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Märchenbasar

Dornenblüt

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Die weise Serène stieg ab und näherte sich dem Scheiterhaufen. Sie hielt in ihrer Rechten den Stab der Wahrheit, und dieser Stab war von so glänzendem Golde, daß man ihn kaum ansehen konnte. Sie stellte sich vollkommen unwissend über den Gegenstand des Schauspiels, das sich ihren Augen darbot. Sie befragte den Kalifen. ‚Wir wollen hier‘, antwortete er, ‚das Gerippe einer gewissen Dornenblüt verbrennen.‘ – ‚Und was hat Euch denn diese Dornenblüt getan‘, fragte sie in einem strengen Ton, ‚daß ihr sie lebendig verbrennen wollt?‘ Die ganze Versammlung staunte. Der Kalif aber bat sie um Verzeihung, daß er respektwidrig von ihrer Tochter gesprochen habe, behauptete aber steif und fest, daß sie tot sei. ‚Und daß sie wirklich tot ist‘, fuhr er fort, ‚könnt Ihr daran sehen, daß wir sie eben verbrennen wollten.‘
Serène würdigte ihn keiner Antwort, sondern befahl, Dornenblüt von dem Scheiterhaufen herabzuheben und sie auf ein Ruhebett zu legen, das man aus dem Palaste brachte. Hierauf trat sie zu ihr, und indem sie sich zu dem Kalifen wandte, sagte sie: ‚Ihr sollt gleich sehen, daß sie nicht tot ist. Es sind Leute hier, die dies recht gut wissen.‘ Sie berührte Dornenblüt nach diesen Worten mit ihrem Zauberstab, und in dem Augenblick kehrten ihre Lebensgeister zurück, und ihre Augen öffneten sich. In ihrem Gesicht malte sich das Erstaunen einer Person, die aus einem langen Schlafe erwacht und sich an einem unbekannten Ort findet. Die weise Serène schien über die schreckliche Veränderung ihrer Gestalt erstaunt. Sie fragte nach Larifari. Man ließ ihn kommen, denn alles folgte blindlings ihren Befehlen. Als er kam, schrie der Papagei und schlug mit den Flügeln. Larifari erkannte ihn als den Vogel, den er auf seiner Reise zur Langzahn gesehen hatte; doch in der Heftigkeit seines Schmerzes würdigte er ihn keiner sonderlichen Aufmerksamkeit. Er wußte noch nicht, was vorgegangen war.
Serène sah ihn mit Unwillen an. ‚Unglücklicher‘, sprach sie, ‚wie kannst du es wagen, vor meinen Augen zu erscheinen? Hast du mir nicht bei Gefahr deines Lebens für Dornenblüts Leben gebürgt? War es noch nicht Treulosigkeit genug, in jene fürchterliche Giftmischerei zu willigen, die sie nach einer langen und tödlichen Krankheit aller ihrer Reize beraubt hat? Mußtest du sie überdies ihren grausamsten Feinden und endlich den Flammen überlassen, die die unglücklichen Reste der armen Dornenblüt zu verzehren drohten? Und alles dies, um deine Treulosigkeit den Augen, für die du sie so schändlich verraten hast, desto sichtbarer zu machen.‘ Dieser Strom von Vorwürfen machte auf Larifari eben nicht mehr Eindruck, als wären sie an den fremdesten Menschen gerichtet gewesen. Er war mit nichts als Dornenblüts Tode beschäftigt, und wahrscheinlich hatte seine Seele eben einen Spaziergang in die Gefilde gemacht, in denen er ihren Schatten anzutreffen glaubte. Die Fee, die ihn nur auf die Probe stellte, um seinen Triumph desto strahlender zu machen, fuhr fort: ‚Geh und nimm die Belohnung, die das Schicksal dir aufbewahrt, eine Belohnung, welche dein Mut und deine Standhaftigkeit, nicht aber deine Treulosigkeit verdient. Und Ihr, Prinzessin‘, sagte sie zu Sonnenstrahl, ‚wählet oder empfangt vielmehr jetzt Euren Gemahl. Larifari war Euch nicht gleichgültig, ehe er so viel für Eure Wohlfahrt wagte. Alles spricht für ihn. Ich befehle Euch also im Namen des Schicksals, Euren Gatten zu ernennen.‘
Sonnenstrahl betrachtete ihren schönen Papagei, Larifari und Dornenblüt abwechselnd zwei- bis dreimal. Dann sann sie einige Augenblicke nach. ‚Er mag selbst zwischen Sonnenstrahl und Dornenblüt wählen‘, sprach sie. Larifari erwachte bei diesen Worten wie aus einem Traum. ‚Schöne Sonnenstrahl‘, sagte er zu ihr, ‚ich bin einer Ehre nicht würdig, die ich nicht zu begehren wage und an die ich nicht mehr gedacht habe, seitdem ich die unglückliche Dornenblüt sah. Ach, sie ist nicht mehr, und mein Herz macht mir jeden Augenblick zum Vorwurf, den ich noch lebe. Ich lebte nur für sie, und die einzige Wahl, die mir bleibt, ist, ihr nachzufolgen …‘ – ‚Und wenn sie noch lebte?‘ sagte Serène. Diese Worte brachten ihn wieder zu sich. Ein Strahl der Hoffnung ging in seinem Herzen auf. Er kannte die Macht Serènes und warf sich ihr zu Füßen. ‚Wenn sie noch lebte?‘ sprach er. ‚Rufe sie ins Leben zurück, und wenn es meines Lebens bedarf, das ihre zu erkaufen, so mag Larifari sterben, und Dornenblüt mag das Licht des Tages wiedersehen.‘
Man mag noch soviel Verstand haben, es gibt doch immer tausend Fälle im menschlichen Leben, wo man nicht weiß, was man tut, wenn man recht von Herzen verliebt ist. Aber bei einem Gegenstande der Betrübnis wie dem gegenwärtigen erfordert es die Schicklichkeit, etwas verwirrt zu sein. Larifari führte sich also bei dieser Gelegenheit so einfältig auf, daß er bis ans Ende der Welt zu Serènes Füßen liegengeblieben wäre, um die Auferstehung seiner Geliebten zu erwarten, ohne darauf zu kommen, daß sie gar nicht tot war. Die zärtliche Dornenblüt, die kein Wort von dieser Unterhaltung verlor, lag noch immer auf ihrem Ruhebett und starb beinahe zum zweiten Male vor Dankbarkeit und Freude.
Serène glaubte, daß es nun Zeit sei, einen so zärtlichen Liebhaber von seinem Kummer zu erlösen. Sie hob ihn wider seinen Willen auf, denn er wollte durchaus auf den Knien bleiben wie ein Verbrecher, der um Gnade fleht. Sie legte die Strenge ab, mit der sie zum Schein ihre Blicke gewappnet hatte, und redete ihn mit dem sanftesten Tone an. ‚Komm‘, sprach sie, ‚komm, deine Dornenblüt wiederzusehen. Wenn du sie auch in ihrer gegenwärtigen Gestalt noch liebst, wenn die Zerstörung ihrer Schönheit deine Treue nicht wankend macht, wohlan, so lebe für sie, wie sie für dich leben wird.‘
Wer die Liebe nicht kennt, der hätte sich totgelacht über all das närrische Zeug, das Larifari in der ersten Aufwallung seiner Freude sagte und vornahm, als er Dornenblüt wieder am Leben sah. Er versicherte hierauf im Beisein des ganzen Hofes und nahm dabei Himmel und Erde zu Zeugen, daß er keiner anderen als Dornenblüt angehöre. Es war nun an ihr, diesen Entschluß zu bekämpfen und alle ihre Großmut aufzubieten, um ihn davon abzuwenden. Sie versicherte also auf das ehrlichste, daß sie ihn viel zu sehr liebe und ihm viel zuviel danke, um eine Aufopferung zuzugeben, wodurch er das glänzendste Glück und die schönste Prinzessin auf einmal verliere, daß sie sich ein Gewissen daraus machen würde, selbst wenn sie noch die schwachen Reize besäße, die sie nun verloren habe, und daß sie in ihrem gegenwärtigen Zustande lieber einen tausendfachen Tod erdulden als hierzu ihre Einwilligung geben wolle.
Während dieses Wortstreits der Großmut spielten die schöne Sonnenstrahl und der Kalif, ihr Vater, eine sehr mittelmäßige Rolle. Er wurde sich dessen bewußt und wendete sich an Serène. ‚Madame‘, sagte er, ‚das wäre nun alles ganz vortrefflich von beiden Seiten, wenn nur meine Tochter nicht mit dabei im Spiele wäre. Sie ist so schön und groß. Wollt Ihr denn, daß sie gar keinen Mann haben soll? Oder soll sie zeitlebens mit dem Vogel spielen, den Ihr ihr mitgebracht habt? So ein Papagei ist doch wirklich nicht der geeignete Umgang für eine Prinzessin.‘ Der gute Herr war im Zuge zu plaudern, und er hätte wohl von selbst nicht so bald aufgehört, aber die ehrwürdige Serène gebot der ganzen Versammlung Stillschweigen und bat vornehmlich den Kalifen, den Minister und den Hof um ihre ganz besondere Aufmerksamkeit. Es war etwas so Edles und Großes in ihrem Gebaren, als sie sprach, daß alles in ehrerbietigem Stillschweigen verharrte. Die Mohrin zitterte vom Kopf bis zu den Füßen.
Serène nahm der Prinzessin den Papagei von der Hand und setzte ihn in einiger Entfernung von sich auf die Erde. Sie berührte hierauf seinen Kopf mit ihrem Zauberstabe und zog einen weiten Kreis um ihn herum. In demselben Augenblick erhob sich ein dichter Nebel um ihn her, der ihn dem Auge entzog. Ebenso berührte sie Dornenblüts Stirn und zog einen Kreis um ihr Bett. Sogleich sah man sie in eine ähnliche Wolke gehüllt. Während die ganze Versammlung ihre Aufmerksamkeit auf dieses Schauspiel gerichtet hatte, trabte Klingklang rund um die Zuschauer herum. Der Ton ihrer Glöckchen war so harmonisch, daß man vor innigem Entzücken zu atmen vergaß.
Lob und Preis sei der erhabenen Kunst der Magier! Sie kommt dem Dichter zu Hilfe, den Knoten zu lösen und sein Märchen zu enden!
Solange Klingklang trabte, blieben die Wolken, welche den Papagei und Dornenblüt einhüllten. Auf einmal schlug Serène mit dem glänzenden Stabe, den sie in ihrer Rechten hielt, dreimal auf die Erde: Klingklang stand still, die Wolken zerflossen, und an der Stelle des Papageis sah man den schönsten und liebenswürdigsten Mann dastehen. Larifari erkannte ihn sogleich als seinen Bruder Phönix und schrie laut auf vor Erstaunen und Freude. Aber in dem Augenblick, da Phönix in seine Arme eilte, sah er sich nach Dornenblüt um und erblickte sie tausendmal schöner und reizender als selbst damals, da er sie zum ersten Male an dem Bach sah, und damals, als er sie mit so vielem Vergnügen im Schlafe betrachtet hatte.
Das Volk bezeigte sein Erstaunen durch ein lautes, verworrenes Geschrei, die Höflinge durch übertriebenen Beifall, und der Kalif vergoß Freudentränen. Sonnenstrahl betrachtete den verwandelten Papagei und fand, daß er bei seiner Metamorphose nicht verloren habe. Phönix schien für nichts anderes Augen zu haben als für sie. Der leidenschaftlich verliebte Larifari wollte sich zu Dornenblüts Füßen werfen. Seine Freude war übermäßig, und er brannte vor Begier, sie ihr zu bezeigen. Aber Serène hielt ihn zurück. Sie ergriff ihn bei der Hand und führte ihn zu seinem Bruder. Sie umarmten sich auf das zärtlichste. Jetzt faßte die Fee auch die Prinzessin bei der Hand und stellte sie den beiden Brüdern gegenüber. ‚Betrachte sie beide‘, sprach sie zu ihr. ‚Erwäge, was du dem einen schuldig bist, betrachte die Reize des anderen; aber vor allen Dingen befrage dein Herz über eine Wahl, welche dein Schicksal unwiderruflich macht, welchen von diesen beiden Prinzen du zum Gemahle willst, so wirst du keine unwürdige Wahl treffen können, und der, den sie trifft, wird dich nicht ausschlagen.‘ Larifari zitterte am ganzen Leibe, ob ihm gleich die Gegenwart seines Bruders Mut einflößte. Indes fragte Sonnenstrahl ihre Augen um Rat, und ohne zu zaudern, wählte sie den Schönsten.
Serène legte Dornenblüts Hand in die Hand Larifaris, und so war die Ehe geschlossen, denn damals bedurfte es nicht mehr. Und seitdem Ehen auf der Welt geschlossen worden sind, gab es keine vergnügteren Bräute und keine glücklicheren Prinzen.
Der Kalif, der bei all dem eine stumme Rolle gespielt hatte, war darum nicht der am wenigsten Vergnügte. Er befahl, alle Kanonen abzuschießen, an allen Ecken Freudenfeuer anzuzünden, auf dem Flusse und den öffentlichen Plätzen Feuerwerk zu machen, Spenden unter das Volk auszuteilen und aus den Brunnen Wein statt des Wassers fließen zu lassen. Die Anordnung der Lustbarkeiten des Hofes nahm er selbst auf sich, denn in der ganzen Welt gab es keinen Fürsten, der sich besser darauf verstand, eine Festlichkeit anzuordnen. Voll von diesen großen Ideen wollte er in den Palast zurückkehren, aber Serène sagte ihm, daß dieser Auftritt noch nicht beendet sei. Vorderhand sei erst die Tugend belohnt, aber sie merke, daß für den Stab der Wahrheit noch etwas zu tun übrig sei.
Bei der allgemeinen Freude, die alle Herzen erfüllte, hatte man die Seneschallin und ihre Vertraute ganz aus den Gedanken verloren. Die gerechte Serène vergaß sie jedoch nicht. Sie berührte ihre Stirn mit dem untrüglichen Stabe. Die Seneschallin erlitt dadurch weiter keine Verwandlung, als daß ihr die Schminke vier Fingerbreit von den Wangen, ebensoviel von der Stirn und noch zweimal soviel von dem Busen fiel. Es blieb nun nichts als ein altes runzliges Weib, das in seinem jugendlichen Kopfputze zum Totlachen aussah. Die Gestalt der Mohrin hingegen war ganz und gar verschwunden. Man erblickte die schreckliche Langzahn, die sich aus Rachsucht unter dieser Maske verborgen hatte. Dornenblüt empfand bei ihrem Anblick alle die Schrecken, die sie ihr ehemals eingeflößt hatte. Ihre Unruhe dauerte nicht lange. ‚Kalif‘, sprach Serène, ‚das Schicksal dieser Elenden ist in Euren Händen. Euch kommt es zu, das Urteil über sie zu fällen.‘ – ‚Meinetwegen‘, antwortete er. ‚Weil’s so sein soll, so will ich sie nicht lange warten lassen. Holt mir den Amtmann, das Halsgericht zu halten. Die Hexe da soll lebendig auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden, und die Seneschallin steckt ins Narrenhaus.‘
Bei diesem Ausspruch regte sich Mitleid in Dornenblüts gutem Herzen. Aber Larifari, der sich der Grausamkeiten gar wohl erinnerte, die sie an Dornenblüt verübt, und der die Ohrfeige noch fühlte, die sie ihr so ungerechterweise gegeben hatte, ließ das Urteil der scheußlichen Langzahn bestätigen. Die Seneschallin ward von niemand bedauert.
Während der Anstalten zur Exekution begab sich die ganze Versammlung auf das Schloß. Der Kalif gab vor allen Dingen Befehl zu einer Festlichkeit, dergleichen man noch nie erlebt haben sollte, ob er schon in diesem Stücke manche Proben seines Könnens gegeben hatte. Während nun der ganze Hof in der größten Bewegung war, um seine Befehle auszuführen, machte er der ehrwürdigen Serène die Honneurs des Hofes und führte sie unter anderem in einen prächtigen Saal, der kurze Zeit nach seiner Tochter Geburt vollendet worden war. Hier fand die Aufmerksamkeit Serènes eine würdige Unterhaltung, denn kaum hatte sie in ihrem eigenen Palaste etwas so Prächtiges und Wunderbares gesehen. Da der Kalif sah, daß sie diese Schönheiten bewunderte, sagte er zu ihr:
‚Glaubt ja nicht etwa, daß ich das alles ersonnen hätte. Ich muß Euch doch erzählen, was mir begegnete, als meine Frau schwanger war. Ich träumte, sie käme mit einem kleinen häßlichen Drachen nieder, der mir in dem Augenblick, da er auf die Welt kam, das Weiße aus den Augen fraß. Ich konsultierte die Weisen in meinem Lande über diesen Traum. Diese verloren sich in allen möglichen Auslegungen. Der eine sagte, ich würde einen Sohn bekommen, der mich vom Throne stoßen und mir die Augen ausstechen lassen würde; andere versicherten mir, es hätte soviel nicht zu bedeuten, er würde nur meinen Ruhm verdunkeln, ich weiß nicht, ob durch seine Tapferkeit oder durch seinen guten Kopf oder wie sonst. Mir war nur um die erste Auslegung bange. Endlich sagte mir der Allergeschickteste, mein Sohn würde mich um mein Leben und meinen Thron bringen, wenn ich nicht den Saal vor seiner Geburt baute. Er machte mir einen Riß dazu und ordnete es so an, wie Ihr hier seht. Ich muß ihm nachsagen, daß er sich’s recht angelegen sein ließ. Aber die Königin kam doch nieder, ehe er fertig war, und brachte meine Tochter zur Welt.
Ich war von Herzen froh, da ich statt des kleinen verwünschten Drachens von Sohn, den sie mir prophezeit hatten, ein allerliebstes kleines Mädchen bekam. Aber leider war sie nur allzu schön, wie wir in der Folge erfahren haben. Denn wenn Ihr und Larifari nichts getan hättet, so würden wir uns heute wohl nicht mit unseren Augen sehen … Apropos‘, fuhr er fort, ‚da Ihr doch alles wißt, wie kam’s denn, daß alle auf einen Prinzen rieten, und wozu war denn der Saal mit all dem Zierat nötig? Und was wollte denn überhaupt der ganze Traum sagen? Auf meine Tochter muß er allerdings einen Bezug gehabt haben, da etwas von Augen darinnen vorkommt.‘
‚Ich kann Euch diesen Aufschluß geben‘, sagte Serene. ‚Euer Traum war nur einfach ein Traum, Eure Traumdeuter Betrüger oder Ignoranten, und der Euch den Saal zu bauen riet, war ein Baumeister, der seinen eigenen Vorteil bei dem guten Rate suchte, den er Euch gab. Doch laßt uns wieder zu unseren Brautpaaren gehen, da sollt Ihr die näheren Umstände von der unglücklichen Augenkrankheit Eurer Prinzessin Tochter hören.‘
Die beiden Brüder hatten während dieser Zeit wenig Langeweile gehabt. Sie waren verliebt und von den liebenswürdigsten Personen ihres Geschlechtes erhört. Beide waren schön, doch beide auf eine andere Art. Sonnenstrahl überraschte mehr, aber Dornenblüt rührte mehr. Die Reize der einen blendeten, die Schönheit der anderen stahl sich tiefer ins Herz, und sooft man sie von neuem ansah, entdeckte man tausend neue Reize an ihr, die keinen Namen haben und die man besser fühlt als beschreibt.
Der schöne Phönix, der seinen Bruder zärtlich liebte und ihn mit Liebkosungen überhäufte, war eben im Begriffe, seine Neugierde über die mannigfaltigen Schicksale zu stillen, die ihm seit ihrer Trennung widerfahren waren, als der Kalif mit der weisen Seréne zurückkam.
Larifari bat sie um die Erlaubnis, daß sein Bruder seine Erzählung in ihrer Gegenwart fortsetzen dürfe. Sie baten nun selbst um diese Gefälligkeit, und Phönix hob folgendermaßen an:
‚Als wir uns trennten, der Prinz Fink und ich, um auf Abenteuer auszugehen …‘ – ‚Mit Eurer Erlaubnis‘, fiel der Kalif ein, ‚wer ist denn der Prinz Fink?‘ – ‚Ich, Sire‘, antwortete Larifari. ‚Ohne zu wissen warum, vertauschte ich diesen Namen mit demjenigen, unter welchem ich die Ehre gehabt habe, Euch vorgestellt zu werden, und den ich zeitlebens zu führen entschlossen bin, da mich die schöne Dornenblüt unter diesem Namen kennengelernt hat.‘ Er erzählte ihnen hierauf so viel von seinen Abenteuern wie zum Verständnis der Geschichte seines Bruders nötig war.
Als er bis zur Geschichte ihrer Trennung gekommen war, nahm Phönix wieder das Wort:
‚Wir waren also, wie mein Bruder Euch gesagt hat, übereingekommen, daß der, welcher sein Glück nicht im Auslande gefunden hätte, in sein Vaterland zurückkehren und den Thron in Besitz nehmen sollte. Ich tat hierauf in meinem Herzen sogleich Verzicht, und stolz auf die Vorzüge, die ich vor meinem Bruder zu haben glaubte, sann ich auf nichts weiter, als mit meiner Gestalt in der Welt herumzuziehen und mich begaffen zu lassen. Die ersten Eroberungen, die ich machte, befriedigten meine Wünsche nicht, und ich glaubte, am besten in Zirkassien auf meine Rechnung zu kommen, das man mir als das Land der Schönheiten beschrieben hatte.
Eine Königin herrschte in diesem Reiche seit dem Tode ihres Gemahls, mit dem sie vier Töchter gehabt hatte. Die Älteste davon, jetzt noch unmündig, war für den Thron bestimmt. Auf diese Nachrichten baute ich ein Projekt, das mir mein künftiges Glück sichern sollte. Dem Schicksal aber gefiel es anders. Es hatte mir einen schöneren Schatz aufgehoben. Kurz vor meiner Ankunft erfuhr ich von dem Unglück, in das die königliche Familie durch eine ganz unerwartete Revolution geraten war.
Ein gewisser kleiner Fürst hatte einige unbegründete Ansprüche bei dem Volke geltend zu machen gewußt. Er hatte den unruhigsten Teil desselben auf seine Seite gebracht, die Großen des Reiches bestochen und mit ihrer Hilfe sich so schnell in den Besitz der Oberherrschaft gesetzt, daß die Königin kaum so viel Zeit gehabt hatte, sich mit ihren Töchtern zu retten. Ich wollte bei einer so treulosen Nation nicht verweilen. Ich durchreiste das Reich in aller Geschwindigkeit, als man mich auf Befehl des Tyrannen anhielt, dem alle Fremden verdächtig waren, wie es gemeinhin üblich ist nach einer Usurpation. Man brachte mich vor ihn. Ich verbarg ihm weder meinen Namen noch meinen Stand, und man bereitete mir einen Empfang, den ich nicht erwartet hatte. Ich weiß nicht, was diesen Fürsten für mich einnahm, dessen Ehrgeiz Großmut und Artigkeit gewiß nicht waren. Er behielt mich länger an seinem Hofe, als ich wünschte, und man erzeigte mir hier dieselbe Ehre als ihm. Endlich bot er mir seine einzige Tochter zur Gemahlin an.
Diese Prinzessin schien mir ebensoviel Neigung zum ehelichen Stande zu haben, als ihre Figur die Freier zurückschreckte. Sie war noch mehr als häßlich. Ihre kleinen Augen hatten mir ihre guten Gesinnungen schon lange vorher zu erkennen gegeben, ehe mir ihr Vater einen förmlichen Antrag tat. Aber ich verabscheute die Verwandtschaft mit einem Usurpator und wies, ohne mich dessen rühmen zu wollen, seine Zwergin von Tochter mit ziemlichem Hochmut ab.
Ich reiste weiter. An der Grenze Zirkassiens führte mich der Zufall in ein altes Schloß, das zwar sehr prächtig gebaut, aber, wie es mir anfänglich schien, von niemand bewohnt war. Ich ging lange Zeit darin umher, ohne eine lebende Seele anzutreffen. Am Ende fand ich, daß sich jedermann sorgfältig eingeschlossen hatte und daß man mir aus dem Wege ging. Ich wunderte mich über diese unfreundliche Aufführung, und es kam mir seltsam vor, daß sie die Langeweile suchten, die sie leicht hätten vermeiden können, wenn sie sich etwas anders gegeneinander benommen hätten. Ich ließ mir indes die Mühe nicht verdrießen, jemand zu suchen, der mir dieses Rätsel erklären könnte, und kam in ein sehr sauberes Appartement, wo ich aber keine lebendige Seele fand. Indes lagen Karten und Spielmarken auf einem Tisch, um welchen Stühle gestellt waren. Einen Augenblick darauf kamen vier Elstern ins Zimmer. Jeder folgte ein Star, der ihr den Schwanz trug. Eine sehr ernsthafte Krähe begleitete sie. Die Elstern machten mir ein sehr höfliches Kompliment und setzten sich zum Spiele nieder. Die Krähe zog ihre Arbeit hervor …‘
Dornenblüt und Larifari, die während dieser ganzen Erzählung kein Auge voneinander gewendet hatten, stießen sich an, als Phönix auf die Elstern zu sprechen kam. Sonnenstrahl, die den schönen Phönix unverwandt ansah, machte eine leichte Bewegung mit dem Kopfe, als wenn sie an der Wahrheit dieses Abenteuers zweifelte. Serène lächelte über diese Begebenheit, die ihr nicht unbekannt war, aber der Kalif hielt sich den Bauch vor Lachen. ‚Ja, ja‘, sagte er, ‚mein Herr Schwiegersohn, man sieht, daß Ihr gereist seid. Ich lasse mir noch gefallen, daß den Elstern die Schwänze nachgetragen werden, aber Elstern, die Karten spielen? Ha, ha, ha!‘
Phönix beharrte auf der Wahrheit dieser Geschichte. ‚Ich sah ihrem Spiele lange zu‘, fuhr er fort, ‚aber ich begriff nichts davon. Wahrscheinlich war es ein Spiel, das nie von jemand anders als von Elstern gespielt worden ist. Auf einmal sprang eine kleine muntere Elster auf den Tisch und schrie ein Wort, das mir entfallen ist. Ich weiß nicht, wie ich das Wort habe vergessen können, denn die anderen wiederholten sich bald heiser daran. Die ernsthafte Krähe sprach es langsam nach, und bis zu den kleinen Staren, die die Lichter putzten, repetierten alle das Wort im Chore. Mir taten die Ohren weh davon. Ich verließ das Zimmer, ohne zu wissen, ob ich träumte oder ob ich alle diese Wunderdinge wirklich gesehen hatte.
Ich hatte von dem Königreich Kaschmir reden hören. Man erzählte mir, daß in dem schönsten Lande die schönste Prinzessin von der Welt lebe. Ich eilte, mich dahin zu begeben. Die Gefahr, die man bei dem Anschauen ihrer Augen laufen sollte, schreckte mich nicht ab. Was kann denn da für Gefahr dabei sein, sagte ich zu mir selbst, als von ihnen verwundet zu werden und bei ihrer Betrachtung zu sterben, wenn man keine Gnade vor ihnen findet. Die Erzählungen von dem Gifte ihrer strahlenden Augen, von denen man mir die wunderbarsten Beschreibungen machte, sah ich als Märchen an, die man zur Kurzweil ersonnen hatte. Und wenn auch alle die tragischen Begebenheiten wahr wären, die man von ihnen erzählt, sagte ich bei mir selbst, dir wird das süße Gift dieser Augen nicht schaden. Phönix wird dem Glanze der Schönheit nicht unterliegen. Meine Eitelkeit war geweckt. Wohlan, fuhr ich fort, ich will sie sehen und alle die eingebildeten Gefahren besiegen, die sie umringen. Wird sie weniger wagen, wenn sie mich sieht? Wird sie nicht die Gefahr teilen, in die ich mich um ihretwillen stürze?
Ich tue Euch hier, schöne Sonnenstrahl, das Geständnis meiner lächerlichen Eitelkeit, um mich durch die Scham, die ich dabei fühle, selbst dafür zu bestrafen. Eine geheime Sympathie zog mich zu Euch. Aus Begierde, Euch zu sehen, vergaß ich alle Vorsicht, die man mir auf der Reise empfohlen hatte. Tausend Gefahren drohten mir, würde ich den unrechten Weg wählen. Ich lachte über die Erzählungen, die man mir von der Hexe Langzahn und ihrem Aufenthalt machte; und da der Weg, auf dem sie wohnen sollte, der kürzeste war, so besann ich mich keinen Augenblick, ihn zu wählen, was ich aber bald bereute. Jedermann, dem ich begegnete, warnte mich. Ich ließ mich jedoch durch nichts aufhalten. Ich durchreiste verlassene Gefilde und überstieg die fürchterlichsten Felsen. Nach tausend überstandenen Gefahren drang ich in einen Wald ein, wo mir Scharen von Ungeheuern den Weg versperrten.
Ich beschloß, mich zu wehren. Greifen schwebten über meinem Haupte, Hydren und Leoparden umringten mich. Ich zog meinen Degen und griff sie an, ich verwundete einige von meinen Feinden, und nach einem langen Kampfe, in dem sich meine Kräfte erschöpften, fühlte ich mich in die Höhe gehoben, ich weiß selbst nicht, wie. Jetzt bemerkte ich, daß man mich lieber zum Gefangenen hatte machen wollen, als mich zu töten. Ich sank in einen ganz artigen Garten nieder, worin die Hexe Kräuter sammelte. Aus diesen Kräutern wollte sie einen schrecklichen Zaubertrank bereiten, unter welchen das warme Blut eines frisch geschlachteten Menschen gemischt werden mußte. Ich erfuhr dies erst später, während der Zeit meiner Verwandlung; und dies war die Ursache dafür, daß mich die Greifen lebendig zu ihren Füßen niedersetzten. Ihre Gestalt war fürchterlich, aber die meinige fand Gnade in dem grausamsten und unerbittlichsten Herzen, das je in einer menschlichen Brust geschlagen hat. Ich bemerkte es und erfuhr bald genug, um welchen Preis ich mein Leben erkaufen könne. Sie sagte mir, daß sie mich, wenn ich sie heiraten wolle, nicht nur mit ihrer Person beglücken, sondern mich überdies in den Besitz unschätzbarer Güter setzen wolle. Wo nicht, so würde ich heute das Licht des Tages zum letzten Male gesehen haben. Um mir Zeit zu geben, meinen Entschluß zu fassen, verließ sie mich auf der Stelle, ohne meine Antwort abzuwarten.
Ich hatte zwar wenig Lust zu sterben, aber doch schien es mir leichter und ehrenwerter, diesen Ausweg zu wählen als den anderen. Wenn ich ihre Hand ausschlage, sagte ich mir, werde ich hier in der Tat auf eine sehr rühmliche Art sterben. Und wenn ich sie annehme? Ein schönes Glück, um so weit darnach zu reisen! Ich hätte mir also vergeblich mit der Hoffnung geschmeichelt, der göttlichen Sonnenstrahl zu gefallen, ihr, deren Blicken noch kein Sterblicher widerstand. Ich hätte umsonst nach dem Ruhme gestrebt, der ihrige zu sein, um mich am Ende in der grausamen Notwendigkeit zu sehen, entweder der Mann einer abscheulichen Hexe zu werden oder unrühmlich in diesem Winkel der Erde zu sterben, wo mich niemand suchen, niemand etwas von mir erfahren wird.
Ich mochte meinen Zustand betrachten, von welcher Seite ich wollte, er war sehr unangenehm. Ich ging im Garten auf und ab und fand ihn bezaubernd. Ich erblickte die schönsten Früchte von der Welt und vornehmlich Feigen, die mir köstlich schienen. Ich liebte diese Frucht. Ich brach einige der schönsten ab, und kaum hatte ich dies getan, als ich meine Unruhe vergaß. Ich verzehrte sie und schlief ein. Bei meinem Erwachen war ich in einen Vogel verwandelt. Die Hexe, die mich mit ihrem Geschrei aufgeweckt hatte, saß neben mir und tat wie unsinnig über eine Verwandlung, die ihren Absichten ganz und gar nicht angemessen war. Sie schob die Schuld auf Dornenblüt, ohne doch zu wissen, warum. Sie schwor, sie dafür zu bestrafen. Ich hörte ihre Klagen und ihre Drohungen; doch ich muß gestehen, dieser Zufall kam mir so außerordentlich vor, daß ich mir noch immer schmeichelte, es sei ein Traum. Ich erwartete mit Ungeduld, daß mein Erwachen mich von diesen fürchterlichen Vorstellungen befreien sollte. Ich wartete vergebens.
Die Hexe nahm mich auf die Hand und machte alle nur möglichen Liebkosungen, die man einem Vogel machen kann. Sie suchte mich zu trösten. Sie bat mich, Geduld zu haben, und sagte mir, daß sie in acht bis zehn Tagen eine gewisse Mischung fertig haben werde, mit der sie mir meine vorige Gestalt wiedergeben wolle, daß ich mich aber in acht nehmen solle, in dieser Zeit Salz zu fressen, wenn ich etwa von ungefähr welches finden sollte. Nach diesen Worten pflückte sie eine Menge Kräuter, die ich nicht kannte, und ließ mich in dem Garten zurück. Meine Bestürzung war unbeschreiblich, als ich meines Schicksals gewiß war. Ich wollte mein Unglück beweinen, aber anstatt auszurufen: »Unglücklicher Phönix!« rief ich: »Liebes Papchen!« Und statt all der Klagen und Exklamationen, die mir auf der Zunge lagen, konnte ich nichts hervorbringen als die Impertinenzen, die man die Papageien zu lehren pflegt. Ich war darüber so bekümmert, daß ich beschloß, gar nicht zu sprechen.
Da ich die Erlaubnis hatte, im Garten herumzufliegen, sah ich vom Gipfel eines Baumes das Haus der Hexe; aber sooft ich darauf zufliegen wollte, versagten mir die Flügel den Dienst, und ich glaubte, daß es ganz vergebens sei, diesen Versuch zu Fuß zu machen. An alle anderen Orte der ganzen Gegend konnte ich fliegen, soviel ich wollte. Ich bediente mich dieser Freiheit, und auf einer dieser Promenaden sah ich eines Tages eine Frau aus einer elenden Hütte kommen. Sie hatte einen kleinen Sack unter dem Arm und setzte sich an das Ufer eines kleinen Baches. Hier wusch sie einige Fische, die sie in einem Korbe hatte, und salzte sie ein. Jetzt erinnerte ich mich, daß mir die Hexe verboten hatte, Salz zu fressen, und ich bildete mir ein, sie habe dies aus Furcht getan, ich möchte meine vorige Gestalt dadurch wiederbekommen. Ich setzte mich neben der Frau auf die Erde. Sie fand mich schön und hielt mich für zahm. Ich hüpfte vor ihr her, und nachdem sie mich eine Zeitlang gejagt hatte, nahm ich ihr den Sack mit Salz weg und erhob mich schnell in die Luft. Ich verbarg meine Beute in einem Busch und eilte in den Garten der Hexe zurück. Denn für diesmal wagte ich nicht, länger draußen zu bleiben, um ihr keinen Verdacht einzuflößen. Den folgenden Tag aber war die Sonne noch nicht aufgegangen, als ich mich schon wieder im freien Feld befand.
Dies war der Tag, an welchem ich meinen geliebten Bruder sah. Mein Erstaunen war meiner Freude gleich. Ich wünschte nichts mehr, als daß er mich fangen möchte, aber statt dessen sah er mich voll Verwunderung an. Nun eilte ich, die Wirkung des Salzes zu versuchen, das ich in dem Busche verborgen hatte. Er glaubte, es könnte mir Schaden tun, und ich meinerseits wollte ihn vor der Gefahr warnen, in der er sich in der Nähe der Hexe befand. Aber anstatt zu reden, erhob ich ein lautes Gelächter. In diesem Augenblick sprach er meinen Namen aus, um mir zu schmeicheln. Ich wollte antworten. »Ja«, wollte ich sagen, »ja, ich bin dein Bruder Phönix.« Aber statt dessen konnte ich nichts sagen als: »Larifari«, und ich fühlte etwas in mir, das mich zwang fortzufliegen, so ärgerlich es mir auch war.
Zwei Tage lang schwebte ich in der schrecklichsten Ungewißheit, was aus meinem Bruder Fink geworden wäre. Am Ende derselben hörte ich in dem Garten das fürchterliche Geschrei der Hexe. Du, mein liebster Bruder, für den ich alles gefürchtet hatte, warst die Ursache ihrer Verzweiflung. Du hattest ihr ihre Schätze geraubt und ihrem Zorn die Waffen genommen; denn die ganze Kraft ihrer Zaubermittel bestand in dem Hut und der Stute Klingklang, in deren Besitz du warst. Jetzt war es mir erlaubt, mich ihrem Haus zu nähern, bei welchem ich gerade ankam, als sie vom fruchtlosen Nachsetzen zurückkehrte. In einer alten Eiche verborgen, welche nahe bei dem Stalte stand, war ich Zeuge ihrer Wut und ihrer Verzweiflung. »Wenigstens«, schrie sie, »werde ich mich zur Hälfte rächen und die verfluchte Dornenblüt wegen ihres Verrates strafen können. Der Räuber, der sie verführt hat, um mich zu betrügen, hat sie unter dem Heu stecken lassen, wo sie sich ihm überlassen hat. Meine Rache wird sie verfolgen.«
Mit diesen Worten ging sie in den Stall, wo sie durch Dornenblüts Kopfzeug, das Langzähnchen trug, getäuscht worden war. Langzahn gab sich nicht die Mühe, die Sache näher zu untersuchen, und Langzähnchen war nicht imstande, nur ein einziges Wort zu sprechen, um seine Mutter ihrem Irrtum zu entreißen. Sie steckte den Heuhaufen in Brand und schloß die Stalltüre zu, so bange war ihr, das unglückliche Opfer ihrer Rache möchte entkommen. Nun eilte sie in ihr Haus, um den einzigen Trost, der ihr in ihrem Unglück noch übrigblieb, aufzusuchen. Auch dieser Trost war ihr versagt. Ich saß noch in meiner Eiche, wo ich mich versteckt hielt und wo ich auf einmal das schreckliche Heulen ihres Söhnchens hörte, welchem die Flammen den Gebrauch der Stimme wiedergaben, als das Heu anbrannte, mit dem man ihm den Mund zugestopft hatte.
Die Hexe hatte nichts in ihrem Hause gefunden, und sie fing an, ein neues Unglück zu fürchten. Sie kam nach dem Stalle zurück, der schon in vollen Flammen stand. Sie öffnete die Tür und sah mitten in dem Feuer und Rauch ihre süße und einzige Hoffnung desselben Todes sterben, den der Himmel auch der Mutter zugedacht hatte. Das Geschrei, das sie bei diesem Anblick erhob, war so entsetzlich, daß die Eiche, in der ich saß, davon erbebte, und so stark, daß der Zahn, der ihr aus dem Munde gewachsen war, fünfzig Schritt weit weg flog und in tausend Stücke zersprang. Jede andere hätte diesen Verlust eben nicht sehr beklagt, aber sie geriet darüber in neue Wut. »So ist es denn aus mit mir?« schrie sie. »Alle meine Kräfte verlassen mich. Noch bleibt mir die List.« Mit diesen Worten lief sie in ihr Haus, und ich verließ meine Höhle, um mich während ihrer Abwesenheit zu retten. Ich flog so schnell, als ich konnte, und beim Anbruch der Nacht fand ich den Busch, wo ich meinen Sack mit Salz verborgen hatte. Ich fing an zu hoffen, daß mich die Hexe nun nicht wiederfinden würde. »Dem Himmel sei Dank«, sagte ich, »endlich bin ich von der grausamen Notwendigkeit befreit, zwischen dem Tode und dieser Hexe zu wählen. Aber das wäre denn auch alles, und ich bin zum Papagei verdammt bis an das Ende meines Lebens.«
Ich würde nicht fertig werden, wenn ich Euch alles erzählen wollte, was ich auszustehen hatte, ehe ich in das glückliche Land kam, wo meine Leiden endigen sollten. Oft war ich dem Hungertode nahe, indem ich durch Einöden flog, wo ich keine Früchte fand. Überdies war ich nicht gewohnt zu fliegen, und ich konnte nur sehr kleine Tagereisen machen. Wer mich sah, lief mir nach, um mich zu fangen. Die Gipfel der Bäume waren meine einzige Zuflucht, und auch da war ich nicht sicher vor den kleinen Jungen, die mit Steinen nach mir warfen oder mir nachkletterten.
Endlich gelangte ich in diese zauberischen Gegenden. Die schreckliche Langzahn war mir gefolgt, ohne daß ich es gemerkt hatte. Sie unter der Gestalt zu suchen, die sie angenommen hatte, fiel mir nicht ein. Sie langte kurze Zeit nach mir an der Grenze von Kaschmir an und folgte mir allenthalben, ohne sich das mindeste merken zu lassen. Die Aufmerksamkeit, die sie mir zu schenken schien, nahm mich nicht wunder, da ich gewohnt war, daß mich jedermann anstaunte, der mich sah. Ich wußte mich in Sicherheit zu setzen, wenn man mir gar zu nahe kam. Ich befand mich nun in einem Lande, wo hundert Millionen Papageien wie die Könige hätten leben können, aber ich hatte Ursache, mit meinem Schicksal unzufrieden zu sein. Ich wußte nicht, was aus mir werden würde, und ich verfiel von Zeit zu Zeit in eine tiefe Schwermut. Sie bemerkte es, und als ich einstmals ganz betrübt auf einem hohen Baume saß, sah sie mich mit teilnehmenden Blicken an. »Es ist doch jammerschade«, sagte sie, »daß ein so schöner Papagei in der Irre herumfliegen soll! Ganz gewiß gehört er irgendeinem König oder einer Schönen, die nun über seinen Verlust verzweifelt ist. Vielleicht ist er gar Eigentum der Schönsten der Schönen. Doch wenn er der Prinzessin Sonnenstrahl angehörte, hätte er gewiß niemals die Freiheit dem Vergnügen, sie zu sehen, vorgezogen. Wäre er nicht gar zu wild«, fuhr sie fort, als sie sah, daß ich immer tiefer herabhüpfte, um sie zu hören, »wäre er nicht gar zu wild, so könnte man ihn fangen und der schönen Sonnenstrahl das schönste Geschenk damit machen, das im ganzen Königreiche ihres Vaters gefunden werden könnte. Welch ein Glück für ihn, wenn die schönste Prinzessin der Welt Vergnügen an ihm fände! Und welcher Sterbliche würde nicht mit Freuden sein Los mit dem Lose eines Papageis vertauschen wollen, der täglich Reize sehen würde, welche die Schönen den Vögeln nicht zu verbergen pflegen.«
Wie gut wußte die schlaue Langzahn, mit wem sie sprach! Ich war so bezaubert, daß sie nur die Hand auszustrecken brauchte, um mich zu fangen. Ich hüpfte ihr am Ende ihrer Rede von selbst darauf. Ich bemerkte nur allzubald, daß ich zu leichtgläubig gewesen war. Mein Leben stand auf dem Spiel. In dem Augenblick, da ich in ihrer Gewalt war, verwandelte sich ihr ganzes Gesicht. Ihre Augen schienen zu funkeln. Sie hielt mit der einen Hand meine Füße zusammen und streckte die andere zweimal aus, um mir den Hals umzudrehen. Diese Wut war mir unerklärlich, und ich habe dieses Rätsel nicht eher lösen können, als bis uns Serènes Stab die schreckliche Langzahn unter der Gestalt dieser Negerin gezeigt hat.
Indes widerstand sie zu meinem großen Glücke den ersten Regungen ihrer Wut und Rache. Sie fand ihren Vorteil dabei, mich zu schonen, und brauchte nun alle Vorsorge, daß ich ihr nicht entwischen konnte, bis wir an den Hof kamen. Dieser Tag war der Anfang meines Glückes. Meine Papageienaugen ertrugen das tödliche Feuer aus den Augen der göttlichen Sonnenstrahl, und durch einen mir unbekannten Zauber schützte ich auch andere vor der Gefahr. Leute, die sie sonst nicht auf fünfzig Schritt weit anzusehen gewagt hätten, nahmen mich auf die Hand und betrachteten sie so nach ihrem Gefallen.
Ich will nichts von der Seligkeit sagen, die ich bei allen den unschuldigen Schmeicheleien empfand, die sie mir machte. Bei tausend Gelegenheiten, deren nähere Umstände ich verschweigen möchte, erfuhr ich das Glück, das mir die Hexe versprochen hatte. Als Papagei ward ich reichlich für all den Abscheu bezahlt, den mir die Zärtlichkeit der Hexe eingeflößt hatte. Unter dieser Gestalt gefiel ich den schönsten Augen von der Welt, und ich wäre überglücklich, wenn ich unter der Gestalt, die ich wiederbekommen habe, ihre Liebe ebensosehr verdienen könnte.‘
Hier hörte der schöne Phönix auf zu reden. Obgleich die reizende Sonnenstrahl gegen das Ende seiner Erzählung mehr als einmal hatte erröten müssen, versicherten ihm doch ihre schönen Augen, daß er bei seiner willkommenen Verwandlung gar nichts verloren hab.

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