Suche

Märchenbasar

Das Leben der Hochgräfin Gritta

1
(1)
Lange kam das Prinzchen nicht wieder; sie sprachen täglich von ihm, und die Zeit verschwand, still durch den Wald eilend. Endlich eines Morgens kam Prinz Bonus über die Wiese daher, und von nun an kam er oft; die Kinder vermißten ihn, war er nicht da. Er erzählte nie viel vom Hof, seinem Vater und dem Sommerschloß nicht weit hinter dem Walde, obwohl sie viel neugierige Fragen danach taten. „Ich bin froh, daß ich hier bin. Fragt mich nicht, Waldfräulein!“ sagte er dann beschwichtigend und zog aus seiner vollgestopften Jagdtasche Krammetsvögel und Schnepfen. „Guck, wie fett die Vögel sind! Ich habe mir heute sechs Tintenkleckse gemacht, und der Gouverneur hat geschrieen: ‚halten Sie sich gerade, Prinz! Es ist so eine unwürdige Neigung nach unten in Ihnen. Fassen Sie sich nicht an die Nase und kauen an der Feder und lassen Sie die Beinchen nicht wie Perpendikel gehen, wenn ich Ihnen erzähle, daß die Welt rund ist und daß Sie so viel wie möglich von ihr besitzen müssen.‘ Ach, Waldfräulein, ich erzähle euch nichts mehr; ich mag nicht daran denken.“ Prinz Bonus vergaß bald so aller Würde, daß er den goldbrokatnen Rock auszog und die Vögel rupfen und kochen half. Wißbegierig und ernst sah er Margareta kochen, sein eifriges Gesicht glänzte vor Hitze, er verbrannte die Finger, verdarb das Westchen, und der goldne Haarschein schwebte stets in Feuersgefahr, wenn er die Nase zu dicht über die rauchenden Töpfe hielt. Die Töpfe hatte er vor nicht gar lange auf Margaretas Bitten aus der Schloßküche entfernt, und seine Taschen steckten stets voll Rüben oder Kartoffeln, die er zu Anpflanzungsversuchen für sie mitgebracht. Er probierte alle Tage eine Stunde im Winkel der Höhle ein Hühnerei auszubrüten, da er die Henne nicht heimlich wegtragen konnte; denn er mochte das Mäntelchen drehen, wie er wollte: der Schwanz guckte doch immer hervor. Den ganzen übrigen Tag außer der Küchenzeit tat er allen alles zu Gefallen. Mit dieser lief er auf die Wiese Gras holen, jener pflückte er Buchnüsse. „Hier, Prinzchen, hilf mir Beeren suchen!“ rief die eine hinter einem Baum hervor, während die andre schon rief. „Komm, lieber Prinz, wir suchen Reiser zu einem Besen!“ Dabei wurde er ganz heiß, riß das Schnupftüchlein heraus, trocknete den Schweiß und sagte: „Wir sind sehr heiß, aber Wir opfern die Ruhe.“ Gegen Abend hatte er eine besondre Lieblingslaune: er setzte sich an das unweit der Höhle vorüberlaufende Bächlein, wo die Birke ihre Zweige tief herabhängte ins Moos, entledigte sich der Stiefeln und hängte sie an einen Zweig, ließ die Füße ins Wasser hängen und stellte die Rute aus zum Fischen, bis die Sonne die spielenden Wellen und den säuselnden Baum purpurn durchschien. – Sah er dann Gritta durch die Bäume laufen, so lockte er sie und rief. „Setz dich ein wenig ins Grüne zu mir!“ – Dann trug er ihr allerlei ernste und Volkswohlgesinnungen vor, während sie die Leuchtkäferchen im kühlen Moos fing und goldne Sterne aus ihnen zusammen setzte. „Wenn ich hier sitze denk‘ ich über die Welt nach“, sagte er einstmals. – „Ich finde, daß es sich im Grünen viel lieblicher sitzt als auf dem goldnen Thron, wenn ich Probe darauf sitze. Ich finde, daß die Vöglein in den Bäumen viel schöner musizieren als die Hofmusikanten; sie leben auch in gleicher Würde mit mir und sitzen nicht am Katzentisch, sondern über mir. Guck, Gritta, einmal in meine linke Rocktasche! Da stecken die goldnen Dosen mit Brillanten, hole eine heraus! Ich meine, der Stieglitz dort strengt sich wieder recht an.“ – „Ach, Prinzchen, was hast du wieder für Ideen“, sagte Gritta, „der Stieglitz ist viel zu anständig für deine goldnen Dosen.“ – „Ich bin zuweilen sehr dumm“, sagte das Prinzchen, „aber das ist mir angewöhnt. – Ich finde die Abendsonnenbeleuchtung viel schöner als allen Lampenglanz, – und die Bäume sehen wie alte, ehrliche Staatsperücken aus, sie rauschen bloß – ich kann sagen, was ich will, sie rauschen bloß ein wenig – und ich kann machen, was ich will. Siehst du, in den Wald möcht‘ ich gern entfliehen, wo im Frühling die Bäume die Blüten treiben, die Blüten Früchte werden und die Früchte Samen tragen, aus dem wird wieder ein Baum. Wo die Vögel durch die Blätter schleichen zu den weichen Nestern, in denen die Jungen mit den hellen Augen durch die Dämmerung nach der Mutter Ankunft schauen; wo die Halme aus der Erde dringen, Tau und Nahrung finden. Alle schwatzen sie zugleich, und der Baum gibt sein ernstes Wort darein, wenn er seine Frucht fallen läßt. Ja, der König Baum! – Sein lustiges Blättervolk sitzt an seinem Stamm, er gibt ihnen allen Nahrung und läßt sie alle plaudern, und will eins fort, so zieht er ihm einen festen roten oder gelben Rock an, und es eilt dahin im Tanze. – Der Morgen, der Mittag, der Abend und die Nacht schleichen alle durch den Wald; eins läßt das andre aus seiner liebenden Umarmung. – Und, siehst du, mein fester Entschluß ist, im Walde zu leben und in seine Tiefe zu entfliehen vor dem Gouverneur Pecavus. Aber ich verstehe mich nicht darauf, meine feingestärkten Halskrausen einzupacken, ohne sie zu verknittern; und wie viele Röckchen ich brauche, weiß bloß der Gouverneur und der Leibdiener.“ „Prinzchen, denk doch an dein Volk!“ sagte Gritta. – „Ach ja“, rief Prinz Bonus, „an die Bäcker und Brauer meiner lieben Stadt Sumbona!“ Nun stand er auf, nahm seine Jagdtasche und ging. – Gritta und Scharmorzel geleiteten ihn bis über die Waldwiese, auf der schon Abendnebel lagen; am Waldrand drückte ihr Prinz Bonus so zärtlich die Hand, daß ihr die Finger brannten, und schied. Sie fand sich zurück durch die Dunkelheit nach der Rauchsäule voll Funken, die aus der Höhle stieg.
So ging es alle Tage; aber einmal, als sie ihm tiefer in den Wald gefolgt war, fand sie den Weg nicht. Es schimmerte auf einmal so hell, und die Bäume warfen große Schatten; sie wußte nicht mehr, wo sie war. Der Mond sah in goldner Ruhe vom Himmel herab und blieb stumm bei jeder bellenden Anfrage Scharmorzels. Sie ging in ein dunkles Gebüsch; es wurde immer dichter, sie drängte sich durch und stand in einem weiten vom Mond beglänzten Waldplatz. Sie duckte sich in den Schatten einer Eiche, denn erstaunt sah sie weiße Spinnweben gleich Gestatten einander nacheilen. Hier flog eine Reihe hoch durch die Lüfte, und dort sank eine hinter einem Busche nieder: es mußten kleine Geister sein. In Ringelreihen flogen sie über das Gras und ließen Streifen darin zurück; dann zogen sie in immer engeren Kreisen bis zum Mond hinauf; andre eilten dicht unter dem Gras weg und warfen sich mit Tautropfen; es war, als spinne der Mond von Zweig zu Zweig goldne Strahlenfäden, an die sie sich hängten und sich schaukelten. Gritta sah ihn an, er lachte! – Er zog sein goldnes Gesicht zu einem lustigen Gelächter; aber mitten drin hielt er inne und verfiel wieder in einen tiefen Ernst. Da war es, als wenn der Wind die Geister in einem weiten Nebelkreis trieb: so eilig flogen sie und zitterten und flimmerten an den Büschen entlang. – Es wurde eine tiefe Stille, die Zweige des Gesträuchs beugten sich ehrfürchtig zurück, der Mondglanz wurde heller, und Gritta sah in die Dunkelheit eines Laubgangs. – Aus der Ferne schienen kleine leuchtende Sterne herabzueilen; immer näher kamen sie, es waren weiße Elfchen, die Leuchtwürmchen trugen, welche ihre wunderschönen Gesichtchen erleuchteten, die aus den feinen Gewändchen hervorguckten; die roten Rosenwänglein, die blauen Augensterne, so glänzend, und fliegendes Haar! – Je näher sie kamen, je mehr Lichter verlöschen; zuletzt schwebte ein Elfchen mit goldnem Krönchen in den Mondschein, so schön wie Gritta nie etwas gesehen. – Ein Kerlchen dünn wie ein Zwirnsfaden folgte ihr; er winkte, und der Kreis schloß sich an, sie flogen dicht an ihr vorbei und fort. – Außer einzelnen, die noch hinter den Sträuchern hervorkamen, war alles leer; ein durchsichtiges Gewölk zog über den Mond. Da zischelte es dicht neben Gritta; sie bog die Zweiglein auseinander. Elfchen schwebten hin und her und suchten sich niederzulassen. – „Rosenermel!“ sagte das eine, das über einer großen Blume schwebte, „es wäre doch schön, wenn hier ein weicher Lilienstuhl oder ein Rosenschemelchen wäre, diese Blumen sind so groß!“ – Es verlor sich bei diesen Worten ganz in der Blume und steckte nur dann und wann den Kopf hervor, klopfte den Blumenstaub vom Blatt, um sich nicht zu beschmutzen, und lehnte sich auf, um zuzuhören, wenn die andern etwas Besonderes erzählten; sonst verschwand es in ärgerlicher Laune und ließ sich in der Blume vom Nachtwind schaukeln. „Das kenn‘ ich noch gar nicht – ein Lilienstuhl, ein Rosenschemelchen!“ sagte ein anderes, das sich gleich einer Schneeflocke an ein Blatt gehängt hatte. „Das glaub‘ ich! – rief ein drittes, nachdem sie in Ruhe an allen Zweigen hingen. „Du wirst in Grönland keine solche Stühlchen haben.“ – „Nein, wir bauen uns da Nesterchen von dem Pelz, den der Eisbär an den Sträuchern hängen läßt, sonst reiten wir den ganzen Tag auf den Schneeflocken. Wie ich als Gesandter in dieses Land mußte, hatte ich mir mein Lieblingsroß gezäumt. Es war eine beschwerliche Reise hierher; als es wärmer wurde, schmolz das Roß zum Tautropfen; ich ließ es in der Schenke zum Veilchen liegen, aus der ich es wieder abholen werde, wenn ich zurückreise.“ – „Du meinst, es war eine beschwerliche Reise“, sagte das in der Blume. – „Ich reiste vor einer Zeit nach dem Zusammenkunftsort bei dem Schlosse des Grafen von Rattenzuhausbeiuns; da flog ich so lange durch den finstern Höhlengang, der am Meere mündet; mir wurde ganz angst, bis ich heraus ins Tal kam.“ – „Was machen die dort?“ – fragte eins, „der Graf hat ja Hochzeit gehalten!“ – „Das ist es nicht allein: – unser Liebling, das kleine Mädchen, die in dem Turme hauste, ist verschwunden. Ich schlief eine Nacht unten auf den Grashalmen im Moor; weil es so kalt und naß war blieb ich wach. Es war noch spät Licht auf der Burg, und ich sah die Schatten der Leute hin und hergehen; es mußte etwas Besonderes vor sein. Der Storch kam gegangen von der Burg her; ich lud ihn ein, bei mir zu bleiben, denn ich ahnte etwas Neues. Er erzählte, er habe der Gräfin ein Söhnlein hingetragen. Er war sehr ärgerlich darüber, daß man ihm den einen Flügel ganz mit Wochentee überschüttet; dazu habe ihm die Gräfin eine Ohrfeige gegeben, weil er sie zu sehr in den Arm gekniffen. – Kurz es sei gar kein ehrenhaftes Geschäft mehr, Storch zu sein.“ – „Schnell fort! Da kommt die Königin!“ riefen alle. Sie flogen weg und etwas zu nah, so daß Scharmorzel, dem Gritta die ganze Zeit das Maul zugehalten, damit er nicht knurren sollte, nach einem schnappte und beinah sich daran verschluckte; es flog, als es sich befreit, eilig weg. Gritta, erschrocken über Scharmorzels Leichtsinn, Geister für Sperlinge zu halten, und ihm Vorwürfe darüber machend, floh in den dunkeln Wald; aber wieder stand sie still, denn ein bläuliches Licht strahlte sie an; es kam aus einem Eichbaum und erhellte die Blätter, die eine kleine Laubhalle bildeten. Darin saß auf einem knorrigen Ast ein stilles Kind. War es nicht Wildebeere? Das Stumpfnäschen ragte über einem aufgeschlagenen Buch hervor; über ihr am Zweig hing eine kleine Wunderlampe, von der das Licht ausging. Zwischen den Ästen standen Bücher umher, ein kleines Elfchen schnitt Federn, ein anderes malte Namen auf kleine Violen und kehrte den Staub von Pflanzen, Moosen und funkelnden Steinen. „Ach, Wildebeere!“ – sagte Gritta leise. Das Kind wendete den Kopf und sah sie mit großen Augen an, dann sagte es: „Ich bin eine geheime Naturkraft. – Wenn ich höre, wie das Erz in den Bergen wächst, das Meer unaufhörlich braust, die Erde sich unaufhörlich dreht, dann muß ich ewig denken: Störe mich nicht, ich sitze hier auf dem Ast der Weisheit; sonst falle ich als unreife Frucht herunter. Denn wen auf dem Weg zum Himmel die Welt stört, der sieht die Jakobsleiter nicht mehr und muß unten bleiben und rastlos suchen nach ihrem Anfang.“ Das Laub rauschte, das Licht schimmerte, Gritta sah nichts mehr. Nur ein kleiner, wilder Feuerfunke eilte vor ihr her; sie eilte ihm nach, bald verschwand er, und sie sah die Waldwiese.
Aus der Höhle zog der Rauch und zeigte ihr den Weg. Alle saßen noch unbesorgt um das Feuer. Gritta dachte die ganze Nacht nach über die Wirtschaft im Walde, und daß die Elfchen Wildebeere zu ihrem Liebling gemacht hatten; sie hatte keiner andern als Margareta von ihnen erzählt, weil es doch zu wunderbar und schön, und sie selbst kaum daran glaubte. Margareta meinte, sie habe geahnt, daß Wildebeere in so schlimmer Gesellschaft sei.
Nach einigen Tagen half Prinz Bonus Margareta und Gritta Rüben ausrupfen auf dem kleinen Felde, das er mit ihnen angepflanzt hatte. Eine Rübe, die er verzehrte, hatte auf seinem Angesicht und Halskräglein helle und dunkle Schattierungen gelassen. – Voll Fröhlichkeit rief er: „O, das Rübenausrupfen ist ein herrlicher Zeitvertreib; wenn ich auch noch so lang rupfe, kriege ich doch immer etwas heraus, während ich sonst nie etwas herauskriege.“ Der Prinz zog seinen Degen gegen eine widerspenstige Rübe und hieb und stach so lange, bis er sie losgemacht hatte; dann wickelte er den grünen Krautschwanz um seine Hand und zog sie heraus. Als er wieder aufblickte, blieb er mit offnem Munde stehen; sein Näschen bekam einen stolzen Schwung, die Augenbrauen verzogen sich zu einem düstern Gewitter, und der goldne Haarschein wallte. – Am Rande des Feldes stand im goldgestickten Rock vom schönsten Pfirsichgelb, schwarzseidnen Strümpfen mit schwarzseidnen Schleifen, aus deren Tiefen der unheimliche Diamant funkelte, ein Mann. Das Gesicht mit den schwarzen Augen, die das Prinzchen unter der weißen Perücke anstarrten, – hatte es Gritta nicht schon einmal gesehen? – Ihr entfielen die Rüben vor Grauen aus dem Röckchen. Prinz Bonus, der im ersten Augenblick die ausgezogene Rübe hinter seinem Rücken versteckte, brachte sie mit edlem Unwillen zum Vorschein und sprach: „Gouverneur Pecavus, sind Sie es? Wollen Sie eine Rübe essen? Sie schmecken sehr würzig.“ Bei den letzten Worten stürzte das Prinzchen zwischen das Rübenkraut, denn sein Degen, den es hinter sich versteckt, weil es doch gar zu schrecklich war, mit dem Degen Rüben auszumachen, kam ihm zwischen die Beinchen. „Hier befindet sich ein thronerbliches Haupt auf dem gemeinen Rübenfelde? Eine artige Beschäftigung für ein Prinzchen!“ sagte der Gouverneur Pecavus, sprang zugleich herbei und packte das Prinzchen zwischen den Rüben fest. – „Mit Bettelkindern auf du und du zu sein, ihnen Rüben ausrupfen helfen! – Ja, die Jäger konnten blasen, wo die Hasen waren. Alle Tage wollten Sie auf die Jagd. Aber was ist das für eine Aufführung? Was verdienen Sie? – Die Rute!“ – Prinz Bonus war dunkelrot geworden über diese sein edleres Gefühl so tiefberührende Bemerkung. Er machte sich los von Pecavus, klopfte sich die Erde vom Westchen, unter dem ein so mächtiges Herz schlug, daß die goldnen Blumen auf ihm zitterten, guckte ihn kühn an und rief. „Was haben Sie mir dies zu sagen, Gouverneur?“ – Dann sprang er über sechs Rübenreihen zu Gritta und faßte sie bei der Hand.- „Komm“, sagte er; Margareta folgte, er ging graden Weges am Gouverneur vorbei. – „Halt!“ rief dieser, – „Prinz, ich muß Sie von einem Ort entfernen, wo Rüben sind.“ „Erst will ich dieses Fräulein in die Höhle begleiten“, erwiderte der Prinz Bonus. Der Gouverneur schrie: „Prinz, Sie werden sich eilen!“ Und ging ihm nach. – Dies schien er nicht zu wollen, er zog sich langsam die Jagdtasche über; der Gouverneur polierte mit dem Schnupftuch seine goldne Dose, hielt sie schräg und erblickte in ihrem Spiegel, wie der Prinz eben Gritta die Hand drückte und dabei schnell eine Träne mit dem Ärmel abwischte, da das Nasentüchlein heute bei einer Schmetterlingsjagd am Baume hängen geblieben war. – Und sie reichte ihm Scharmorzel an einem Strick, daß er ihn zum Andenken mitnehme. Da ward der Gouverneur ungeduldig, faßte den Prinzen am Rock und trug ihn sanft über der Erde fort zu Höhle hinaus. Prinz Bonus strampelte wild, wendete sich noch einmal um und rief. „Ade, liebste Gritta, weine dir die Augen nicht rot um so einen garstigen Kerl wie der Gouverneur ist! Mein Herz bleibt dir! Lauft ihr aber fort von hier! Denn wenn der Gouverneur nach Hause kommt, schickt er sechs Mann Miliz, euch ins dunkle Loch zu holen. Doch wenn ich König bin, so“ — Pecavus packte ihn von neuem und trug ihn fort hoch über der Erde; er verhedderte sich noch einmal aus Widerstand in einem Brombeerstrauch, dessen grüne Äste herüberlangten, dann verschwanden beide in den Büschen, und die Fetzen von des Prinzen Röckchen wehten einsam am Brombeerstrauch, bis Gritta sie zusammenlas und zum Andenken einsteckte. Nun standen beide Kinder allein und schauten einander an! – „Wir müssen fort!“ sagte Gritta; da kamen singend die andern heim, die nach Brombeeren gewesen waren; sie erfuhren voll Staunen, daß es wieder fortgehe in die weite Welt. „Wir suchen uns bloß einen andern Ort im Wald, wo wir wohnen können“, sagte Gritta. Margareta packte, was sie finden konnte, ein und jedem etwas auf. Endlich war alles bereit, Margareta ging voran, dann folgten die andern, und zuletzt Kamilla mit der Ziege und Gritta, die den Vögeln noch ein paar Käsekrümel aus dem Käsekorb herab streute. Keins sprach ein Wort beim Abzug. Nur Margareta und Gritta riefen zuweilen nach Wildebeere, aber sie kam nicht. Bald war es wieder einsam um den Wohnort der wandernden Kinder: die Eichkätzchen wurden wieder wild, die Vögel verloren die zahme Liebenswürdigkeit, und das Gestrüpp überwuchs die alte düstere Höhle, die melancholisch gähnte, daß in ihrem Schlund nicht mehr das lustige Treiben waltete.
Es war in einem dunklen Eichwald, nicht weit von einem Städtchen, durch welches vor nicht gar lang zwölf staubbedeckte Kinder pilgerten, worin sich eine wandernde Familie gelagert. Der alte Herr im Schweinslederrock und seine Frau sahen wenig geschmückt aus: es war der Hochgraf von Rattenzuhausbeiuns und seine Gemahlin; sie saßen nebeneinander und hatten sich friedlich die Hand gereicht. Auf der Hochgräfin Rücken saß eine Art Treppengebäude mit Stangen verwahrt; inwendig war ein großer Vorrat schön glänzender irdner Kannen und Töpfchen von roter, brauner, grüner und andrer Glasur. Sie malte Grillenhäuschen, der Graf schnitzte Quirle und hatte mehrere eben verfertigte Mausefallen bei sich stehen. Sie hatten rechte Muße zu alledem, deswegen ließen sie auch die Zeit vergehen und schauten auf einen Knaben, der im Grase lag und Blumen und Gräser ohne Unterschied um sich ausraufte. Sein voller Mund mit Doppelkinn zeigte das echte Stammgräflein; er hatte schöne schwarze Erbaugen, mit denen er wunderlieblich umherleuchtete und dazu lächelnd zwei Stammzähnchen zeigte, mit denen er die Welt begrüßt und deren Schärfe wegen er mit Wurst statt mit Milch groß gepäppelt war. Doch mit den schönen Augen konnte er nicht sehen; dies war der Gräfin Trauer, und wie man glaubte, war die Ursache eine Ratte, die es ihm wie die Schwalbe dem Tobias gemacht hatte. Wie die Ratten dann auch daran Schuld waren, daß die Grafenfamilie von ihrem Erbsitz fern auf Wald- und Feldsitz kampierte. Es war heilloses Unglück nach Grittas Verschwinden durch sie über das Schloß gekommen: erst geschahen kleine Neckereien, es blieb nichts unangeknabbert, leise fraßen sie sich hinter den Tapeten entlang, bis diese raschelnd herab flatterten. Doch immer stärker schienen sie sich zu mehren, in Scharen liefen sie die Treppen herab, den Pagen um die Füße herum, daß sie stürzten. So manchem bissen sie in der Nacht das pomadierte Haar ab und zwickten und neckten ihn, daß er wie toll aufsprang, oder machten die Runde um das gräfliche Lager und sprangen vom Betthimmel in des Federbettes Tiefe. Saß sie tags am Stickrahmen, so blickten sie mit funkelnden Augen aus den Gardinenfalten, sprangen ihr über den Nacken und die Hand; fiel die Seide, wuppdich waren sie damit in ihren Löchern. Wie oft fuhr der Graf mit dem Schwert hinter ihnen drein, aber es gelang ihm nie, eine zu treffen. Zuletzt stürzten sie über die vollen Eßtische in Scharen weg, und ein paar unglückliche Katzen, die angeschafft waren, um Jagd auf sie zu machen, hoben die Pfoten auf, damit sie nicht von ihnen umgerannt wurden. Auf einmal war das Testament des Vaters der Gräfin von den Ratten gefressen, grade um die Zeit, als sie mündig wurde, und zugleich meldete sich das Kloster, dem nach einer früheren Bestimmung, sobald kein anderes Testament da war, alle ihre Besitzungen zufielen, wenn sie nicht ins Kloster ging.
Nun war es aufgefressen und die Gräfin dadurch arm geworden. Da es nun nicht mehr so hoch herging im Schlosse und man allmählich wieder auf das lang verschmähte Grützenleben überging, so dankten die treulosen Pagen ab; nur Peter blieb. Der Graf und die Gräfin wurden so von den Ratten geplagt, daß sie eines schönen Morgens auswanderten, den jungen Erbgrafen auf dem Rücken in einem Leinwandsack, aus dem nur der Kopf hervorguckte. Sie schritten ohne Ziel in die Welt hinein und verdienten sich unterwegs ihr Brot mit Quirlschnitzen und mit einem kleinen Topfhandel, den die Gräfin dazu angelegt hatte. – In jedem Ort, wohin sie kamen, suchte Peter nach Gritta umher unter den Kindern, die zusammenliefen, um den Mausefallenkrämer anzustaunen.
Sie standen jetzt auf und setzten den Majoratsherrn zwischen die Mausefallen auf des Grafen Rücken. Da sie nicht wußten wohin, so wanderten sie aufs Geratewohl zu; ein jeder kaufte gern eine Mausefalle um des schönen Buben willen, der aus dem Korbe den Leuten entgegenlächelte, ohne sie zu sehen. Peter, der jetzt zur Familie gehörte, da die Gräfin klug und gütig und der Graf weniger stolz durch das Unglück geworden war, unterstützte sie, so viel er vermochte. So kamen sie von Ort zu Ort und endlich nach einer Seestadt. Sie standen am Hafen, die Gräfin schaute sich ein wenig um und steckte die von dem vielen Quirlschnitzen zerstochnen Hände unter die Schürze, und das Bübchen zwischen den Mausefallen jauchzte über das Wellengeräusch. Da kam ein Mann mit einem Schifferhut auf sie zu und rief: „Was steht ihr da und seht? Kommt mit in ein feines schönes Land, wo euch die guten Früchte in den Mund wachsen, wo das Zeug gewebt von den Pflanzen fällt und ihr über das Gold stolpert.“ Der Graf machte große Augen nach dem gelobten Lande, und der Gräfin schimmerten schon alle Herrlichkeiten in Gedanken vor. „Aber freilich, etwas Geld braucht ihr, um hin zu kommen“, sagte der Mann. Der Graf und die Gräfin blickten einander traurig an, als Peter mit dem Käsemesser den Ärmel auftrennte und einen stillverborgnen Schatz, seinen Lohn, aus ihm hervorholte. „Das reicht zu“, sagte der Mann. Gerührt schaute der Hochgraf den Peter an und rief. „Ich lasse nichts ohne Dank!“ Peter hatte aber einen andern Grund als den Dank des Grafen, warum er die Reise begünstigte: es war wegen eines Traumes, den er eines Nachts auf seiner Warte gehabt. Er saß und dachte an die kleine Hochgräfin; in Sinnen verloren blickte er nicht auf, bis eine feine Stimme seinen Namen rief; verwundert sah er um sich. – Das Tal war belebt, weiße Nebelgestalten zogen hindurch, kamen hervor aus den dunklen Höhlenöffnungen in den Bergen und spielten im Schaum der Wasserfälle, hingen an den Erlenbüschen, flogen zu den Sternen in die Höhe und zogen am Boden entlang tief im Tal. Noch einmal rief es: „Peter!“ – und sieh – auf seiner Schulter saß nicht eine Nachtmotte, für die er es erst gehalten, sondern ein feines Nebelwesen. Es sah wie Spinnweb aus, so fein, deswegen fürchtete er sich hinzusehen, und er blinzelte nur aus den zugekniffenen Augen es an. „Du hast einen sehr rauhen Rock“, sagte es, „aber dein Herz ist zart und lieblich. – Ich weiß wohl, du hast Sehnsucht nach dem kleinen Gräfinlein; aber es ist weit weit über dem Meer, im Paradies, ganz gesund und fröhlich, das sei dir zum Trost gesagt, du mußt zu ihr wandern.“ Eben wollte Peter fragen, welcher Weg dahin führe. Auf einmal wurde ihm so schläfrig zumut, das Spinnwebchen streute ihm wohl Mohn in die Augen; er verschlief die ganze Nacht und hatte am Morgen nur noch die Erinnerung eines Traumes. Unterwegs forschte er stets heimlich nach dem Paradies, und um übers Meer zu Gritta zu gelangen, gab er das Geld. Am andern Morgen bestieg die hochgräfliche Familie das absegelnde Schiff.
Die Kinder waren auf ihrer Flucht im Wald noch nicht lange zugegangen, als er immer dichter und finsterer wurde. Gritta ging zur Seite an Buschwerk und alten Eichen vorüber, das sie den andern einen Augenblick verbarg, als sie ein wunderbares Geklingel vernahm. Die Äste knackten neben ihr und rauschten, und aus ihnen hervor kam Wildebeere angesaust auf einem bunten Roß. – War es die in den tiefsten Wäldern wachsende Springwurzel oder wirklich ein wunderbares Pferd? Sie konnte es nicht erraten. Vorn auf dem grünen Zweig mit roter Glockenblume saß luftig schwankend Wildebeere, die Wurzeln setzten wild in die Erde, daß die roten Glocken flogen; schon war sie vorüber. Da hielt sie einen Augenblick, schaute Gritta tiefsinnig an, nickte und sagte lächelnd: „Sie wird bald nicht mehr scheinen, die Sonne, sie sucht nur ihre goldnen Morgenschuhe, die sie verlor, als die Erdachse schief zu liegen kam und sie grade vorbeiging. Nun scheint sie in alle Täler und tiefsten Tiefen, um sie zu finden; aber wo sind die hingerutscht bei der Verwirrung der Welt? Ist dir jetzt klar, warum die Sonne scheint?“ Sie schnalzte mit der Zunge, schlug das Pferd mit einem Blütenzweig, es bäumte sich und fuhr rauschend durch das Laub. – Gritta kam jetzt zur Besinnung; sie wollte sie ja rufen und ihr alles sagen, nun ritt sie davon und zog nicht mit ihnen. Sie sprang ihr nach und rief. „Wildebeere!“ – Bald hatte sie sie fast erreicht, doch sie entfloh dicht vor ihr ins Laub; bald eilte sie durch eine offne Waldgegend ihr nach, doch sie verschwand hinter den Bäumen. Es schien, als winke und lache sie Gritta zu, auch war es, als unterhielten sich die Vögel mit ihr, wo sie durchflog, denn sie schrieen lustig untereinander. Gritta stolperte über Wurzeln, fiel in Löcher, es wurde ihr ganz heiß, und sie erreichte sie doch nicht; auf einmal war sie fort. Gritta stand erschrocken und allein, sie rief nach den andern, nichts ließ sich hören; nur der Specht klopfte an die Bäume, es wurde immer dunkler und eine immer tiefere Stille; sie ging schweigend durch die Bäume, da vernahm sie eine feine sanfte Stimme, die aus dem Boden zu kommen schien: „Er sitzt schon wieder oben, und ich bin ganz allein, gefällt mir auch nicht mehr, denn die Vögel schweigen und es wird kalt.“ Dies sprach ein Kind in einem Rock von Schilf, es saß auf der Erde, hatte wilde Blumen gepflückt und zerriß sie mit den Händchen. Gritta sah in die Höhe, denn sie hörte oben Geräusch. Es war ein freier einsamer Waldplatz, ein paar hohe Bäume standen in der Mitte. Auf einem war ein großes Nest, viel größer als ein Storchnest; über des Nestes Rand hingen ein Paar lange Beine mit alten Stiefeln versehen, sie stachen grell gegen die Abendsonne ab, die untergehend das Nest beschien. Gritta erkannte an diesen langen Beinen den alten Hochgrafen, ihren Vater; sie rief laut in die Höhe, der alte Hochgraf schaute schnell über den Rand. Schier wäre er herabgesprungen vor Freuden, er hüpfte in dem Nest hin und her und guckte über den Rand, bis er sich endlich entschloß, herab zu steigen; er ließ eine lange Strickleiter von Binsengras herunter und kletterte daran zur Erde nieder. Gritta bewunderte unterdes seinen Wams von grünem Moos, besetzt mit den schönsten Kienäpfeln, die Hosen, an denen kein Flicken gespart und deren untere Hälfte mit zwei Ziegenfellköpfen verlängert waren. Endlich langte er an, nahm Gritta auf den Arm und konnte sie nicht genug küssen und ansehen. Gritta vergrub sich in seinen großen weißen Bart, und ihre Tränen und seine Tränen hingen gleich silbernen Tropfen in den weißen Fäden. Eben kam die Hochgräfin mit einem Bündel Gras und Peter heim. Die Freude nahm gar kein Ende, bis die Gräfin den kleinen Hochgrafen Tetel, das war das Kind im Gras, auf den Arm nahm und sie in die Hütte gingen, die von Reisig, Gras und Lehm zusammengeklebt war. Der Hochgraf nahm Gritta auf den Schoß und rückte an das Feuerchen, das die Gräfin angezündet hatte. Gritta legte zum zweitenmal in ihrem Leben ihren Kopf an sein Herz und begann, alle Abenteuer zu erzählen; – während dem rührte die Gräfin eine Milchsuppe; Peter hörte aufmerksam zu und wiegte im Hintergrund in einer aus Schilf geflochtnen Wiege, die an der Decke befestigt war, den kleinen Tetel, der ein löwenzerreißendes Geschrei anstimmte aus Ankunftsfreude und Liebe zur Freiheit. Als Gritta geendet, erzählte der Graf von den Ratten, und wie sie auf dem Schiff gesegelt waren. Die Fahrt war gut gegangen, nur hatte er immer an der schlimmen Seekrankheit gelitten; auch der kleine Tetel konnte das Wasserfahren nicht vertragen. – So hatten sie das verheißne Land aufgegeben, und als das Schiff nicht weit von der großen Stadt Sumbona gelandet, waren sie gleich ausgestiegen und abgewandert. – In den Dörfern hatten sie gehört, daß kein Fremder das ganze Jahr in die Stadt eingelassen werde; es sei nur möglich, wenn man dem Gouverneur ein Trinkgeld gebe. Sie erblickten schon in der Ferne das Stadttor, als ihnen ein Mann entgegen kam, der ein so schlechtes diebisches Gesicht hatte, daß der Graf nicht umhin gekonnt, ihm eine Ohrfeige zu geben. Dies war grade der Gouverneur Pecavus. Der ließ sie nun verfolgen, bis in die tiefste Wildnis, wo kein Verfolger noch hingekommen war. „O, liebe Gritta“, fügte der Graf hinzu, „ich bin seit der Rattenzeit und seit des kostbaren Testaments Verschwinden in tiefem Nachsinnen über eine Geldschrank- und Papierverschließungsmaschine. – Siehst du den Kasten, der dort in der Ecke steht? – Das ist eine ganz merkwürdige Maschine.“ Der Graf blickte mit der größten Liebe den Kasten an: „Siehst du“, fuhr er fort, „ich hatte bisher kein Material; so hab‘ ich ihn aus Kienholz gemacht. Sollte es irgend einer Ratte oder einem Menschen einfallen, den Geldschrank zu öffnen, so stürzt ein Balken von oben herab und schlägt ihn nieder.“ „Ei, da brauchen die Ratten nur nicht grade vorne hereinzugehen. Wie geht’s aber den Menschen, denen das Geld gehört und die davon haben wollen?“ – „Ja, Gritta, die werden auch geschlagen, das ist das Beste daran; die werden keine Verschwender. Willst du einmal probieren? Es tut nicht sehr weh, sind jetzt nur Kienäpfel darin, die kannst du dir gleich heraus holen!“ Gritta drückte fest die Augen zu. – „Ich glaube gar, das Kind schläft“, sagte der Graf, und trug sie sanft auf das Mooslager von Peter.

Wie hat dir das Märchen gefallen?

Zeige anderen dieses Märchen.

Gefällt dir das Projekt Märchenbasar?

Dann hinterlasse doch bitte einen Eintrag in meinem Gästebuch.
Du kannst das Projekt auch mit einer kleinen Spende unterstützen.

Vielen Dank und weiterhin viel Spaß

Skip to content