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Märchenbasar

Das Leben der Hochgräfin Gritta

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Die kleine Gritta lief emsig mit dem Rauchfass hin und her: heut war Trauungstag. Die Rauchwolken durchzogen den Saal, der schön geschmückt war mit seidenen Tapeten, die Fenster geöffnet nach den Bergen zu. Endlich blieb sie vor dem Traualtar stehen, der mit einer bunten Decke belegt war. Auf ihm lag ein kleines Gebetbuch mit altem silbernem Beschlag; sie dachte an die Ehe, dass die ein Band sei, was aneinander binde, wie der Herr Pfarrer sagte. So freute sie sich schon, dass morgen die Gräfin nicht werde wie sonst davon können laufen, wenn der Vater vom Maschinenwesen spreche. Da trat auf einmal der Bauch des Herrn Pfarrer herein, und dann folgte das Übrige nach. Es versammelten sich allmählich alle. Die Gräfin mit ihrem kleinen goldnen Krönchen auf dem Kopfe und weißem Schleier sah gar lieblich aus. Das war eine Traurede. Die Pagen sollen sich einen Teil ihrer Beine abgestanden haben. Die Gräfin und der Graf knieten hin, sie mit lächelndem Gesicht, er mit ernsten, gerührten Blicken. Als es an das Jasagen kam, stieß ihn die Gräfin an, denn er hatte die Augen ein wenig zu sehr für das Gerührtsein zugemacht. „Freiherr Ortel von Rattenzuhausbeiuns“, rief der Herr Pfarrer, „willst du selbige benannte Jungfrau Nesselkrautia Bollena Amaria als deine andere Hälfte und Herrin anerkennen, wie sie dich als ihren Herrn anerkennt, so sprich ein deutliches und vernehmliches Ja!“ – „Brrrrrmm, das Räderwerk steht still“, sagte der Graf aus dem Schlaf auffahrend und erschrocken umhersehend. Endlich besann er sich und sagte Ja! Dann endigte die Predigt schnell. Den Abend bliesen noch Flöten und Klarinette. Die Pagen drehten sich und sprangen und waren voll süßen Weines. Gritta schlich in ihr Türmchen und schaute den Sternen zu, während der kleine Turmwart von oben herab ein Abendlied blies. Unten lag still im Nebel begraben das Tal, und ihr schienen aus den dunklen Höhlen inmitten der Berge kleine Flöckchen zu fliegen, aus denen sie sich Gestalten bildete. – Am anderen Morgen ging die Gräfin zur Kirche; ein veilchenblauer Atlas sank von den Schultern zur Erde, ein feiner Schleier umgab sie und wurde nur hie und da von Diamantsternen aufgenommen. Die Glocken der Dörfer läuteten zusammen den blauen Bergen zu durch die Sonntagsluft. Der Gräfin zur Seite schritt der Graf, in stattlicher Puffenkleidung von grünem und gelbem Atlas; die Pagen folgten hinter her. Der Graf war entzückt darüber, wie die Gräfin so sanft auf das kleine Gesangbuch in ihrer Hand blickte. „Weißt du was“, sagte sie, „deine kleine Tochter will ich in ein Kloster zur Erziehung geben.“ Der alte Graf runzelte die Stirn. „Ich kann sie nun einmal nicht erziehen.“ – „Hast es auch nicht nötig, Frau Gräfin.“ „Aber was soll aus ihr werden, wenn sie nicht sticken, weben, spinnen kann, und mir gehorcht sie nicht, denn sie ist ein wildes Ding.“ – Der Graf bedachte sich heimlich, und als er die Gräfin so fromm einhergehen sah, sagte er endlich Ja! – Aber die Gräfin dachte: „Hab‘ ich sie erst dort, so soll sie Nonne werden.“ – Gritta sollte fort, fort von der Burg ihrer Väter. Zwei Tage blieb sie noch, sie vergingen schnell. Den alten Grafen sah sie nicht, die Gräfin ließ sie nicht zu ihm; aber sie war oft beim kleinen Turmwart, tausendmal trug sie ihm auf, dass er für die kleinen Tierchen in ihrem Turme sorge. Am Morgen des dritten Tages stand sie endlich vor dem Schloßtor. Sie guckte, als sie weiter ging, hinauf nach der alten Zinne, drehte sich dann um und wanderte, ihr Bündelchen an einem Stecken über der Schulter, eilig an Müfferts Seite davon. Der Turmwart schaute von der Höhe hinab ihr nach; er blies eine so fürchterliche Trauerfanfare herab, dass alles im Schloss zusammenlief, meinend, es brenne. Als sie durchs Felstor waren, gingen sie dem Walde zu. „Ach!“ hob Gritta an, „ich habe gebeten, sie sollen mich nicht im Kloster vergessen, und der Peter hat es mir versprochen; vergäßen sie mich, so wollte er mich holen!“ In der Hochgräfin grauen Augen standen Tränen, die an den schwarzen Wimpern gleich Perlen hängen blieben. Müffert schnitt ein fürchterlich Gesicht, um seine Tränen zu verschlucken, und rief. „Wer hat dich Weinen gelehrt? – Ich hole dich schon und vergesse dich nicht.“
Der Wald wurde immer dichter, und der kleine Fußpfad war kaum zu unterscheiden; es ward schon spät. Sie gingen still neben einander: „Horch! – Es raschelt etwas!“ rief Gritta. Einen Augenblick dauerte es, da guckte ein dicker, dunkler Kopf aus dem Gebüsch mit seinen drohenden Augen, vor sich hinbrummend. Wie der Blitz lief Gritta davon; ihr Herz klopfte, ihr Kleidchen blieb an den Dornsträuchern hängen, das Päckchen unter ihrem Arm fiel zur Erde. Da blieb sie stehen, sie wurde rot bis über die Ohren: sie war davon gelaufen. – Sie – die Tochter eines Ritters, die Enkelin so vieler mutiger Ahnen, von denen drei mit Hosenbands-, drei mit Knopflochverdienstorden erster Klasse versehen waren! Sie war davon gelaufen! – Ein schlimmer Gedanke in der Einsamkeit! Aus jedem Busch schien die Allongeperücke eines Ahnherrn zu winken. „Und wenn mich der Bär frisst, – ich gehe zurück!“ – Sie ging kreuz und quer, rief und schrie; doch vergebens. So irrte sie hin und her, und zuletzt fiel ihr ein, sie könne sich verirrt haben. So war es. – Nur dadurch, dass hie und da ein Häschen weggesprungen oder das Laub geknittert, hatte sich vorher noch der hochgräfliche Ahnen-Hosenbands- und Knopflochverdienstordens-Mut aufrecht erhalten, aber nun war alles still! – Sie zitterte vor Frost, als sie in eine Gegend kam, wo die Bäume lichter wurden. Endlich an eine Baumlücke gelangt, stand vor ihren erstaunten Augen ein großes, kahles Gebäude. Es hatte nach beiden Seiten Flügel, auch zog sich eine Mauer herum, die dem Anschein nach es ganz umschließen musste; eine runde, dunkle Eingangstür lag vor ihr, die tief in das Gebäude hinein ging. Von Zeit zu Zeit befand sich hoch oben ein Fenster, mit Eisenstäben verschlossen. Eine öde Stille um das ganze Haus; endlich entdeckte sie an der Tür einen Draht mit einem Ring daran. – Da es immer finsterer wurde, nahm sie sich ein Herz und zog; laut hallte es wider und schien sich in fernen Gängen zu wiederholen, bis es zuletzt verhallte. Sie zog noch einmal und klopfte dann; es nahten Schritte, nach einer Weile fiel ein Schiebfensterchen rasselnd herab. Ein paar graue Augen blitzten hindurch; darauf öffnete sich die Tür, eine magere Knochenhand langte heraus und holte Gritta hinein in eine tiefe Dunkelheit. Es deuchte ihr, als höre sie die Töne einer fernen Musik, als eine schnurrende Stimme fragte: „Was willst du?“ Die kleine Gräfin fing jetzt wie ein aufgezogenes Rädchen an, ihre Geschichte herzuschnurren. Die Alte hörte brummend zu, nahm ihr dann den Brief aus den Händen und zog sie hinter sich drein durch viele Gänge, bis sie vor eine hohe Tür kamen; hier ließ die Alte sie in der Dunkelheit allein. Nach langer Zeit erst kam sie wieder, ihre lange Nase ragte beim Aufgehen der Tür aus dem schwarzen Schleier hervor. „Da, sehen Sie, ist die kleine Hochgräfin im windigen Röckchen, wie ein hergelaufnes Ding!“ Die Alte richtete diese Worte an eine alte Dame, die im Sessel mit hoher Lehne saß; sie hatte die Schultern eingezogen und schaute gleich einem grauen Jahrhundert vor sich hin, dann hob sie die Augen und starrte Gritta an. Die Alte fing an, mit ihr heimlich zu zischeln, nur zuletzt sagte sie etwas lauter: „Sie hat mir erzählt, dass der alte Müffert, ein Diener des Schlosses, nicht wisse, wo sie sei; daher ist es für unsere Pläne sehr gut, wenn wir es auch nicht sagen.“ Gritta hatte während des Gesprächs Zeit sich umzusehen. Es war ein hohes, dunkles Zimmer, mit einer alten Ledertapete. Nussbraune Schränke an den Wänden. Eine heilige Maria von schwarzem Ebenholz mit Elfenbeinaugen und diamantnen Augensternen schaute graulich aus einer hohen Ecke herab. Die Alte erweckte Gritta aus ihrem Traume, nahm sie an der Hand und zog sie wieder durch eine Menge von Gängen fort; am Ende derselben öffnete sie eine Tür und trat mit ihr in einen Saal. Der Mond schien durch die Fenster auf eine Menge kleiner Bettchen, die mit weißen Linnen gedeckt umherstanden. Es war eine Stille und ein leises Atmen; die Alte hob sie auf ein Bett und ging. Gritta glaubte sich erst allein in dem großmächtigen Saal, doch im Mondlicht wurde sie einiger Kinderköpfchen in den Betten gewahr, sanft lächelnd vom Schlafe. Sie hockte auf dem Bettchen, um alles zu betrachten; ihr blondes Haar strahlte im Mondlicht, da fühlte sie, dass sich etwas dicht neben ihr rege. „Ach, ein Kind, so groß wie ich!“ Und wirklich war es eins, es hatte die weißen Glieder in schlafender Bequemlichkeit weit von sich gestreckt, ein brauner Zopf hing hinten herab; es hatte ein besonders weltweises Gesichtchen, die schwarzen Wimpern ruhten auf den rotgeschlafenen Wängchen, die vollen roten Lippen geöffnet. Gritta, nachdem sie das kleine Mädchen noch betastet hatte, versank in Schlaf.
Gritta erwachte zuerst am anderen Morgen; sie sah das Kind neben sich liegen, da fiel ihr gleich wieder alles von gestern ein. Sie wollte das Kind ermuntern, aber wie? – Sie kniff es erst ins Ärmchen, – es erwachte nicht; sie zog es an seinem langen Zopf, aber es schlief fort; endlich fiel ihr ein, ihm ins Ohrläppchen zu beißen. „Au!“ schrie die Kleine auf und sah sie halb schlafend und fragend an. – „Wo bin ich denn eigentlich?“ fragte Gritta. – „Wo du bist weiß ich nicht“, erwiderte die andere, „aber ich bin im Kloster.“ – „Ach!“ rief Gritta, „so bin ich doch ohne Müffert glücklich angekommen. Wie heißt du denn?“ – „Margareta, und du?“ – „Gritta“. Ein Glöckchen fing an zu läuten; die Kinder erwachten, alle streckten die Köpfe verwundert aus den Betten, als sie Gritta sahen. „Ein kleines Mädchen wieder?“ fragten sie. „O, sie hat bei mir geschlafen“, rief die Weise, „heute Nacht habe ich sie ausgebrütet; ich will’s euch nur heimlich sagen, ich habe gestern das Ei im Garten gefunden. – Die andern lachten, aber die Jüngste, ein Mädchen mit lichtblauen Augen und blondem Haar, reckte ganz ernsthaft den Kopf empor und fragte: „Hat sie denn auch Federn?“ „Ja, ja“, sagte die Weise, „nun, du kleines fremdes Ding, steh auf!“ Sie war mit einem Satze aus dem Bette. Die Glocken läuteten stärker; es begann ein eiliges Treiben, die Kinder liefen alle zu der Weisen. Diese hatte den Kran über einem Steinbecken geöffnet. Da standen sie zu vielen in den weißen Hemdchen und spülten sich die Arme und das Gesicht im Wasser, das in der Morgensonne hell blinkerte. Die Weise rief, wer zuerst kommen sollte, und erzählte dabei von der bösen Nonne Sequestra; die andern gaben ihre Meinung auch dazu. Gritta stand in Gedanken verloren auf einem Bein und lauschte voll Verwunderung, da überschüttete sie ein Regenschauer von hinten. „Nun bist du getauft“, rief Margareta, hielt aber erschrocken ein im Lachen, denn es schlurrten Schritte auf dem Gang. Alle schlüpften still und scheu in ihre Kleider. Die Tür ging auf, und die alte Nonne von gestern trat ein. Heute war ihr Gesicht noch abschreckender; sie faltete die langen, knöchernen Finger unter dem Gewand, sagte den Morgensegen und winkte zu folgen. Sie trippelten hinter ihr drein, Gritta hinter Margareta durch finstere dunkle Gänge, es wurde ihr Angst, wo es hinsollte; da kam eine Treppe, unten drang Lichtglanz aus einer offnen Tür, eine sanfte Musik ertönte. „Wo geht’s hin?“ fragte Gritta. „Still“, sagte Margareta, „es wird dir nichts geschehen.“ Sie kamen herab in eine düstre, hohe Kapelle, auf dem Altar brannten die Kerzen vor dem Muttergottesbild. Junge und alte Nonnen in langen Chormänteln sangen. Gritta kam erst zu sich selber, als sie an einem Seitenaltärchen des heiligen Johannes Bild fand; ein Lichtchen brannte davor. Es war mit Goldflitter und Blumen, der Arbeit der jungen Nönnchen, geziert. Gritta kniete nieder und betete emsig, die Orgel tönte, Margareta lief mit dem Weihrauchkessel hin und her, aus dem die Wolken dampften, unter den Nasen der alten Nonnen hinweg. Als Gritta so in dem Duft saß, das Lichtchen immer mehr abbrannte unter den vielen Gedanken, die sie hatte, bat sie unter anderem auch, der heilige Johannes möge doch den Johannes an ihrem Fenster besuchen und ihm sagen, er solle doch für ihre Tierchen sorgen und ja den kleinen Peter grüßen, er solle sie nicht vergessen im Kloster; es störte sie eine lange, knöcherne Hand, die in ihre Gedanken hineingriff, schüttelte sie und zog sie in die Höhe, dass sie wieder auf zwei Beinen dem Menschenleben anvertraut war. Es war Sequestra, sie nahm sie mit; sie sah, wie die jungen Nonnen durch eine Pforte sich entfernten. Jede von den alten führte ein Kind. Sequestra führte sie in einen entfernten Teil des Klosters, sie öffnete die Tür in eine düstre Zelle. Oben ein kleines Fenster mit Eisenstäben verwahrt ließ etwas Licht herein; nicht weit von einem großen Nußbaumschrank saß in der Ecke eine alte Nonne im braunen Lehnstuhl, an ihrer Seite hing eine Rute, sie guckte über die lange Nase und Brille hinaus Gritta scharf an, rückte unter ihrem Stuhl ein Schemelchen hervor, nahm Gritta bei den Schultern; die wusste nicht wie, so saß sie. Die alte Sequestra ging, nachdem sie mit der Alten ein harmonisches Kopfnicken gewechselt. Als sie fort war, lachte diese pfiffig, und Gritta musste lesen, während die Alte oft aufs zärtlichste einem langen Flaschenhals zusprach, der aus ihrem Ärmel ragte, sich räusperte, hustete und wieder einnickte. Gritta las nicht diesen Tag allein, nein viele, viele Tage, den ganzen Tag; – nur ein Schüsselchen mit Essen teilte die Zeit; nun begriff sie wohl, warum die andern Kinder oft so scheu und traurig waren, denn sie verbrachten die Zeit ja eben so bei solchen alten Nonnen. – Wenn sie mit ihren kleinen Fingern Blatt für Blatt umwendete, so las und buchstabierte, zuweilen nach dem Gitterfenster schaute und darüber nachdachte, ob die Sonne draußen scheine, so wurde ihr so wunderlich zu Mute, wenn der Tag so langsam an der grauen Wand der hohen Decke verging und die letzten Abendlichter auf dem nussbraunen Schrank spielten; ach, da ward ihr so angst, sie sehnte sich nach etwas, es war auch so eng und so hoch. – Sie wollte die Alte freundlich machen. – Warum schaute sie so böse vor sich hin und murmelte wie eine rostige Raspel? – Gritta legte den Kopf an ihre Schulter; die Alte sah sie verwundert an, fing gewaltig an zu husten und schüttelte ihren Kopf von sich ab, worauf sie tief in ihren schwarzen Ärmel kuckte und gestärkt wieder hervorsah. Jetzt wusste Gritta, wonach sie Sehnsucht habe! – Nach dem alten Schloss, mit den Bergen umher! – Wie war’s so hoch und frei da oben! Was mochten Müffert, Peter und der Vater machen? Aber wie weit ist das? Hatte sie bis in die Nacht gelesen, so hielt die Alte ein Gebet; dann führte Sequestra sie in den Schlafsaal. Am Abend getrauten die Kinder sich nicht laut zu sprechen, weil sie fürchteten, die Alte lausche. Wenn die jungen Nonnen in der Kirche an ihr vorbeigingen, da lächelte eine unter ihnen oft ihr freundlich zu. Eines Abends im Vorübergehen sagte sie ihr leise ins Ohr, in welcher Zelle sie wohne. Gritta entschlüpfte später der alten Sequestra und fand sich glücklich zurecht. Das Nönnchen saß in seiner Zelle am offenen Fenster, ein Rosenzweiglein stand vor ihr, sie lächelte freundlich; aber kaum wollte Gritta die Türe schließen, so stand Sequestra davor und nahm sie mit sich fort.
Mermeta hieß die junge Novize, die sie so liebte; sie sah sie selten, nur wenn sie ihr half, die Kelchtücher waschen und auf den Sträuchern im Garten an die Sonne hängen. Bald wurde Gritta so schwermütig und still wie die andern Kinder; wenn sie die alte Sequestra ein paar Minuten fern wussten, so liefen sie in den langen Gängen hin und her und spielten hinter den großen Schränken Verstecken, aber vor der Seite, wo die alte Sequestra wohnte, hatten sie heimlich Furcht, keins getraute sich hin. „Ich möchte wohl wissen“, sagten sie untereinander, „warum die andern Nönnchen so einsam leben und nicht heraus dürfen. Ach, für sein ganzes Leben hier bleiben!“ sagte das eine oder andre seufzend.
Obwohl es nun sehr einsam herging, so war es schön, wenn an schönen Sommertagen die Zellen ihre Bewohnerinnen herausließen, oder vielmehr die Priorin, die sonst immer durch die Nonne Sequestra vertreten wurde. Da öffneten sich die verschwiegnen Türen in den langen Gängen, und die Novizen kamen heraus mit ihren weißen Schleiern, sie wandelten zwischen den grünen Stauden, an den blühenden Mandelbäumen blieb hier und da ein Pärchen stehen, die Gesichter erfrischt von der Luft, die Augen voll Erquickung der rosenroten Blüten, die Gewächse selber aus dem weltenfrischen Boden in die trockne Einsamkeit versetzt. Die Wasser rauschten aus den Springbrunnen in die kleinen geschlossenen Bassins; daran saßen die Kinder, unter ihnen Gritta, und ließen Schiffe von Rosenblättern, beladen mit Fliederblüten, auf dem klaren Wasser schwimmen. Der Kinder Lieblingsnonne, Mermeta, war eben ins Gebüsch geschlüpft; sie schauten ihr nach, als die Mater Sequestra von der entgegengesetzten Seite heranschlich; sie war bisher im Garten herumgegangen, jede Vertraulichkeit hindernd. „Ach“, rief Gritta, „kommt, wenn sie nur nicht zankt!“ – Sie wussten schon, was Mermeta dort machte; sie gingen den Weg, den Mermeta gegangen war; die junge Novize saß am Boden vor einer Eiche, der Schatten fiel sanft auf ihr blasses Gesicht; sie hatte den Zipfel ihres schwarzen Gewandes ausgebreitet voll Futterkörnchen und blickte in eine dunkle Ecke neben dem Baume. Zur Seite steckte die Alte ihr Gesicht durch das Gesträuch; ein Vögelchen mit einem gelähmten Flügel kam aus der Dunkelheit hervor und fraß die Körner aus ihrer Hand; sie sah sich schüchtern um, als sie im Gebüsch etwas rauschen hörte. „Du sollst keine Freude haben an irdischen Dingen!“ sagte die alte Nonne und nahm den Vogel in die Hand. „Gehe fort von hier“, sie sah sie zürnend an, „gehe hin und nimm den Rosenkranz!“ Darauf legte sie das Vögelchen auf die Erde; es war zu fest gedrückt und sein Flügelchen gebrochen; sie griff die Novize, die traurig hinsah, bei der Hand; die Kinder blieben zurück, eins sah das andere an. „Oh!“ rief Gritta, „hier müssen wir fort!“ „Wir wollen in die weite Welt ziehen“, meinten alle, „und Mermeta mitnehmen und sie zu ihrem Vater und ihrer Mutter bringen.“ – Am Abend war alles versammelt in einem großen Saal, da wurde von den Heiligen gelesen und gebetet. „Die heilige Petrea“, fing die alte Nonne an herzuschnarren, wie sie sich gesetzt hatte, „war eine Heilige vom ersten heiligen Kaliber, sie wollte an nichts Anteil haben auf diesem Erdenrunde. Die heilige Unnütziata hielt sich ein Lämmlein, die heilige Selleria einen Piepmatz und noch mehrere Heilige hielten sich so Gott wohlgefällige Tierchen; das dürfen so Heilige wohl tun, aber nicht Menschen, die sich zum Geruch der Heiligung so wenig anlassen, wie ein Ziegenbock.“ Sie warf einen drohenden Blick auf Mermeta. „Sie war sogar so fromm, dass sie ein vom Himmel Gesandtes Tier vor ihrer Tür hinweg wies und zu Gott. Vater sprach: ‚Ich will an nichts auf dieser Welt Teil haben‘, worüber sich Gott-Vater selber wunderte und ihr großes Lob zusprach. Und sie schlug mit Geißelhieben um sich, wenn sie sah, dass einer Freude hatte an einem Sonnenstrahl, der durch die Fenster drang! Ja, ja, das war eine Frau; aber die Geschichte schreibt auch von ihr, dass Gott-Vater in großer Verlegenheit war, wo er mit dem heiligen Tier hin solle! Es war die jetzt so bekannte Eichkatze. Gott-Vater hatte ihm im Eifer den Weihwasserwedel zum Schwanz gemacht und auch den Instinkt gegeben, das Schwänzchen dazu zu benutzen; er setzte es daher auf einen grünen Baum und richtete seinen Magen zum Buchkernfressen ein; als es aber danach einer alten Dame den Ofenschirm beschmutzte, nahm er ihm alles Heilige. Doch jetzt fängt die Legende an.“ Sie schlug ein dickes Buch auf, und bald lag alles auf den Stühlen im Schlaf. – Es war eine Stunde später, als sie in den Schlafsaal zu Bette mussten. Kaum war die alte Sequestra hinter der Türe verschwunden und alles still, so fingen die Kinder an unter einander zu sprechen. „Ach!“ rief Gritta, „könnten wir sie befreien!“ – „Könnten wir fort!“ riefen die andern. „Unsere Eltern beschwätzt gewiss die Alte, dass sie uns hier lassen.“ „Ach!“ rief Wildebeere, „ich möchte so gern in den Wald und die gute Pflanze Klares, die für den Magen ist, endlich finden; ich blieb damals dabei stehen, als ich medizinische Pflanzen suchen lernen musste.“ – „Ein eingemauertes Nönnchen werden, das mag ich nicht“, sagte ein anderes Kind. Sie fingen jetzt an, aus den Betten zu springen und haschten einander in dem weiten Saale, doch es knisterte draußen vor der Tür. Alles flog in die Betten; die Nonne Sequestra trat herein mit einer Kerze in der Hand, sie beleuchtete die mit Herzklopfen sich schlafend Stellenden und ging; noch ein Weilchen flüsterten Gritta und Margareta, dann ward im Saale alles still. Der andere Morgen war Sonntag. Nach der Messe war die Mermeta hinausgeschickt, die reifen Beeren von den Johannissträuchern zu lesen. Gritta sah sie im Garten hin und wieder gehen, sagte der alten Sequestra, sie wolle auch Beeren lesen, und war in zwei Sätzen davon; bald war sie an ihrer Seite. Die Sonne beschien das Gesicht der jungen Nonne. „Ach!“ sagte Gritta, indem sie zu ihr aufsah, „möchtest du denn ewig im Kloster bleiben?“ Sie sah Gritta verwundert an. „Willst du nicht auch mit uns in die Freiheit kommen?“ Sie schüttelte traurig den Kopf. „Komm, wir wollen fort.“ – Es fingen die Glocken an, zum zweiten Gebet zu läuten. Sie ging. Gritta wollte noch einmal zurück in den Saal, da sah sie an der Klosterpforte die alte Sequestra bei dem Pater stehen, den Gritta nicht leiden konnte und der alle Tage kam. Die Alte meinte, alles sei beim Beten versammelt, und rief ihm lauter nach: „Nun gut, kommt heute Abend durch den Rauchfang! Ich habe Euch etwas über das Schloss von Rattenzuhausbeiuns zu sagen.“ Gritta lief fort, der kleine Pater grinste, und die Klosterpforte Schloss sich hinter ihm.
„Die Kinder wären ewig im Kloster geblieben und hätten ihr eingemauertes Leben fortgeführt“, sagte Gritta später oft, „hätte ich dies nicht gehört.“ – Der Sturm tobte am Abend selbigen Tages, der Regen strömte aus den Drachenmäulern, am Dach rauschte das Wasser herab und die kleinen Springbrunnen hüpften, gedrückt vom Regen wie die weißen Kobolde in der Nacht. Es war die zwölfte Stunde. Der Wind zog durch das Kloster, die Steintreppen herab durch die Gänge; es knisterten dort, wo das Holz zum Brennen stand, leise Tritte. Es war Gritta, die allein den Gang entlang schlich; der Wind spielte mit ihrem weißen Hemdchen, und ihre bloßen Füße zitterten auf den kalten Steinen. Sie schlich sich der Seite zu, wo die alte Nonne wohnte; als sie vor den Kamin kam, öffnete sie das vom Winde klagende Türchen; hier hatte sie früher, als die dienende Nonne krank war, eingeheizt und ein Loch bemerkt von einem herausgefallenen Steinchen, wodurch man in die Zelle der Alten sehen konnte; damals hatte sie es nicht gewagt. Der Regen drückte den Rauch herab in den Schornstein; ein Lichtstrahl drang durch das Loch; sie kuckte hinein. Ein hochgewölbter Raum von grauer Farbe, mit vielen Schränken und einem großmächtigen Kamin. Auf den Schränken standen Kessel und allerlei wunderlich Zeug, in der Mitte ein viereckiger Tisch; vor dem saß im hohen Lehnstuhl die Alte, die Augenbrauen fürchterlich drohend zusammengezogen. Die Lampe warf einen hellen Schein auf ihr Gesicht und ließ all die Runzeln fast eines Säkulums sehen; sie rieb die mageren Hände, dass es knackte. Vor ihr lag ein Buch mit wunderlichen Buchstaben und Zeichen, von bunter Farbe durcheinander geschlungen; sie bog zuweilen sich vor, guckte nach dem Kamin und fiel wieder in den Stuhl zurück, aus dem dann große Staubwolken herausflogen. Plötzlich drückte sich im Kamin, in dem nur ein sparsames Feuer brannte, der Rauch nieder; es erschienen ein Paar Füße, glitten über die rauchende Glut hinab, und der Mönch stand im Zimmer. Er schüttelte den Regen von der braunen Kutte. Gritta standen vor Schrecken die Haare zu Berge. Die Alte richtete sich auf und rief. „Guten Abend, Herr Pater!“ Er schlurrte mit den Sandalen über den Boden zu ihr hin, setzte sich an ihre Seite und stützte sich auf. Während der Regen gegen die Fenster stürmte, begann ein Gespräch: – „War die Ratte schon da? Sie hat es bestimmt auf heut Abend versprochen!“ – Sequestra schüttelte den Kopf. – Sie schwiegen; nach einer Weile hob er an: „Ob sie wohl schon das Pergament zerfressen hat? – Ich bin mit dem Vormund zusammen gekommen; er behauptet steif und fest, er könne nichts dafür, dass die Gräfin den alten Grafen geheiratet habe; ihr Vermögen und sie hätte er sonst sicher ins Kloster geschafft. Wir würden es noch bekommen; das Testament läge bei ihr, sagte er mir noch einmal, die Abschrift wolle er vernichten. Hat nun die Ratte das Testament zerfressen, so haben wir gewonnen Spiel, dann wäre bloß noch das Letzte der Mutter da, als Witwe, wonach das Vermögen uns zufällt, wenn sie nicht ins Kloster geht.“ In diesem Augenblick raschelte es; etwas Dunkles entwickelte sich aus einem Loche unter dem Kamine, in dem die Kohlen nur noch Funken sprühten, und heraus kam eine Ratte. Sie stellte sich aufrecht und putzte sich mit der Pfote den langen Bart, ganz gräulich, räusperte sich und fing zu reden an, wobei sie gemütlich brummte, so dass die Alte aufguckte. „Ich habe der Gräfin die Vermachung gefressen; es schmeckte nicht übel, denn das Pergament war fett aus Rache, dass sie das kleine Ding, die Gritta, in die weite Welt geschickt hat. Der alte Müffert sagte zwar, unterwegs sei ihm das Kind entlaufen; aber Leute von unserm Verstande glauben das nicht, obwohl er sich jämmerlich anstellte. Der alte Graf hat ihn davon gejagt und ist, o Wunder! schwermütig geworden und bedauert, oft nicht zuckersüß gegen das Kind gewesen zu sein.“ Hier endigte die Ratte, wartete ein Weilchen, aber da die Alte schwieg, sprach sie: „Jetzt verlang‘ ich meinen Lohn.“ – Sequestra öffnete ein altes schnörkeliges Schränkchen, in dem Töpfe und Phiolen standen, und holte ein lieblich duftendes Schmalztöpfchen heraus. Der Pater sah neidisch die Ratte an.
„Du allerliebster Schrank,
Mit deinem Inhalt süß!
Knappert sich’s Rätzlein ein Löchlein drein,
So wird’s bald so fett wie’s Paterlein sein.“
So sang die Ratte und verschwand. Jetzt begannen die beiden ein tolles Wesen: die Alte holte einen Kessel, mit kuriosen Zeichen eingegraben, holte Kräuter aus allen Ecken; der Kessel brauste, die Kohlen leuchteten. „Niemand weiß“, hob die Alte an, „dass das Kind Gritta hier ist; lebt nun der alte Graf nicht mehr, dann wird sie wohl Nonne sein, und wir treten mit ihren Ansprüchen auf die alte Burg hervor. – „Und dort“, sagte der Pater, seine Augen glühten und kugelten vergnügt in seinem Kopf herum, indem er schnell über seine Brust strich und, an den Bauch kommend, diesen sanft klopfte, „dort werde ich mir eine Klause bauen, mich einnisten und auf das schlechte Menschengeschlecht herabblicken, es regieren. Was wird dann aus den übrigen Schäfchen?“ „Oh, ich habe die Väter und Mütter schon alle beredet, sie hier zu lassen. – Der Pater lächelte befriedigt. Gritta schlich schnell zurück durch die Gänge. Alles schlief, nur Margareta, die es wusste, wartete ängstlich. Nachdem sie zu ihr ins Bett geschlüpft war, erzählte sie, was sie gehört und gesehen hatte, und die beiden Kinder berieten sich, wie sie alle entfliehen könnten. Gritta hatte seit einiger Zeit, als sie an der Klostermauer auf- und abspazierte und an die Freiheit dachte, ein paar lose Steine in der Mauer gesehen; wie sie nun so dastand und bedachte, wie man sie loslösen könne, dass es ein Loch würde um zu entwischen, bemerkte sie, dass kleine Steine über die Mauer und vor ihr in den Sand flogen. Neugierig hob sie eins auf, das ihr zu Füßen gefallen, und sieh, es war deutlich der Name Ingurd auf das Steinchen geschrieben. Sogleich erinnerte sie sich, dass oft, wenn sie mit der jungen Nonne allein gewesen war, diese ihr von ihrem Bruder Ingurd erzählte; er hätte gesagt, da er noch nicht erwachsen und sie im Kloster besuchte, wo sie schon als Kind war, er wolle sie aus dem Kloster holen, und wenn er hundert Jahre um das alte Gemäuer streichen müsse. Sie schwieg dann jedes Mal traurig still. Schnell holte Gritta eine Kohle und schrieb, so gut sie konnte, „Mermeta“ auf ein Steinchen; sie zielte, und es flog über die Mauer. Sie wartete nicht lange, so flog ein Stein vor ihr nieder; ein kleiner Brief war darangebunden, hastig machte sie ihn ab; oben drauf stand „Mermeta“. Nach den Metten, als sie entwischen konnte, lief sie in Mermetas Zelle, wo diese eifrig spann. Gritta hockte nieder und schaute ihr unter die Augen, dann fing sie an: „Mermeta! Mermeta, willst du mit uns fort? – Willst du? – Wir können fort.“ Diese sah erstaunt auf. – „Komm, du kannst!“ – „Das geht nicht“, sagte Mermeta. – „Wie soll man je aus diesen Mauern heraus kommen? Und wenn ihr auch es könntet, ich gehe nicht.“ „Da! – sagte Gritta und schob ihr das Briefchen in die Hand und lief davon, weil sie die Schritte der alten Sequestra in der Ferne hörte. Am anderen Morgen kam Mermeta an ihr vorbei gegangen. „Ich gehe“, sagte sie leise, indem sie auf das Briefchen in der Hand zeigte.

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