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Märchenbasar

Dornenblüt

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Der Kalif fand die Abenteuer seines Schwiegersohnes lustig genug. Er wußte ihm Dank, daß er die kleine bucklige Prinzessin von Zirkassien nicht hatte nehmen wollen. ‚Aber‘, fuhr er fort, ‚mein Herr Phönix, Hand aufs Herz, wenn Ihr nicht glücklicherweise ein Papagei geworden wäret, hättet Ihr nicht lieber die Hexe, ihre Mutter, Großmutter und alle Langzähne in der Welt geheiratet, als Euch so für nichts und wieder nichts abschlachten zu lassen? Ich bin doch auch sehr delikat, aber mit dem Leben ist nicht zu spaßen. Nun, wir wollen nicht weiter davon reden, was ihr getan hättet. Ich hoffe wenigstens, daß das Königreich Kaschmir, das Ihr bekommen sollt, wenn ich’s nicht mehr haben will, und die Hand meiner Tochter, die Ihr gleich jetzt bekommt, Euch für den Korb entschädigen sollen, den Ihr der Infantin von Zirkassien gegeben habt. Euer Bruder Fink tut zwar keine so reiche Heirat wie Ihr, aber er sieht mir so zufrieden aus mit seiner Frau und Schwiegermutter, daß er Euch schwerlich beneiden wird. Mit seiner Geschicklichkeit, seinem kleinen Lande und dem, was ihm Serène nach ihrem Tode hinterläßt, wird er sein bequemes Auskommen haben.‘
Die bescheidene Dornenblüt, die, ohne Eitelkeit, Erbin der ganzen Erde hätte sein mögen, errötete bei den Worten des Kalifen. Sie schämte sich nicht, ihr Leben einer so erhabenen Dame, als Serène es war, zu verdanken, aber es machte sie niedergeschlagen, daß man alle Vorteile und Schätze, mit denen Sonnenstrahl ihren Gemahl beglückte und die Larifari um ihretwillen ausgeschlagen hatte, so undelikat in ihrer Gegenwart aufzählte.
Serène sah ihre Verlegenheit und erriet ihre Gedanken. Sie bat daher die Gesellschaft um geneigtes Gehör und hob folgendermaßen an:
‚Kalif von Kaschmir‘, sagte sie, ‚Larifari hat keine Ursache, seinen Bruder wegen des Glückes, das ihm lacht, zu beneiden. Ihr habt gesehen, welchen Vorzug er Dornenblüt gab, als sie alle ihre Reize verloren hatte und nichts von ihr mehr übrig war als ihr Schatten. Ihrem Andenken opferte er die reizende Sonnenstrahl in allem ihrem Glanze auf. Urteilt selbst, ob er in seiner jetzigen Lage unglücklich sein kann. Ihr werdet Euch hiervon noch mehr überzeugen, wenn ich Euch einige Aufklärung über Dornenblüts Geschichte gebe. Serène ist nicht die Schwester der verabscheuungswürdigen Langzahn. Dornenblüt ist nicht Serènes Tochter. Hört also ihre und meine Geschichte:
Zwischen dem Tigris und dem Euphrat erstreckt sich eine unermeßliche Ebene, welcher kein Land an Fruchtbarkeit gleichkommt als das Königreich Kaschmir. Mein Vater beherrschte diese Gefilde. Unter allen Sterblichen war er am tiefsten in die Geheimnisse der Natur eingedrungen. Aber während er sich lediglich seinen Nachforschungen überließ, war er unbekümmert um die Regierung seiner Staaten und den Lauf der politischen Angelegenheiten, um sich einzig und allein mit dem Lauf der Gestirne zu beschäftigen.
Sein Land, von den zwei größten Strömen der Erde bewässert, war so reich, daß seine Untertanen reicher wurden, als ihnen guttat. Die Mächtigsten unter ihnen fingen bald an, ihre Kräfte zu spüren und die Schwäche des Monarchen zu erkennen. Jeder machte mit seinen Besitzungen, was er wollte, und der König war darüber nicht im mindesten unruhig, sondern war am Ende froh, sich von einem Lande befreit zu sehen, das keine Berge hatte; denn Berge brauchte er, um sich in den Kenntnissen, die ihn so teuer zu stehen kamen, zu vervollkommnen. Er verließ seine Staaten. Während er von Berg zu Berg zog und sich mit der Betrachtung des Himmels beschäftigte, setzten sich seine Vasallen ruhig in den Besitz dessen, was er auf der Erde verlassen hatte. Diese Neuigkeit war nicht imstande, ihn zu rühren. Aber was der Ehrgeiz nicht vermocht hatte, das vermochte die Liebe, die ihre Macht an einem Manne offenbaren wollte, der sich in die Betrachtung der erhabensten Dinge vertieft hatte.
Ich weiß nicht, welcher Zufall ihn von dem Gipfel seiner Berge nach Zirkassien herabführte. Hier empfand er zum ersten Male etwas, das er bei seinen ehemaligen Beschäftigungen nicht gefühlt hatte, und er fing an, für sterbliche Schönheit empfindlich zu werden. Er ward verliebt, und die schönste Zirkassierin empfing die Hand eines Prinzen, der seiner Länder beraubt war.
Ich weiß nicht, ob sie dieser Entschluß nicht bald gereute. Mein Vater, statt darauf zu sinnen, seßhaft zu werden, eilte auf seine Berge zurück. Seine Gemahlin war entsetzt über dieses Betragen, das es bei einer Heirat aus Neigung nicht hätte geben dürfen. Dennoch wollte sie ihm folgen, und sie schlugen ihre Wohnung in demselben Gebirge auf, über welches Dornenblüt mit ihrem Geliebten in dieses Königreich gekommen ist.
Der Teil des Gebirges, den sie bewohnten, war rundum mit schrecklichen Felsen und Klüften umgeben. Hier fing mein Vater an, in den Eingeweiden der Erde zu wühlen, nachdem er alles erschöpft hatte, was der menschliche Geist in den Regionen des Himmels lernen kann. In kurzer Zeit war er mit der wundervollen Arbeit zu Rande, die so manchen soliden Mann zum Schwärmer gemacht und so manchen soliden Reichtum verzehrt hat, um einem eingebildeten Gute nachzulaufen. Die Entdeckung dieses Geheimnisses führte ihn auf den Gipfel der Vollkommenheit. Es blieb ihm nichts mehr zu wünschen übrig. Er verwandelte alle Metalle in Gold, und alle unsichtbaren Mächte der Elemente folgten seinen Befehlen. Mit ihrer Hilfe baute er sich in diesem Gebirge einen Palast, in welchem die gewöhnlichsten Dinge von Golde glänzten und von Edelsteinen strahlten.
In dieser neuen Wohnung kam ich zur Welt, und ein Jahr darauf kam meine Mutter noch mit einer zweiten Tochter nieder. Ich hatte die Neigung meines Vaters für die geheimen Wissenschaften geerbt, und er liebte mich mit aller Zärtlichkeit, so wie meine Schwester, die weit schöner war als ich, der Liebling ihrer Mutter war. Unser Palast war zwar der prächtigste von der Welt, aber meiner Mutter und Schwester war das nicht genug. Sie fühlten Langeweile in ihrer Einsamkeit. Die eine wünschte ihr Vaterland wiederzusehen, und die andere brannte vor Begierde, eine Reise in die fruchtbaren Gefilde zwischen dem Tigris und Euphrat zu machen, welche ihr Vater verlassen hatte, um in eine Einöde zu ziehen, wo sie vor Langerweile starb.
Sosehr sie sich auch in acht nahmen, ihren Wunsch zu äußern, so sah mein Vater doch gar wohl, was in ihren Herzen vorging. Er kam ihnen sogar zuvor und bot ihnen das an, um das sie nicht zu bitten wagten. Sie machten zwar viele Umstände. Sie wollten ihn nicht verlassen, aber desungeachtet reiste meine Mutter nach Zirkassien, und meine Schwester begleitete sie, beide weit vergnügter in ihrem Herzen, als sie beim Abschied scheinen wollten. Auf das Geld und die Kosten kam es einem Manne nicht an, der den Stein der Weisen besaß. Die Equipage, mit der meine Mutter in ihrem Vaterlande ankam, machte dem früheren Glücke ihres Gemahls Ehre.
Der König von Zirkassien sah meine Schwester und gestand ihr den Vorzug vor allen Zirkassierinnen zu. Die Schönen gerieten in Verzweiflung, da sie sahen, daß eine Fremde ihnen ein Herz raubte, um das sie sich vergeblich gestritten hatten. Einige bekamen die Gelbsucht vor Neid, andere platzten vor Ärger, aber meine arme Mutter starb vor Freude.
Mein Vater erfuhr diese beiden Neuigkeiten auf einmal und betrug sich dabei als ein wahrer Philosoph. Was mich betrifft, so gestehe ich, daß die Zufriedenheit über das Glück meiner Schwester sehr viel dazu beitrug, mich über den Tod meiner Mutter zu trösten. Meine einzige Sorge war nun, mich in den geheimen Wissenschaften zu vervollkommnen, in denen ich starke Fortschritte machte. Meine Neigung zu ihnen wuchs in ebendem Maße, in dem sich meine Kenntnisse mehrten. Als mir endlich mein Vater alles mitgeteilt hatte, was ich zu fassen imstande war, hielt er für gut, sich sterben zu lassen, um in einer anderen Welt Aufklärung über gewisse Punkte zu suchen, die ihm bis jetzt noch dunkel geblieben waren. Er ließ sich sterben, sage ich, denn mit seinen Geheimnissen hing es nur von ihm ab, so lange zu leben, als er wollte.
Ich erbte einen Teil seiner Schätze und Kenntnisse, aber das Kostbarste von allem, was er mit hinterließ, ist der Stab, den Ihr hier seht. Er ist aus allen geheimen Kräften und Talismanen der ganzen Natur zusammengesetzt. Durch ihn gebiete ich den Elementen und entdecke die Wahrheit von allem. Ein Teil der Zukunft ist mir gegenwärtig, und das Vergangene rufe ich zurück.
Mein Vater hatte mir verboten, bis auf den Gipfel des Gebirges zu steigen, das wir bewohnten. Bisher hatte ich nicht die mindeste Lust dazu gehabt, aber von dem Augenblick an, da er es mir verbot, konnte ich nicht eher ruhen, bis ich diese Neugierde gestillt hatte. Sobald er die Augen geschlossen hatte, machte ich mich auf den Weg. Von hier aus sah ich mit Erstaunen die zauberischen Ebenen des glücklichen Kaschmirs. Ich beschloß, hier zu wohnen, und ließ einen Teil der Schätze, mit denen mein Vater die Höhlen des Gebirges angefüllt hatte, hierher schaffen. Damit aber der allzu häufige Zuspruch der Neugierigen oder derer, die mich um Rat fragen wollten, meine Ruhe nicht störe und mich an meinen Arbeiten hindere, machte ich meine Wohnung für jeden, den ich nicht haben wollte, unzugänglich. Hier genoß ich nun alle Glückseligkeit, welche die Ruhe des Geistes dem Menschen gewähren kann. Weit entfernt, meiner Schwester den Glanz auf dem Throne von Zirkassien zu neiden, pries ich mich glücklich in dem Genusse des seligen Friedens, der mein Herz erfüllte und den nichts störte als meine Sorge für ihr Wohl.
Sie ward Mutter von drei Töchtern. Als sie mit der dritten niederkam, fragte ich meine Bücher über ihr Schicksal um Rat und erfuhr, daß sie keine Kinder mehr bekommen, daß der König bald sterben und sie als Verweserin des Reiches zurücklassen würde. Ich stellte hierauf das Horoskop der Töchter und fand, daß die Älteste von ihnen von irgendeinem Unglück bedroht wurde. Ich gab mir alle Mühe, die näheren Umstände davon zu erfahren, aber umsonst. Nur so viel entdeckte ich, daß eine feindliche, mir beinahe gleiche Macht sie verfolgen würde. Ich fragte meinen Stab um Rat und setzte die Spitze desselben auf ein Pergament, das ich auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Hier zeichnete er mir von selbst die schreckliche Gestalt der Hexe Langzahn, beschrieb mir die Lage ihrer Wohnung, ihre Zaubermittel und Neigungen. Mit Abscheu erfuhr ich, daß das häßlichste von allen Geschöpfen noch mehr Hang zur Liebe als zum Hasse und zur Grausamkeit hatte, daß sie alle ihre Kunst anwende, Männer in ihre Netze zu locken und daß der Tod der einzige Weg sei, ihrer fürchterlichen Liebe zu entgehen. Zu gleicher Zeit aber entdeckte ich mit tiefem Kummer, daß alle meine Macht und meine Zaubermittel nichts gegen die ihrigen ausrichten würden, solange sie in dem Besitze der Stute Klingklang und des leuchtenden Hutes sei. Mein Stab sagte mir ferner, daß sie einen Sohn habe, der ungefähr im gleichen Alter wie die älteste Tochter meiner Schwester sei, und ich vermutete mit gutem Grund, daß sie die Absicht habe, die Erbin von Zirkassien für ihren Sohn zu rauben. Ich beschloß, sie in meinen Schutz zu nehmen, und meine Schwester schickte sie mir heimlich. Diese Vorsicht bewirkte das Gegenteil von dem, was ich beabsichtigte. Beinahe in demselben Augenblick, da man sie mir übergab, riß sie die Hexe aus meinen Armen. Ich gab zwar allenthalben vor, sie sei meine Tochter, aber Langzahn war so leicht nicht zu betrügen. Alle meine Wachsamkeit war nicht hinreichend, sie zu schützen. Ja, Kalif von Kaschmir, diese nämliche Dornenblüt, die Ihr hier vor Euch seht, die zu verbrennen Ihr es so eilig hattet, ist die Erbin des Königreiches Zirkassien. Sie wurde mir entführt, ich weiß selbst nicht, wie; aber weder meine Kunst noch alle Mächte der Welt wären imstande gewesen, sie aus den Klauen der Hexe zu retten, wenn Larifari es nicht unternommen hätte. Diesen Ruhm hatte das Schicksal dem sinnreichsten und getreuesten Liebhaber aufgespart. Ich wußte, daß nur derjenige Meister der Stute und des Hutes werden konnte, welcher diese beiden Eigenschaften im höchsten Grade besaß, aber ich wußte nicht, wo ich einen Mann von diesem Charakter finden sollte.
Um diese Zeit kam Sonnenstrahl zur Welt. Ich fragte meine Bücher über ihre Geburt um Rat, und sie lehrten mich, was einst von ihrer Schönheit zu hoffen sein würde. In dem Augenblick fiel mir ein, daraus Vorteil zu ziehen. Ich verbreitete ein geheimes Gift über den Glanz ihrer Augen, fest überzeugt, daß man mich wegen eines Hilfsmittels um Rat fragen würde, und zugleich fest entschlossen, unter keiner anderen Bedingung zu helfen, als wenn man mir Dornenblüt und die Schätze der Hexe brächte.
Glücklicherweise ward Larifari durch die Neugierde zu mir getrieben, ehe er sich an den Hof begab. Ich war über seine Bekanntschaft entzückt. Der Verstand, den ich an ihm bemerkte, die Grundsätze, die er äußerte, ließen mich hoffen, daß er, wenn er das Abenteuer auf sich nähme, der Mann wäre, der es bestehen könnte. Die gute Meinung, die ich von ihm hatte, verstärkte sich noch, als ich ihn einige Zeit darauf wiederkommen sah, mich um Rat zu fragen. Er war nicht im mindesten über den Preis verlegen, den ich für meinen Beistand verlangte, ob ich ihm gleich alle Gefahren zeigte, die mit der Erfüllung der Bedingungen verbunden waren. Da ich ihn fragte, ob er jemanden am Hofe kenne, der verwegen genug sei, die schöne Sonnenstrahl um diesen Preis zu heilen, antwortete er: »Hierzu bedarf es nicht mehr als viel Ehrgeiz oder viel Liebe, und die Hoffnung allein, Euren Beifall zu verdienen, ist hinreichend, Mut zu jeder Unternehmung einzuflößen, ohne daß es dazu eines weiteren Beweggrundes als des Ruhmes brauchte.«
Ich will Euch nichts von der Freude sagen, die mir diese Antwort eines Mannes machte, dem ich allmählich eine außerordentliche Hochschätzung entgegenbrachte. Ich zweifelte kaum noch, daß dies der Mann sei, den das Schicksal zum Retter der unglücklichen Dornenblüt erkoren habe. Ich ließ ihn hoffen, daß ich ihm nicht zuwiderhandeln würde, wenn er sich in dieses Unternehmen einließe, das ich ihm nun noch weit gefährlicher als anfangs schilderte. Er war unerschütterlich. Ich hielt ihm Wort, und ob es mir schon nicht erlaubt war, ihm immer beizustehen, so hat doch mein Genuis dem seinigen manches bei der Ausführung zugeflüstert. Bei dem allem aber gehört der ganze Ruhm derselben seinem Geiste, seiner Standhaftigkeit und vornehmlich seiner Treue.
Während er unterwegs war, um die Wohnung der Hexe aufzusuchen, fragte ich meinen Stab über Dornenblüts Lage um Rat. Er zeichnete mir ihre Gestalt und ihre Leiden bei den unwürdigen Geschäften, zu denen die Hexe sie erniedrigte. Ich fand, daß sie reizend genug war, um die Gefahren zu vergelten, in die man sich ihr zu Gefallen begab. Ich hielt es nicht für nötig, Larifaris Herz für sie zu stimmen, wenn ihr Verstand und ihr Herz ihren Reizen entsprächen; aber ich kann nicht leugnen, daß ich Dornenblüt günstige Gesinnungen für ihn einflößte, die er bei dem ersten Anblick vielleicht nicht in ihr erweckt hätte, aber die er mit der Zeit, auch ohne meine Hilfe, ganz gewiß verdient haben würde.
Meine Freude war außerordentlich, als ich ihre Ankunft in diesem Königreich erfuhr. Ich gestehe, es war etwas grausam, ihnen meine Wohnung unzugänglich zu machen, als er Dornenblüt zu mir bringen wollte, aber es war notwendig, um seine Treue bis aufs äußerste zu prüfen und zu sehen, ob er ihrer würdig sei. Ihr habt alle den Triumph seiner Treue wahrgenommen und wie sehr er verdient, auf dem Throne einer Prinzessin zu herrschen, die so unumschränkt in seinem Herzen herrscht.
Schon seit langer Zeit hatte ich die Revolution vorhergesehen, welche in Zirkassien erfolgen mußte. Es war mir nicht erlaubt, ihr zuvorzukommen. Alles, was ich tun konnte, war, die Königin, meine Schwester, und die drei Töchter, die ihr noch geblieben waren, aus der Gefahr zu retten, die sie der Wut ihres Tyrannen aussetzte. Ich führte sie in ein Schloß an den Grenzen des Reiches, wo fast niemand hinkommt, und entzog sie auf diese Weise seinen Verfolgungen. Noch schien mir das nicht genug. Ich fürchtete seine Nachforschungen und bereitete deshalb einen Zauber, welcher verursachte, daß die Königin, sooft ein Fremder in das Schloß kam, in eine Krähe und ihre Töchter nebst ihren Hofdamen in Elstern verwandelt wurden, ohne daß sie selbst etwas von dieser Verwandlung merkten. Dies war also der Grund jener Erscheinung, meine Herren, die Euch in so große Verwunderung setzte, als Euch der Zufall nacheinander an den Ort ihres Aufenthaltes führte.
Während mich Larifari vergebens mit Dornenblüt suchte, erfuhr ich, daß Langzahn verkleidet nach Kaschmir gekommen war. Ich kannte ihre Absicht, aber ich wußte auch, daß ihre Macht seit dem Verlust der Stute Klingklang und des leuchtenden Hutes so eingeschränkt war, daß ich jedem Anschlag auf Dornenblüts Leben mit leichter Mühe zuvorkommen konnte. Ich überließ also Dornenblüt auf einige Zeit den Grausamkeiten, welche die Seneschallin und die unmenschliche Langzahn an ihr verübten. Dornenblüt konnte nur die Gattin des treuesten aller Liebhaber sein. Und was gab es für eine größere Probe seiner Treue, als sie vor seinen Augen in aller Häßlichkeit zu zeigen, in welche die Zaubermittel der Hexe ihre Reize verwandelt hatten, und das überdies zu einer Zeit, wo man ihm Sonnenstrahls Hand und den Thron von Kaschmir anbot?
Ich hielt ihn nicht lange auf, als er mir die Stute und den leuchtenden Hut brachte; doch ich hielt Wort und gab ihm das Mittel für die schönen Augen, welche so vieles Unglück angerichtet hatten. Larifari kehrte zu Dornenblüt zurück, aber ich wußte, daß sie diesmal, in dem Zustande, in welchem er sie finden sollte, eines kräftigeren Beistandes als des seinigen bedurfte.
Ich befahl daher allen Genien, welche die Kunst meinem Willen unterworfen hat, bis zu meiner Ankunft über ihr Leben zu wachen. Ich war entschlossen, ihm bald nachzufolgen, aber ich verschob meine Abreise bis auf den letzten Augenblick. Ein Aufschub, der mich beinahe sehr teuer zu stehen gekommen wäre! In dem Augenblick, da ich die Stute bestiegen hatte, hielt mich das angenehmste und erwünschteste Hindernis auf: In einer Stunde kamen nacheinander drei Kuriere aus Zirkassien mit der Nachricht, daß meine Schwester wieder in alle ihre Rechte eingesetzt sei. Der erste hinterbrachte mir, daß der Usurpator seine Krone durch einen plötzlichen Aufruhr ebenso geschwind verloren als gewonnen habe. Der zweite bestätigte diese Neuigkeit und setzte hinzu, der gereizte Pöbel habe nicht einmal seine arme bucklige Prinzessin Tochter geschont. Der letzte machte mir eine weitläufige Beschreibung von der Freude des Volkes und der Ungeduld, mit der man die Königin und ihre Töchter in der Hauptstadt von Zirkassien erwartet hatte. Diesen letzten Kurier hatte sie selbst abgesandt. Der Staatsrat und die Großen des Reiches waren ihr entgegengekommen.
Ihr seht, Kalif, Larifari ist also nicht so schlecht verheiratet, als Ihr geglaubt habt. Dornenblüts Wunsch wird erfüllt, einen Mann herrschen zu sehen, den seine Liebe und seine unverletzliche Treue eines Thrones so würdig machen. Sie wird ihre Staaten bei ihrer Ankunft ruhig finden, und sie wird ihrer Mutter und ihren Schwestern die Zufriedenheit wiederschenken, die sie seit ihrem Verluste entbehrt hatten. Das über jeden Wechsel glückliche Volk wird mit Freude und Glückwünschen eine Königin empfangen, die Dornenblüts Schönheit und Verdienste hat.‘
Serène endigte ihre Erzählung. Der Kalif gratulierte ihr und machte Dornenblüt seine Komplimente, bei denen er sich so verhaspelte, daß ihm die Nachricht, es sei aufgetragen, gar nicht zu gelegenerer Zeit hätte kommen können. Das Fest übertraf alles, was man von der Art in Kaschmir gesehen hatte. Aber den beiden Prinzen, die sich während der ganzen Zeit zärtliche Blicke zuwarfen, schien es fürchterlich langweilig.
Endlich kam die erwünschte Stunde. Hymen zündete alle seine Fackeln an, um dem Prinzen Phönix zu Sonnenstrahls Zimmer zu leuchten, wo der Kalif ihnen gute Nacht wünschte. Auch für Dornenblüt war ein Zimmer zurechtgemacht worden, und es stand nun in der Gewalt des treuesten Liebhabers, sich zu dem Glücklichsten aller Sterblichen zu machen.«
Das Morgenrot war längst zu sehen, ehe diese Erzählung zu Ende war. Aber Dinarzade lachte seinem erwachenden Glanze, und der Sultan, weniger eilig als sonst, seinen Platz im Staatsrat einzunehmen, hatte der Sonne für diesmal erlaubt, sich früher zu erheben als er.
Die Sultanin war, wie man am Anfang dieser Erzählung gesehen hat, die schönste Frau, welche jemals an der Seite eines Sultans geruht hatte. Er hatte seine Augen zärtlich auf sie gerichtet, indes der Großwesir mit seinem Zepter hinwegging. Man hätte meinen sollen, er habe sie noch niemals gesehen, so versunken schien er in ihre Reize zu sein. Er betrachtete sie aufmerksam, und da ihm einfiel, daß sie außer ihrer Schönheit einen so ungeheuren Reichtum an Märchen besaß, erhob er sich von ihrer Seite und nahm seinen Schlafrock, daß er ihr seine Zärtlichkeit und seinen Eifer, ihr zu gefallen, bezeige.
»Glücklich«, rief er aus, »glücklich sind die Hirten unserer Fluren. Ohne Zwang können sie tagelang bei ihren Hirtinnen seufzen. Oh, wäre mir das Los zugefallen, jeden Augenblick eines ganzen Lebens mit dem Anschauen der Augen zuzubringen, die mir jetzt strahlen!«
Dinarzade, die von diesen Ausrufen nichts begriff noch wußte, was diese Zeremonien bedeuten sollten, nahm sich die Freiheit, ihn zu fragen, was er denn mit den Schäfern sagen wolle. »Legt Euch nieder, Majestät«, fuhr sie fort, »statt solche Armseligkeiten einer Göttin vorzusagen, die soeben Eure linke Fußzehe küssen durfte.«
Bei diesen Worten wollte sie ihm den Schlafrock ausziehen, aber er war schlechterdings nicht dazu zu bewegen und befahl ihr, ihm seine Laute zu bringen, auf der er so lange spielte, daß die Sultanin beinahe vor Langeweile und ihre Schwester vor Ungeduld starben. Nach diesen Beweisen von Galanterie begab er sich in sein Zimmer und aus seinem Zimmer in den Staatsrat, um Anstalten zu dem schönsten Tage zu machen, auf den die schönste Nacht folgen sollte, die ihn in den Besitz der schönsten Frau setzen würde.
Er erwartete diese Nacht, wie man sich leicht denken kann, mit brennender Ungeduld. Endlich kam sie, und er begab sich sogleich in Begleitung seiner Bedienten in das Gemach der Sultanin. Aber statt ihnen nun gute Nacht zu sagen, nachdem er sich ausgekleidet hatte, wendete er sich zu dem Prinzen von Trapezunt und befahl ihm, alle seine Abenteuer, die ihm seit der Geschichte mit dem goldenen Pferde und der Pyramide begegnet waren, bis auf den Tag zu erzählen, da er in der Tiefe des Meeres die schönen Augen Dinarzades zum ersten Male erblickt hatte.
Der verliebte Prinz wäre sehr gern einer Erzählung enthoben gewesen, die die ganze Nacht hindurch dauern mußte. Aber da er wußte, daß der Sultan, sein Herr, keinen Spaß verstand, wenn es um Märchen ging, mußte er wohl oder übel seine Geschichte erzählen.

[Klaus Hammer: Französische Feenmärchen des 18. Jahrhunderts]

 
 
 
 

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