Suche

Märchenbasar

Prinz Kurzbein und Prinzessin Zobel

0
(0)
Dies war ihr Lager, und so brachten sie die erste und alle übrigen Nächte auf dem Marsche zu. Doch war dieses nicht das einzige Glück, das ihnen begegnete. Einige Pudel, die als Kundschafter vorausgeschickt worden waren, trafen einige Schritte von ihrem Wachfeuer ein mit Lebensmitteln und besonders mit Zwieback beladenes Pferd an. Sie liefen eilig zurück, holten einige noch glühende Holzscheite, womit sie das arme Tier nach und nach auftauten und es alsdann zu Kurzbein führten. Weil aber die Kälte alle Körper haltbar macht, mußten sie auch die Lebensmittel auftauen, die ihnen recht sehr zustatten kamen. Solchergestalt reiste Kurzbein sechs Monate lang. Bald lebten er und seine Pudel von Trüffeln und vortrefflichen Erdäpfeln, die sie in der Erde fanden, von der sie den Schnee wegtauten, bald von Kastanien und anderen Arten von Früchten, die im Überfluß wuchsen. Überhaupt fehlte es ihnen niemals an Ästen von fruchttragenden Bäumen und an dürren Ästen, denn Kurzbein war so vorsichtig, daß er jedesmal von den Bäumen, die sie bei ihrem letzten Nachtlager verließen, einen kleinen Ast abhieb und mit sich nahm.
Kurzbein hatte unter Androhung der Todesstrafe verboten, die Körper, die sie unterwegs antreffen würden, aufzutauen. Jeder Augenblick bot ihnen neue Gegenstände des Schreckens. Sie fanden Menschen- und Pferdeleiber, welche die Strenge der Kälte so natürlich erhalten hatte, daß sie nicht allein kenntlich geblieben waren, sondern man auch auf ihren Gesichtern die entsetzlichen Regungen wahrnehmen konnte, die im Augenblick ihres Erfrierens in ihrer Seele vorgegangen waren. Nach drei Monaten entdeckten Kurzbein und sein Gefolge ein Gebirge, welches sich durch seine außerordentliche Höhe von allen umliegenden unterschied. Dieses war in der Tat der so ersehnte Ort. Sie kamen endlich an den Fuß dieses steilen Berges, der so abschüssig war, daß er den Zugang unmöglich gemacht haben würde, wenn sich nicht Kurzbein mit Hilfe des Feuers einen Weg zu bahnen gewußt hätte. Der Palast, als die Krönung dieses Berges, war von riesigem Ausmaß, aber prächtig gebaut. Alles, was die Baukunst Großes und Vollkommenes vermag, war hier in gefrorenem Schnee ausgeführt. Was für eine Wohnung! Was für eine Einsamkeit! Was für eine Umgebung für ein jugendliches Gemüt!
Mit einer wohlabgemessenen Wärme gelangte er endlich, nachdem er durch verschiedene Höfe, Säle und weitläufige Zimmer gekommen war, an den Fuß eines Thrones. Er sah auf selbigem ein viereckiges Stück Eis und auf diesem hinwiederum einen Diamant, dessen wunderbarer Glanz noch die den Eispalast umgebende Weiße übertraf. Oben über dem Thron las man diese mit gefrorenen Buchstaben geschriebenen Worte:
»Sterblicher, den die Herzhaftigkeit und die Tugend zum Besitzer des Herzens der Zobel bestimmen, genieße nunmehr dieses Glück, weil du es vorzüglich verdienst.«
Kurzbein stieg ganz begierig die Stufen des Thrones hinauf und bemächtigte sich des Diamanten, der alle Empfindungen der schönsten Prinzessin in sich verschloß. Doch gleich denjenigen, die ein heftiges Verlangen ans Ende eines Weges führt, den sie einzig kraft der Erregung ihrer Sinne durchmessen konnten, die aber vor Erschöpfung keine neuen Anstrengungen unternehmen dürfen, hatte er kaum die Zeit, den Diamanten in seinen Busen zu schieben, als er ohnmächtig zur Erde fiel. Seine getreuen Pudel verließen ihn nicht, sondern trugen ihn aus dem Palaste und brachten ihn nach und nach wieder zu sich. Jetzt war er Besitzer des Herzens der Zobel, welches ihm tausendmal mehr schmeichelte als die Ehre, eine so schöne Begebenheit glücklich zu Ende gebracht zu haben. Nun verließ er den Berg und den schönen Palast, wovon ein großer Teil durch die Wärme hatte vernichtet werden müssen, weil Kurzbein sonst gewiß erfroren wäre. So können Menschen, wenn sie von Leidenschaften regiert werden, die schönsten Denkmäler vernichten; es ist nichts in der Welt, was ihrer Betriebsamkeit widerstehen kann. Kurzbein schlug denselben Weg ein, auf dem er hergekommen war. Der Anblick derer, die sich aus Liebe für Zobel aufgeopfert hatten, rührte ihn. Er befahl also seinen Pudeln, sich weit und breit auf dem Schnee umher zu verteilen und alles, was Leben gehabt haben könnte, aufzutauen und wieder zu beleben. Seine Befehle wurden befolgt, so daß er alle, die man verloren geglaubt und die es ohne seinen Beistand auch gewiß gewesen wären, wieder mit zurückbrachte.
Sein Mitleid hatte ihm ein solches Gefolge, das auch die übertriebenste Eitelkeit befriedigt hätte, verschafft. Es bestand aus mehr denn fünfhundert regierenden Prinzen ohne ihre Lehnsleute, Stallmeister und ihr übriges Gefolge. In dem Dorf, wo unser Held sein Pferd zurückgelassen hatte, hielt er einen Einzug, den prächtiger kein Monarch je gehalten hat und, wie ich glaube, auch schwerlich jemals halten wird. Kurzbein nahm sein Pferd und setzte seinen Marsch weiter fort, als sein getreuer Mousta ihm ganz zufällig entgegenkam. Dieser gute Pudel wußte noch nichts von dem glücklichen Ausgang seiner Unternehmung. Seine übermäßige Anhänglichkeit an Kurzbein und die an Zobel wahrgenommene Veränderung hatten ihn veranlaßt, seinen teuren Herrn aufzusuchen oder auch im Schnee umzukommen. Er hatte sich in der Stille aus dem Palaste fortgemacht, worüber die Prinzessin untröstlich war. Kurzbein erfuhr durch seinen getreuen Stallmeister, der unaufhörlich schreiben mußte, daß Zobel seit einer gewissen Zeit, die mit der Zeit seiner Eroberung genau übereinkam, traurig war, daß man an ihr Empfindungen bemerkte und daß sie über die geringste Sache verdrießlich wurde. Er setzte noch hinzu, daß sie öfters von ihm geredet, kurz, er eröffnete ihm Dinge, worüber er in äußerstes Entzücken geriet.
Ob der Bericht des Mousta gleich nichts als zusammengesammelte Kleinigkeiten waren, las Kurzbein doch alles begierig bis auf den geringsten Punkt, denn in den Augen eines eifrigen Liebhabers sind alle Kleinigkeiten vielbedeutende Dinge. Den Mousta befremdeten einzig und allein die besonderen Freundschaftsbezeigungen, womit ihn Zobel beehrt hatte und die sich von ihrem ersten Betragen himmelweit unterschieden.
Kurzbein empfing vom König und der Königin einen reitenden Boten, der auf die Nachricht von seiner glücklich ausgegangenen Unternehmung sogleich abgefertigt worden war und durch den die Prinzessin ihm viel Komplimente machen ließ. Zwei Tagereisen von der Hauptstadt entfernt, kamen dem Kurzbein die Equipagen des Königs entgegen. Alles Volk betrachtete ihn bereits als seinen zukünftigen Landesherrn und brachte ihm die gebührenden Ehrenbezeigungen dar. Er nahm solche nicht nur mit seiner gewöhnlichen Bescheidenheit an, sondern bezeigte sogar eine Art Verachtung dafür. Einige Tage vor seiner Ankunft mußte Mousta zu Zobel vorausreisen. Sie hatte die größte Freude, ihn wiederzusehen. So seltene Verdienste dieser Pudel auch sonst besaß, so war er doch ein Geschenk von Kurzbein, und dieses machte ihn ihr seit einiger Zeit noch teurer.
Endlich traf unser Held in der großen Stadt Trelintin ein. Ich übergehe die außerordentlichen Anstalten, welche man zu seinem Empfang getroffen hatte. Kurzbein wollte bei seiner Ankunft dem Fardakinbras und der Birbantine die Hände küssen, allein sie geruhten beide, ihn zärtlich zu umarmen und ihm zu erkennen zu geben, daß sie ihn als den Herrn ihrer Staaten und als den Besitzer ihrer Tochter ansähen. Kurzbein gab ihnen zu verstehen, daß er über diesen Punkt noch vieles zu erklären hätte. Hierauf begab er sich zur Prinzessin, die bei seiner Ankunft errötete und zum ersten Male in ihrem Leben nicht wußte, was sie sagen sollte. Nachdem sie einander lange genug mit den zärtlichsten Blicken angesehen hatten, zog endlich der Prinz den in dem Eispalast eroberten Diamanten aus seinem Busen hervor und überreichte ihn der Zobel mit diesen Worten: »Sehet, Madame, hier ist das, was ich mit noch nicht genug Gefahren und mit zu geringer Arbeit erkauft habe.« – »Ach! Prinz,« versetzte sie, »diese Eroberung gehört Euch allein, und wenn ich sie aus Euren Händen annehme, geschieht es nur, um das Vergnügen zu haben, Euch von neuem zu ihrem Besitzer zu machen.«
Die Ankunft des Königs und der Königin unterbrach diese zärtliche Unterredung. Sie taten alle möglichen Fragen an ihn und wiederholten vieles, worauf er schon öfters geantwortet hatte. Die Hauptfrage war indessen, ob ihn sehr gefroren habe. Der König war in der Absicht zu seiner Prinzessin Tochter gekommen, Kurzbein mit in den Rat zu nehmen und ihn demselben als seinen Schwiegersohn und Nachfolger vorzustellen. Kurzbein folgte ihm, ohne etwas davon zu wissen; als er sich aber unter den Großen und Vornehmen des Reiches sah, nahm er sich die Freiheit, den König in seiner Rede mit lauter Stimme also zu unterbrechen: »Wenn ich Eurer Majestät Güte hätte vorhersehen können, so wäre ich Euch zuvorgekommen, weil Ihr aber darum so geeilt, um Euer gegebenes Wort genau zu befolgen, muß ich hiermit bekanntmachen, daß meine niedrige Herkunft diese Güte, mit der Ihr mich beehren wollt, nicht verdient.« Alsdann erzählte er alles, was er von seiner Geburt wußte, und gestand frei, daß er eines Bauern Sohn sei.
Kaum hatte er zu reden aufgehört, als sich plötzlich der Himmel verdunkelte. Donner ertönte, und Blitze leuchteten auf. Auf den Lärm dieses Ungewitters folgte ein großes Licht, welches die wohltätige Fee Guerlinguin verursachte, die aus ihrem Wagen durch das Fenster in den Ratssaal herunterstieg. Sie erschien in der prächtigsten Kleidung und trug unter ihrem Arm den allerschönsten Pudelhund. Sie wendete sich an Kurzbein und redete ihn also an: »Ich bin mit Eurer Mäßigkeit und besonders mit Eurer Redlichkeit sehr zufrieden.« Alsdann entdeckte sie dem König die Geburt dieses Prinzen, erzählte die ganze Lebensgeschichte desselben und sagte hierauf zu ihm: »Eure Tugend hat Euch auf den Gipfel Eurer Wünsche gebracht, nicht allein was die Liebe und den Ruhm angeht, sondern auch was die Freundschaft betrifft, weil Ihr den König Biby und alle seine Untertanen in ihrem natürlichen Zustand wiedersehen werdet. Ich habe Euch alle Proben machen lassen, die einen gerechten und großen König heranbilden können, und habe Euch in den Stand gesetzt, alle Hilfsmittel in Euch selbst zu finden. Ich habe Euch den Wert der Freundschaft kennenlernen und Euch sowohl ihre Süßigkeit als auch die wahre Hilfe, die sie allein im Laufe des Lebens ausmacht, verspüren lassen. Dieses ist, wie ich glaube, die beste Erziehung, die man einem Menschen, der zum Herrschen über andere bestimmt ist, geben kann. Euch bleibt nunmehr nichts übrig, als daß Ihr die Tugenden, die Ihr stets in dem Bewußtsein, ein unbekannter Mensch zu sein, an Euch habt erkennen lassen, auch auf dem Thron ausübet. Ich kenne die damit verknüpften Schwierigkeiten, ich hoffe aber alles von der edlen Gesinnung Eures Herzens.«
Hierauf erblickte man einen Wagen, von Adlern gezogen, welcher auf Befehl der Fee die Eltern des Kurzbein herbeiführte. Sie umarmten ihr geliebtes Kind mit den Empfindungen der zärtlichsten Freude. Sie fanden ihn in der Tat so mit Pelzwerk bekleidet, wie ihnen Guerlinguin vorhergesagt hatte. Indes sie auch Zobel umarmten und ihre Hände gleichsam mit Gewalt an sich rissen – denn diese Art Liebkosung war den Toren damals schon so gemein wie heute -, sah man von allen Enden der Erde eine unendliche Menge Wagen mit Feen herbeikommen. »Sire«, sagte Guerlinguin zum König Fardakinbras, »ich habe alle Feen, die nichts Notwendiges zu verrichten haben, zur Versammlung hierher berufen, weil ich geglaubt habe, daß Ihr es nicht übelnehmen, sondern vielmehr gerne sehen werdet, daß wir bei Euch den großen Ball halten, bei dem wir uns gewöhnlich alle hundert Jahr einmal einfinden.«
Der König antwortete darauf so, wie es diese Gunstbezeigung verdiente. Man söhnte ihn mit der Fee Guarlangandino aus, und Marfontice gab dem König Biby und seinen Untertanen ihre natürliche Gestalt wieder. Biby war ein ebenso schöner Prinz, wie er ein schöner Pudel gewesen war. Er heiratete noch am selben Tage seine geliebte Königin von Indien, welche man bald auf einem Feenwagen herbeiholen ließ. Ich zweifle daran, daß jemals mehr Pracht bei einer Hochzeit gesehen worden ist als bei der des Kurzbein und der Zobel. Da sie sich liebten, kann man sich leicht denken, daß sie sehr vergnügt miteinander lebten. Kurzbein belegte aus Erkenntlichkeit gegen das Marderfell, womit ihn Zobel zu seiner Reise beschenkt hatte, die schönsten Marderfelle mit dem Namen Zobel, um sie von den schlechteren zu unterscheiden, und seit dieser Zeit führen sie diesen Beinamen bis auf den heutigen Tag.

[Klaus Hammer: Französische Feenmärchen des 18. Jahrhunderts]

 
 

Wie hat dir das Märchen gefallen?

Zeige anderen dieses Märchen.

Gefällt dir das Projekt Märchenbasar?

Dann hinterlasse doch bitte einen Eintrag in meinem Gästebuch.
Du kannst das Projekt auch mit einer kleinen Spende unterstützen.

Vielen Dank und weiterhin viel Spaß

Skip to content