin auf einem Ruhebett liegen. Ärzte und Dienerinnen, Hofdamen und Räte umgaben das Lager, doch die Königstochter wollte von ihren Diensten nichts wissen und bat alle, sie allein zu lassen um sich endlich zurückzuziehen. Als sie weg waren, sah ich, wie sie einen Brief aus ihrem Busen zog, ihn las, küßte und laut zu weinen begann. Ich muß dir ehrlich sagen, o Prinz, daß solche Klagen und solch bittere Tränen selber mich, den ruhigsten aller Philosophen, zutiefst rührten. Achmeds zärtliches Herz betrübten diese Nachrichten. „Nur zu wahr waren deine Worte, o weiser Eben Bonabben“, rief er laut aus! „Sorge und Kummer, schlaflose Nächte und heiße Tränen sind das traurige Los der Liebenden. Allah behüte die Prinzessin vor den verderblichen Folgen jenes Zustandes, den man Liebe nennt!“ Weitere Nachrichten aus Toledo bestätigten den Bericht der Eule. Die Stadt war in heller Aufregung. Die Prinzessin hatte man in den festeren Turm des Palastes gebracht, und scharfe Wachen wehrten jedermann den Zugang zur Kemenate. Krank saß indessen die arme Aldegunde in ihrem Gemach. Es hatte sich ihrer eine verzehrende Schwermut bemächtigt, deren Ursache niemand kannte. Trank und Speise wies sie voll Ekel zurück und hörte auf keines der Trostworte ihrer Umgebung. Die geschicktesten Ärzte des Landes standen vor einem unlösbaren Rätsel und äußerten, denn irgend etwas müßten sie ja dem König sagen, daß eine Hexe ihre Hand im Spiel habe. Der besorgte Vater ließ daher öffentlich verkünden, wer seine Tochter heilen würde, könne sich als Lohn den kostbarsten Juwel aus der königlichen Schatzkammer nehmen. Als die Eule diese wichtige Nachricht hörte, schlummerte sie gerade in einem Winkel der Höhle. Sie wurde wach, rollte geheimnisvoll ihre großen Augen und rief: „ Allah, Akbar! Glücklich ist der Mann, dem die Heilung gelingt; aber er muß wissen, was er aus der Schatzkammer dafür fordert!“ „Was meinst du, höchst ehrenwerte Eule?“ fragte kurz Achmed. „Höre, o Prinz, auf das, was ich dir nun erzählen will. Wie du sicherlich schon wissen wirst, bilden wir Eulen eine gelehrte Vereinigung von Forschern, die ihre Aufmerksamkeit ganz besonders den Altertümern und historischen Monumenten zuwenden. Während meines letzten Nachtfluges zu den Türmen und Palästen Toledos stieß ich ganz zufällig in einem Gewölbe des Münzturmes auf eine Akademie von weisen Eulen. Alle waren auf Numismatik, Heraldik und Kunstgeschichte spezialisiert, und man besprach mit Klugheit die Schriftarten und Zeichen an mehreren goldenen Kelchen und Reliquien, die in der königlichen Schatzkammer aufgehäuft lagen und noch von Roderich dem Gotenkönig herstammen sollten. Allgemeines Interesse erregten die mystischen Zeichen auf einem orientalischen Kästchen aus Sandelholz, denn sie waren den meisten Gelehrten unbekannt. Schon in mehreren Sitzungen behandelten die Akademiker dieses Thema, konnten sich aber trotz der gründlichsten Ausführungen von Fachleuten nicht einig werden, was wohl die kabbalistischen Zeichen darauf bedeuten möchten. Während meiner Anwesenheit erklärte nun eine alte Eule, sie war auch eigens zu diesem Zweck aus Ägypten eingeladen worden, daß, im Einklang mit der Inschrift auf dem Kästchen, dieses das seidene Throntuch von Salomon dem Weisen enthalten müsse, das ohne Zweifel nach der Zerstörung von Jerusalem von Juden nach Toledo gebracht worden war und aus unerklärlichen Gründen hier in einem Winkel der Schatzkammer vergessen liege.“

Als die Eule ihren wissenschaftlichen Vortrag beendet hatte, blickte der Prinz eine Zeitlang sinnend vor sich hin und sagte dann in Gedanken versunken wie zu sich selbst: „Eben Bonabben erzählte mir von den wunderbaren Eigenschaften dieses außerordentlichen Gewebes. Es war bei der Eroberung von Jerusalem durch die Römer verschwunden, und man glaubte, daß dieses zauberkräftige Kunstwerk für die Menschheit verloren sei. Ohne Zweifel wissen die Christen nicht, welch Wunderwerk sie ihr eigen nennen. Wenn ich in den Besitz dieses Tuches gelangen kann, dann allerdings wäre mein Glück gesichert.“ Am nächsten Morgen legte Achmed seine reichen Gewänder ab und kleidete sich in eine einfache Tracht eines armen Wüstenarabers. Das Gesicht färbte er sich dunkelbraun, so daß niemand in ihm den stolzen Ritter vom Turnier erkannt hätte, der dort solche Bewunderung und auch solchen Ärger und Verdruß verursacht hatte. Einen Wanderstab in der Hand, den Reiseranzen an der Seite und im Sack eine kleine Hirtenflöte schritt er rasch auf Toledo zu. Ohne Beanstandung ließ man ihn durchs Tor, und er gelangte bald an die Pforte des Palastes. Dort meldete er sich beim diensthabenden Wachbeamten und sagte, daß er die Prinzessin heilen könne und die versprochene Belohnung erwarte. Ritter und Gardisten wiesen ihn aber zurück und wollten den armen Bewerber verprügeln. „Was kann wohl ein herumstrolchender Araber helfen, wo einheimische Kapazitäten und Größen bis heute nichts ausgerichtet haben?“ schrien sie derart laut, daß der König sie hörte und befahl, den Araber kommen zu lassen. „Mächtigster König“, sagte höflich Achmed, „du hast einen armen Beduinen vor dir, der den größten Teil seines Lebens in den Einöden der Wüste verbrachte. Wie du wissen wirst, sind diese Stätten der Sammelplatz von bösen Geistern und Dämonen; auf einsamen Wachen fallen sie uns Hirten an, fahren dann zwischen die Hirten, zerstreuen die flüchtigen Tiere und bringen manchmal selbst das geduldigste Kamel bis zur Tollwut. Musik ist das einzige Gegenmittel, das die Dämonen bannt. Von den Vätern her haben wir alte Weisen, die wir singen oder auf der Flöte spielen, wenn es Not tut, um die Teufel aus der Wüste auszutreiben und fernzuhalten. Ich gehöre einem alten Beduinenstamme an und kenne solche Melodien; wenn also deine Tochter unter dem Einfluß eines bösen Geistes steht oder gar behext wurde, dann, meinen Kopf verpfände ich dafür, kann das schöne Kind gesund werden.“ Der König, wie alle Könige ein Mann von großem Verstand, hatte bereits von solchen Wundermelodien gehört und wußte auch, daß nur ganz bestimmte Wüstenbeduinen sie beherrschten. Rasch faßte er Hoffnung, denn Achmed hatte überzeugend gesprochen, und glücklich führte er ihn in den Palast und zum hohen Turm, wo hinter verschlossenen Türen im obersten Stock die Prinzessin saß und weinte. Die Fenster des Wohngemaches von Aldegunden gingen auf einen Gang hinaus, von wo man einen herrlichen Rundblick auf Toledo und die umliegenden Berge hatte. Jetzt waren Fenster und Balkontüren verhängt, denn das liebeskranke Kind konnte kein grelles Licht vertragen, zu groß war sein Kummer. Auf dem Gang vor der Kemenate hieß man den Prinzen sich setzen und seine Kunst zu versuchen. Er zog auch gleich seine Hirtenflöte hervor und blies darauf einige wilde und feurige Araberweisen. Auf dem Generalife zu Granada hatte ihn sein Leibdiener solche Stücke gelehrt, wenn er des Lernens müde, Bücher und Papyrusrollen in eine Ecke geworfen hatte. Nervenaufpeitschend und schrill hallten die Flötentöne durch die Fenster in das Schlafgemach der Prinzessin; doch diese blieb teilnahmslos und reagierte nicht darauf. Spöttisch lächelnd schauten die gelehrten Doktoren auf den armen Araberjungen, der das zuwege bringen wollte, was sie, die Weisen des Landes, nicht geschafft hatten. Endlich legte Achmed sein Instrument weg und sang nach Art der Barden einige einfache Verse voll Liebe und Zärtlichkeit. Es war der Text des Briefes, den er einstens an die unbekannte Geliebte geschrieben hatte und dessen Überbringer der arme Tauber war.

Aldegunde erkannte sofort den Inhalt des Liedes, und eine jähe Freude durchzuckte ihr kleines Herz. Sie hob den Kopf und lauschte gespannt auf Worte und Melodie; dann stürzten Tränen der Freude aus ihren Augen und liefen ihr über die bleichen Wangen, die sich schon leicht sanft röteten. Ihr Busen hob und senkte sich im Aufruhr der Gefühle, und nur allzu gern hätte sie den Sänger gesehen. Doch Anstand und Scham verschlossen ihr den Mund. Der König las aber diesen Wunsch aus den Mienen seines geliebten Kindes und befahl, Achmed ins Zimmer zu führen. Geistesgegenwärtig benahmen sich die beiden Liebenden; sie schauten sich nur in die Augen, und beide wussten gleich, wie sie sich verhalten mußten, daß niemand Verdacht schöpfte und erriete, was sie dachten. Die Musik hatte gesiegt und einen vollkommenen Triumph errungen! Pfirsichroter Schimmer legte sich auf die zarten Züge der Prinzessin; frisch leuchteten ihre Lippen, und schmachtenden Auges blickte sie versonnen und glücklich vor sich hin. Einen seidenen Überwurf streifte sie von den Schultern, denn heiß floß das Blut durch ihre Adern. Alle anwesenden Ärzte schauten einander erstaunt an und wussten nicht, was sie denken und sagen sollten. Voll Bewunderung und Scheu betrachtete der König den arabischen Sänger und sagte: „Wunderbarer Jüngling! Du sollst hinfort mein Leibarzt sein, und kein Mittel will ich künftig nehmen, das nicht du mir verschrieben hast; und deine Musik, soll allen helfen, wie sie meinem Kind geholfen hat. Sage mir, welche Belohnung willst du haben? Das kostbarste Kleinod meiner Schatzkammer sei dein.“ „O König“, erwiderte Achmed, „ich frag nicht nach Gold, Silber oder Edelsteinen, denn die Schätze dieser Welt sind für mich ohne Wert. Aber du hast in deiner Schatzkammer eine Reliquie aus der Maurenzeit, als diese noch in Toledo saßen; es ist ein Kästchen von Sandelholz und drinnen ist ein altes seidenes Gewebe. Gib mir dieses Kästchen mit dem Tuch, und ich bin zufrieden.“ Die Anwesenden waren von der großen Bescheidenheit des Beduinenjünglings überrascht, und ihr Erstaunen wuchs noch, als sie das Kästchen und das Gewebe sahen. Einfach war die Schatulle und einfach das Tuch. Es handelte sich um ein grünseidenes Stück Stoff, ohne besonderen Schmuck, das hebräische und chaldäische Schriftzeichen zeigte. Augenzwinkernd sahen sich die Hofärzte an und lächelten, denn zu groß war die an Dummheit grenzende Selbstlosigkeit ihres neuen Kollegen, der anscheinend nicht wußte, was er wollte.

Der Prinz schien nichts von all dem zu bemerken und sagte ernst: „Dieser Teppich bedeckte einstens den Thron Salamons des Weisen; er ist es wert, daß man in zu Füßen des schönsten und holdesten Wesen lege.“ Mit diesen Worten breitete er ihn auf dem Balkon vor dem Diwan der schönen Prinzessin aus, setzte sich darauf und sagte jedes Wort betonend: „Gott ist groß, sein Wille geschehe! Was im Buch des Schicksals geschrieben steht, muß sich erfüllen und niemand kann es verhindern. Seht, die Prophezeiung der Astrologen erfüllte sich! Wisse, o König, Aldegunde und ich wollen ein Paar werden, denn wir lieben uns im geheimen schon seit langer Zeit. Schau mich nur genau an. Ich bin der Liebespilger!“ Kaum hatte Achmed diese Worte gesprochen, als sich das Tuch langsam in die Luft erhob und die beiden Liebenden davontrug. Der König, die Ärzte und Hofleute starrten ihnen nach, Mund und Augen weit aufgerissen, bis sie nur mehr ein kleiner Punkt waren, der auch bald am fernen Horizont verschwand. Der König tobte vor Wut und ließ den Schatzmeister kommen. „Wie konnte so etwas geschehen“, schrie er ihn an, „ wie konntest du einem Ungläubigen nur solche Kostbarkeit ausliefern?“ „Es ist ein Jammer, Majestät! Wir kannten die Wunderkraft des Stoffes nicht; niemand wußte die Inschrift auf dem Kästchen zu entziffern! Wenn es sich in der Tat um den Überwurf von Salomons Thron handelt, was ich nach dieser gegenwärtigen Sachlage annehme, dann können dessen Besitzer auf ihm durch die Lüfte fliegen, denn das ist eine magische Kraft.“ Der König ließ Alarm schlagen und sammelte ein gewaltiges Heer, an dessen Spitze er gegen Granada zog, um die Flüchtlinge zu verfolgen und die ihm angetane Beleidigung zu rächen. Lange war der Marsch und beschwerlich der Weg, aber endlich kam die Christenschar doch ans Ziel und schlug in der Vega ihr Lager auf.

Am nächsten Morgen schon sandte der König Herolde in die Stadt, um die Rückgabe seiner Tochter zu fordern. Der Maurenkönig ritt ihnen mit seinem ganzen Hofstaat entgegen, und zu ihrer Bestürzung erkannten sie in ihm den Sänger aus der Wüste Arabiens, der die Prinzessin erst heilte und dann entführte.
Achmed hatte nämlich unterdessen nach dem Tod seines Vaters den Thron Granadas bestiegen und die schöne Aldegunde geheiratet. Als der König von Toledo erfuhr, daß seine Tochter ihren christlichen Glauben beibehalten durfte, war er bald besänftigt und gab nachträglich zur stattgehabten Hochzeit seinen Segen; nicht daß er gerade besonders fromm gewesen wäre, aber bei Fürsten und ähnlichen Potentaten ist ja bekanntlich die Religion eine Ehrensache und Mittel zur leichteren Handhabung des untertänigen Volkes. In Granada gab es nun statt dessen der vorgesehenen blutigen Schlachten eine Reihe von Festen und Feiern, nach deren Ablauf der König und die Seinen recht vergnügt nach Toledo zurückkehrten, während das junge Paar glücklich weiterlebte und von der Alhambra aus weise sein Reich beherrschte. Es wäre noch hinzuzufügen, daß die Eule und er Papagei dem Prinzen in kurzen Tagreisen einzeln nach Granada gefolgt waren. Erstere reiste bei Nacht, besuchte Vetter und Basen, durchstöberte Gehöfte, Türme und Höhlen und frischte so die alte Freundschaft wieder auf.
Der Papagei wiederum machte seine Aufwartung nur in feinen Kreisen, so beim Landadel, wo er ganz besonders bei Damen großes Glück hatte.
Achmed belohnte dankbar die Dienste, die sie ihm auf seiner Pilgerfahrt geleistet hatten. Die Eule machte er zu seinem Staatskanzler und den Papagei zum Haus – und Hofmarschall. Es ist wohl nicht notwendig, ganz speziell zu vermerken, daß kein Land je weiser regiert und kein Hofstaat je prunkvoller geführt wurde, als der zu Granada zur Zeit Achmeds und Aldegundens.

Quelle: Märchen und Sagen aus Spanien

 
 
 
 

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