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Märchenbasar

Das Leben der Hochgräfin Gritta

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Vom Walde her kam ihr Margareta entgegen; sie erzählte ihr, was sie in der Stadt erlebt, während sie durch die dunklen Bäume gingen bis zum Platze, wo die andere waren. Sie hatten Feuer gemacht, es leuchtete über das Gras; durch das dunkle Laub drängte sich der Rauch. Unten saß am Feuer, das lustig knisterte, Veronika und schaute zu dem Baum hinauf, in dessen Ästen Wildebeere saß. Kamilla hatte ihren goldblonden Kopf behaglich in Veronikas Schoß gelegt und schaute mit ihren blauen Augen, in denen sich das Feuer friedlich spiegelte, in die Tiefe der Blätter. „Wo sind die andern?“ fragte Gritta. „Holz sammeln“, sagten sie. Bald kehrten sie zurück mit Reisern bepackt. Margareta hängte die Wurst an einem Stock übers Feuer und briet sie. Das Feuer erleuchtete die mit Heißhunger zuschauenden Augen, die bei jedem Schmalztröpflein, das herunterfloß von der lieblich duftenden Wurst, begehrlich blinkten. Margareta hatte sich gerade so gestellt, dass der Dampf Wildebeere im Wipfel des Baumes gerade in die Nase stieg, damit sie herabkomme. – Sie blieb sitzen und blickte in den dunkelblauen Himmel, der mit Sternen übersäet durch die Zweige schimmerte. Unterdessen aßen unten sich alle satt, und Gritta streute die Krumen in den Wald für die Vögel. Bald wurden die Kinder müde und streckten sich ins Gras. Gritta und Margareta saßen noch bei dem verkohlenden Feuer. „Hör“, sagte Gritta, „morgen gehen wir in die nächste Stadt und bleiben ein paar Tage, um auszuruhen. – Jedes sucht sich ein Unterkommen.“ Sie flüsterten noch leise, dann versank Margareta im Schlaf; Gritta wachte, sie störte dann und wann in den Kohlen, doch schlief sie bald ein. Wildebeere weckte sie nicht, sie sah in die Ferne, ins nebliche Tal mit seinen Wäldern. Das stille Dorf war zum Morgen erwacht mit seinen roten Ziegeln und Strohdächern; zwischen Busch, Wiese und Weißdornhecken stieg lieblich der bläuliche Rauch der Hütten in die Morgenluft empor. Da hörte sie in der Ferne Jagdhörner und Hundebellen. „Wacht auf!“ rief sie den andern herab, „die Jäger kommen.“ Die Mädchen erwachten und sprangen schnell auf und nahmen ihr Bündel. Wildebeere glitt am Baume herab, und Gritta fing an zu singen; sie machten sich marschfertig und wanderten auf die nächste Stadt zu, die sie in der Ferne liegen sahen. „Dort“, sagte Gritta, „bleiben wir ein paar Tage.“ So besprachen sie sich, bis sie auf der Wiese anlangten vor dem Tore. „Hier“, sagte Gritta, „finden wir uns nach sechs Tagen wieder zusammen.“ Nun trennten sie sich, um durch verschiedene Tore einzugehen. Gritta ging durch das alte Tor, das vor ihnen lag, mit Margareta und Kamilla. Niemand bemerkte sie, denn es war Jahrmarkt und Sonntag, und die Spitzbuben hatten geruhet, die werte Ortsobrigkeit in Bewegung zu setzen, deren Hauptteil die Torwärter waren. Die kleinen Häuser mit den Giebeln waren mit wasserspeienden Drachen belebt. – Sie kamen an einen Röhrbrunnen, wo die kleinen Seegötter altadlichen Geschlechts wie zierlich aneinander gehängte Würstchen sich auf Delphinen balgten, die die Wasser aus ihren Nüstern springen ließen, in der Mitte der Seegott mit dem Dreizack, ein fürchterlicher Mann, wie ein angeknapperter (wahrscheinlich durch die schlechte Behandlung der Gassenbuben) Spritzkuchen aussehend. Gritta sagte Margareta und Kamilla Adieu und bog in ein gelbes Gässchen. Alles war still und öde, denn die Leute waren auf den Markt gegangen; da hörte sie eine Stimme aus einem kleinen grünen Hause zu einer Harfe durch die offnen Fenster. Sie machte die Tür auf zur Seite des Hauses und ging die kleine, schiefgetretene Treppe hinauf, von der sie immer halb wieder herunter musste, um einen Ansatz zu nehmen weiter zu kommen. Oben streckte ein Fliederbaum seine Zweige durch einen wurmstichigen Fensterrahmen; sie öffnete die Tür. Da saßen zwei alte Damen im Zimmer; die eine strickte an einem ungeheueren Strumpf, über ihr saß ein Kanarienvogel im Käfig mit grünem Kraut behangen. – Neben einem großen Nußbaumschrank, auf dessen Sims, die schönsten Borsdorfer Äpfel aufgereiht bei alten Kannen und Kaffeetassen standen, saß die andere, die zur Harfe sang. Sie wollte eben ein neues Lied anfangen, als sie sich umsah. „Was willst du, mein Kind?“ fragte die Dame, von ihrem großen Strumpf aufsehend. „Dienen!“ sagte Gritta. – „Du bist zwar klein, aber für unsre Bedürfnisse groß genug. Du hast wohl gehört, dass unsere Grete fort ist, sie war nicht größer als du.“ – Sie fragte Gritta nicht weiter viel und schickte sie in die Küche. Hier standen viel Tellerchen und Töpfchen, und es war recht heimlich und schön, denn das Kammerfenster führte in den Hof, wo der Fliederbaum stand. Es ward Gritta bald heimisch bei den zwei alten Jungfern. Sie kochte in einer großen Kanne Kaffee, schüttelte die hohen Federbetten unter den weißen Thronbetthimmeln, und die beiden Alten hatten sie gern, denn sie lachten behaglich, wenn sie den Kaffee gut gemacht hatte, und schauten mit ihren langen Nasen über die dampfende Tasse und klopften sie freundlich auf die Wange. Oben im Hause hörte die kleine Gritta manchmal einen sonderbaren Lärm: es schrie und trampelte; auch hatte sie ein kleines Mädchen öfter gesehen am Abend hinaufschlüpfen, aber am Morgen musste sie wohl früher weggehen, als Gritta erwachte. So viel sie in der Dunkelheit erkannte, hatte das wilde Kind eine Trommel auf dem Rücken und hielt etwas am Bande unter ihrer Schürze. – Am Abend, wenn sie dachte, das Kind werde bald kommen, füllte sie ein Schüsselchen mit Brei und stellte es vor die Tür; denn es kam ihr vor, als müsste es hungrig sein. Nun guckte sie durch die Türritze. Die Kleine kam die Treppe herauf, als sie aus der Dunkelheit hervorkam, sah sie eine Weile das Schüsselchen an, indem ihre großen Augen vor Verlangen glänzten; sie näherte sich, stellte die Trommel hin und fing heftig an zu essen, dann holte sie ein kleines Murmeltier aus ihren schwarzen Locken hervor, das dort warm gesessen hatte; es sperrte seine schwarzen Augen auf und fraß mit. In dem Augenblicke rührte sich Gritta hinter der Tür, das Mädchen schrak zusammen und floh. Das zweite Mal ging es wieder so; aber sie träumte den ganzen Tag von dem Mädchen. An einem Abend wollten die beiden Damen ausgehen, ein großes Wagestück für sie, wegen der Treppe; sie wussten nie, ob sie wieder herauf würden können, wenn sie unten waren. – Sie gingen. Gritta legte die Kienspäne zum hellen Feuer zurecht im Kamin und stellte diesmal das Schüsselchen auf die Erde in der Mitte der Küche, sperrte die Tür weit auf und stellte sich dahinter. Bald ging unten die Tür; sie hörte herauftappen, sah durch die Ritze das Kind zum Schüsselchen laufen, patsch, warf Gritta die Tür zu und stand da. Die Kleine stürzte nach der Tür, Gritta hielt sie fest, obwohl sie anfing zu kratzen und kniff und biss wie eine wilde Katze; so umschlang Gritta sie fest und legte, da sie stärker war, sie sacht zu Boden. Das Kind lag vor ihr, die Flamme im Kamin erhellte sein Gesicht, die schwarzen Locken waren zurückgeflogen, es guckte mit seinen großen schwarzen Augen, in denen das Feuer sich spiegelte, Gritta wild an. „Halt, kleine Katze“, sagte diese, „halt, sei ganz still!“ Die Kleine blieb liegen, indem sie nach der Tür blickte. Gritta holte einen rotbackigen Apfel und zeigte ihn ihr; da sprang sie auf den Apfel zu, blieb aber ein paar Schritte von ihr stehen und starrte sie an. Gritta gab ihn ihr, und sie ward vertrauungsvoller; sie hockte vor dem Kamin und betrachtete ihren Apfel. Gritta setzte sich zu ihr und schlang ihren kleinen Arm um sie; das ließ sie geschehen. Erst stieß sie einzelne Worte heraus, dann sprach sie lange, aber von Dingen, von denen Gritta nichts wusste. „Hast du einen Vater?“ fragte Gritta. – „Was?“ sagte die Kleine, „der Mann mit dem Stock ist sehr böse!“ – „Wer ist denn das?“ – „Ja, ich war klein“, sagte sie und besann sich, „da hat er mich weggenommen, wie ich draußen war bei den Bäumen.“ Sie schwieg, dann sah sie erschrocken in die Höhe. „Ach!“ rief sie, nach dem Murmeltierchen laufend, das überall in der Küche herumsprang, „ach, was wird er mich schlagen! Ach, Mädchen mache mir auf, aber“, flüsterte sie ihr zu, „ich laufe einmal davon.“ „Ach“, rief Gritta, „bist du bei einem bösen Mann, der dich schlägt, – und hast weder Vater noch Mutter?“ – Sie nickte. – „Willst du mit uns ziehen, mit vielen kleinen Mädchen über Berg und Tal? Und haben wir sie zu ihren Eltern gebracht, dann kommst du mit mir nach Haus, und ich verlasse dich nicht, wenn du deinen Vater und Mutter nicht findest. – Dann musst du aber morgen früh kommen, wenn es noch dämmert.“ Die Kleine nickte, dann nahm sie ihr Tier und rief: „Was wird er sagen, da ich heut so wenig verdient, und habe doch den ganzen Tag an der Ecke der Straße gestanden mit meinem Tierchen und getrommelt.“ – Sie lief die Treppe hinauf, Gritta horchte ihr nach; als sie kaum oben war, hörte sie wieder lärmen. Gritta langte den Besen hervor, lief die Treppe hinauf; da war eine wunderliche Wirtschaft auf dem Vorplatz, von schreienden Papageien und Affen, und in der Stube hörte sie zanken; aber auf einmal ward es ganz still, Gritta schlich herunter in ihr Bettchen. Bald kamen die alten Damen. Sie schlief recht süß, bis die Morgensonne in die Küche schien; da dachte sie mit Trauern, dass das kleine Mädchen wohl nicht kommen würde. Sie küsste ihre beiden alten Jungfern in den weißen Betten leise auf die Stirn und legte jeder eine Rose aufs Bette; dann ging sie herab, vor der Tür stand das kleine Mädchen. Gritta war glücklich und gab ihr ihre Hand; so verließen sie das kleine, stille Haus. Die Hähne krähten den Morgen an, es war alles noch stille. Der alte Soldat marschierte schnaufend in der Morgenluft vor dem Tor auf und ab; er sah die beiden Kinder nicht, weil man damals die Kragen so steif und hoch trug, dass man nur den Himmel sah, eine gute Gesellschaft; er ging in gemütlicher Anschauung in ihr verloren hin und her. Die kleine Hochgräfin und Harmoni schlüpften zwischen ihm und der werten Stadtobrigkeit hindurch, da standen sie auf der betauten Wiese. Die andern kamen schon und freuten sich, und bald war die kleine Harmoni heimisch unter ihnen.
Als sie an ein Wässerchen unweit der Stadt kamen, sahen sie einige Jungen an einem Teiche beschäftigt, sie hörten sie von ferne schreien. Als sie näher kamen, sahen sie etwas im Teiche plätschern; ein kleiner, schwarzer, junger Hund, ein Pudel, rang mit den Wellen; ein Stein war ihm um den Hals gebunden. „Heda“, sagte Gritta „lasst das Hündchen leben!“ „O nein“, sagten die Buben, „seht, wie es zappelt“. „Hallo zu!“ rief Gritta und lief den Mädchen voran auf die Knaben los, die erstaunt und dumm dastanden; dann liefen sie lachend davon. Nun schürzte Gritta sich hoch und holte das Hündchen heraus, fröhlich über den Sieg ohne Kampf, und sich ihres furchteinflößenden Eindrucks bewusst, führten sie das Hündchen an einem Band triumphierend davon. Sie wanderten auf der Landstraße; kam ein Fuhrmann, der freundlich war, so ließ er ein Paar davon aufsitzen und knallte lustig mit seiner Peitsche. „Bald sehen wir die Stadt, wo, Margareta, dein Vater wohnt und meiner Mutter Amme.“ So war es, in der Ferne sahen sie glänzende Dächer der Häuser und Kirchtürme. Als sie durch das Tor gingen, welche Herrlichkeit! Da kamen in Sänften schöne geputzte Frauen. Erker voll Blumen, hinter denen liebliche Mädchen scherzten. Was für Wurst- und Bretzelläden! „Ach, das ist die und die Straße“, sagte Margareta. „Aber, Gritta, heute Nacht bleib ich noch bei dir und Frau Rönnchen, und morgen bringt ihr mich zu meinem Vater.“ Sie fragten einen alten Mann, der die Straße herabkam, nach dem Müllergäßchen; er wies sie hin, sie sahen ein kleines Haus, ein Birnbaum sah über die Hofmauer mit großem Torweg. „Ach, das muss Frau Rönnchens Tor sein, so beschrieb sie es“, sagte Gritta; sie gingen durch ein Seitenpförtchen im Torweg. Die Hühner gackerten unter dem Baum, es war so heimlich. „Ach“, sagte Margareta, „morgen sind wir vielleicht getrennt, hätten wir doch ein Vaterhaus!“ Eins sah das andre an. Gritta lief voraus die Treppe hinauf und steckte den Kopf zur Tür herein; da saß die alte Frau am Kaminfeuer und rieb die Hände, sie guckte ins Feuer, über dem der Kessel hing. – „Frau Rönnchen“, rief Gritta, „was macht sie? Da bin ich!“ – „Meine kleine Hochgräfin? – Ei, wo kommst du denn her, Kind“, rief die Frau. „Ach, lieber Himmel“, rief sie, auf ein junges Mädchen blickend, das einen Koffer einpackte, „sie reist fort mit ihrem Mann, der ein Schiffer ist. Gott hat dich mir zum Trost geschickt.“ Sie umarmte Gritta aufs herzlichste und erblickte mit Erstaunen die vielen Kinder, die Gritta gefolgt waren. „Wer sind denn die?“ – fragte sie. „Lass nur gut sein, das will ich dir heut Abend schon erzählen“, sagte Gritta. Die Kinder mussten jetzt helfen eine Suppe kochen, und die Alte ordnete freundlich alles an. Eins holte die Eier der Glucke unter den Flügeln weg, worüber der gesamte Hühnerstall in Alarm geriet, weil heut schon die gewöhnliche Zahl von Frau Rönnchens Eierbedarf geholt war und die Hühner ihr stilles Gemüt eben einer träumerisch gackernden Mittagsruhe hingaben. Petrina versuchte sich am Melken der Ziege und Wildebeere hielt sie fest, worauf die Ziege ihnen auf einmal einen sehr artigen Diener von hinten machte und mit ihrem linken Hinterfuß den Topf aus Petrinas Hand nach fernen Höhen, das heißt auf den Mist, absendete. Dann kletterten Wildebeere und Maieli in die dunklen Zweige des Birnbaums, um ihm die Last zu erleichtern. Die Suppe wurde von Frau Rönnchen eingerührt, alle standen dabei und schauten, wie es gut aus dem Kessel dampfte; als sie fertig war, füllte jedes sein Tellerchen; so gut hatte es ihnen allen lange nicht geschmeckt. Frau Rönnchen saß oben an und sah mit Behagen zu, wie der gute Brei seinen Weg in die kleinen Mäulchen fand. Gern hätte sie manches gefragt, aber sie fürchtete, dadurch die Esslust zu unterbrechen; als sie aber nach der Mahlzeit ihren Sorgenstuhl an den Herd rückte und die Kinder sich um sie gesetzt, schaute Frau Rönnchen Gritta ungeduldig an; diese erzählte, das Hündchen Scharmorzel legte sich zu Frau Rönnchens Füßen. Wildebeere, die immer gern hoch saß, hatte sich auf die Lehne des Stuhls gehockt und neckte die Alte, indem sie ihr bald in das Busentuch zerpflückte Blumenblätterchen herabregnen ließ oder ihre Mütze zu einem wunderbaren Turmbau oben aufbauschte und ihren zahmen Vogel darunter steckte, so dass, wenn sie die Mütze wieder zurecht schob, er schnell herausflatterte; die Frau lachte dann mit den Kindern jedes Mal über ihren Schreck. Als Gritta an die Flucht kam, hörte sie aber sehr ernst zu und wollte gar ein wenig zanken, als sie geendet. – Aber zum dritten und letzten Schreck kam auf einmal Wildebeere selbst statt der Blumenblätter in Frau Rönnchens Schoß herabgeregnet und verlor sich in Artigkeiten und küsste sie ganz ab. Das andere war, dass Frau Rönnchen dachte, sie hätte es wohl eben so gemacht; sie sagte also nichts, als. „Es ist gut, liebe Gritta, dass du sie herausgebracht hast; fahre nur so fort und bringe ein jedes zu seinen Eltern und erzähle denen, was für ein böser Ort das war, und morgen früh bringst du Margareta zu ihren Eltern, da will ich mit und Fürbitte tun. Aber vorher erzeigt ihr mir die Liebe und bringt meine Tochter auf das große Schiff und helft ihre Sachen dort hintragen; ich selbst mag nicht hin, denn es würde mir zu weh ums Herz, müsste ich mir das große Meer ansehen und denken, dem vertrau‘ ich sie an. Drum bin ich lieber nicht bei der Abfahrt.“ Die Kinder sagten alle ja! – Frau Rönnchen sah sie sich nach der Reihe an und bemerkte, dass in den blauen, braunen, grauen, schwarzen Augen eine sanfte Dämmerung auftauchte. So machte sie schnell ein langes Strohlager, bald lagen die kleinen Müden neben einander gereiht in tiefem Schlaf. Während noch die Tochter bei der Mutter saß und weinend ihr Haupt in ihren Schoß legte, gab diese ihr viele gute, goldne Lehren.
Als der Morgen kam, bereiteten sie alles zur Reise. Sie war still, als sie aber an der Tür stand und ihr junges Kind umarmte, weinte sie die bittersten Tränen.
Sie gingen durch viele Straßen, bis an den Strand. Da war ein Wald von bewimpelten Masten, stolz wogten die Schiffe auf dem weiten Meer. Wie verwundert sahen die Kinder umher! Maria, die junge Schifferfrau, ging auf ein Schiff, das schon zur Abreise gerüstet war. Die Schiffsleute liefen alles zur Abreise vorbereitend an ihnen vorüber, sie grüßend, und ließen sie samt den Kindern durch. Unten in der Kajüte angelangt, nahm Frau Rönnchens Tochter den Hausrat in Empfang und lud und stellte und packte ihn zurecht, ein jedes half mit zurechtrücken. Scharmorzel sprang bellend unter ihnen herum und riss ihnen an den Kleidern, als wolle er sie wieder ans Land zerren. Als sie aber fertig waren, hatte Maria noch so viel zu sagen für ihre liebe Mutter, und es waren so teure Angelegenheiten; bis die alle durchgesprochen waren, da verging wohl eine geraume Zeit. Endlich trennten sie sich und gingen die Schiffstreppe hinauf. Die Matrosen saßen ihnen mit dem Rücken zugekehrt am Ruder; ein frischer Wind strich ihnen entgegen und in die Segel, ringsum das blaue Meer und der Himmel. Das Schiff war fortgefahren! – Sie liefen die Treppe hinab und riefen durcheinander; die gute Maria war auch voll Schrecken. Der Schiffskapitän, ein brauner Mann, kümmerte sich nicht viel darum; er versprach, er wolle sie irgendwo absetzen. Als Marias Mann kam, meinte der, er traue dem Kapitän nicht sehr; so lange günstiger Wind sei, würde er wohl fortsegeln. Sie waren voll Schreck und Verwunderung, das Herz pochte ihnen, und Maria tröstete sie. Als es gegen Abend war, gingen sie hinauf. Das Abendrot färbte das Meer, von ferne kam eine Welle nach der andern angerollt, es war so herrlich, dass sie sich ruhig niedersetzten. Die Matrosen hörten auf zu arbeiten; ein alter Mann mit seinem Pfeifchen nahte sich ihnen. Er blies den Rauch vor sich her und schaute sie vertraulich an. „Nun, kleine Landratten, was macht ihr denn hier?“ fragte er Gritta, die Mut zu ihm fasste. Sie ging mit den andern ihm nach auf das Vorderverdeck, wo sie sich niedersetzten, und Gritta erzählte dabei dem Alten, wie sie auf das Schiff gekommen waren. Er horchte sie verwundert an und meinte auch, der würde sie nicht absetzen; als sie noch so saßen und dem Spiel der Wellen zusahen, kam ein alter Jude aus der Kajüte; er ging auf den Alten zu und drückte ihm herzlich die Hand. Dieser machte ihn mit den Kindern bekannt, der alte Jude setzte sich zu ihnen und bat, der Bootsmann Thoms möchte doch heute Abend den lieben Kindern da eine recht schöne Geschichte erzählen, um ihnen die Sorgen ein wenig zu vertreiben. Thoms nickte freundlich. Gritta setzte sich Arm in Arm mit Margareta neben Harmoni, die über den Bord gelehnt in die Wellen sah, und um sie herum Wildebeere, Maieli, Kamilla, Petrina, Reseda, Lieschen, Elfried. – „Ich war ein junger Bursche“, erzählte Thoms, „da lag ich am Lande trocken, weil ich kein Geld mehr hatte. Das Beste ist, du machst dich wieder auf die See, dachte ich mir. Ich ging also auf das Schiff, das zunächst die Anker lichten sollte, ein fixer Segler von gar absonderlichem, aber stolzem Bau. Ich wurde dem Kapitän gemeldet, der war ein Mann! — In der Kajüte sah es wunderlich aus; sie war wie ein Zelt mit buntem Zeug ausgeschlagen, da saß er auf roten, weichen Samtpolstern, hatte eine große Schale mit dampfendem Getränke vor sich stehen, dessen Geruch mich schon betäubte. Seine Mütze war mit Gold besetzt, dass keine Linse dazwischen Platz gehabt, ein bunter Schlafrock hüllte ihn völlig ein; sein spitzer, schwarzer Schnurrbart ging bis zu den Ohren. Nachdenklich stieß er die Rauchwolken von sich, die sich kreiselnd durch die offne Luke in die Luft davon machten; er guckte ihnen lange nach. Auf der Lehne seines Polsters saß ein großer Affe, der mir die Zähne fletschte und wie der Herr Kapitän aus einer langen Pfeife rauchte. Endlich nach langem, stillschweigendem Warten sah er mich fragend an. Als ich ihm mein Gesuch vorgetragen, willigte er ein unter zwei Bedingungen, erstens solle ich nicht fragen, wo die Fahrt hingehe, noch womit das Schiff geladen. Nun, ich war ein junges Blut; es war das Schiff, das zunächst absegelte; meine große Reiselust, und ich weiß nicht, was noch, bewogen mich, dass ich zuschlug. Den andern Morgen reisten wir ab; ich hatte bemerkt, dass der Kapitän am Abend vorher Kisten von gewöhnlichem Holz sehr vorsichtig in der Dämmerung aufs Schiff transportieren ließ; er hatte schwarze Sklaven, die diese Arbeit verrichteten. Ich hatte weiter nicht darauf geachtet. Wir hatten guten Wind, das Schiff ging frisch in See; wir kamen in mehrere Häfen, keiner durfte ans Land. Morgens ging der Kapitän ans Land, abends kam er mit den einundzwanzig Sklaven nach Haus, die Kisten getragen brachten; diese verschwanden jedes Mal im untern Schiffsraum, nie wurde darüber gesprochen. Die übrigen Matrosen waren zu denselben Bedingungen geworben wie ich; aus unbezwinglicher Neugierde fragte einer einen Sklaven; dieser blieb stumm, aber am andern Tag erhielt er wegen einem unbedeutenden Fehler starke Schläge. So ging es noch einem, und ich hütete mich wohl zu fragen. Anfangs redeten wir viel darüber unter uns, aber später ward es uns ziemlich gleichgültig. – Wir segelten lange so fort, da brach eines Abends ein großer Sturm aus, er raste die ganze Nacht. Am andern Morgen wussten wir oder der Kapitän vielmehr nicht, wo wir waren. Er stellte sich aufs Verdeck und schaute durch ein großes Fernrohr in die Weite; auf einmal rief er: „Ich sehe Land!“ – und befahl, das Steuerruder nach der andern Seite zu lenken. Gegen Abend, als die Sonne unterging, erschien eine wunderbar schimmernde Küste. Es waren Felsen von lila, weiß und gelblicher Farbe; eckig und platt ragten sie am Ufer in die Höhe; es liefen blaue, rote, grüne und violette Adern durch ihr Gestein, die in der Abendsonne glänzten. Als wir näher kamen, glaubten wir Menschen auf der Insel zu erkennen; aber es ward bald zu finster, als dass man es unterscheiden konnte. Als aber die Sonne wieder aufging und die Felsen erleuchtete, die uns am Abend so in Verwunderung setzten durch ihre Schönheit, so dass wir’s für Täuschung des Abendscheines hielten, so waren sie noch weit kräftiger gefärbt und so wunderbar schön anzusehen. Da wir keinen Menschen sahen, befahl der Kapitän zu landen, um frisches Wasser einzunehmen; ich und fünf andere gingen mit ihm, nachdem wir lange eine Stelle gesucht hatten, um das Ufer zu ersteigen. Die Felsen waren glatt wie Spiegel, bis nach und nach ein feiner bunter Sand am Boden zu sehen war. Oben angelangt, sahen wir eine weite Ebene, an deren Rand ein wunderbar majestätischer Wald emporstieg; wir gingen darauf zu. Als wir näher kamen, erkannten wir, dass der Wald aus hohen Blättern und prächtigen Blumen bestand, so groß wie bei uns die mächtigsten Bäume, und oben sahen wir verschiedene farbige Massen auf den Blumen ruhen. Nach langem Hinsehen und Forschen errieten wir, dass es Puppen sein müssten von Schmetterlingen, die zur Größe der Blumen passten, wie bei uns die Kleinen auch den Blumen angemessen sind, auf denen sie sich wiegen; sie waren aber so groß wie ein Mensch. Unser Erstaunen stieg aufs höchste, da der Kapitän an einer Pflanze hinaufkletterte und eine der Schmetterlingspuppen berührte, ein Geklingel anfing, das aus tausend verschiedenen Silberglöckchen zu kommen schien. Nun bemerkten wir, dass wirklich ein Faden mit Glöckchen behangen durch alle diese Pflanzen lief; augenblicklich darauf hörten wir ein großes Getöse, und zwischen den Blumenbäumen kamen eine Menge Menschen gelaufen, – wenn sie so zu nennen waren: ihr ganzer Leib war menschlich, nur waren ihnen Schmetterlingsflügel von der verschiedensten Art und Farbe angewachsen. Ich sah einige sehr schöne Jünglinge darunter; der Vorderste trat meinem Kapitän näher, ein Mann mit schwarzen Haaren, großen schwarzen, zornigen Augen, seine Flügel waren nach Art der Totenkopfschmetterlinge; die andern schienen ihn als ihren Anführer zu betrachten. Er fragte, was er sich unterstehe, die königliche Menschenzucht zu stören. Der Kapitän entschuldigte sich sehr höflich und sagte, wir seien Fremde, welche die Sitte dieser Gegend nicht kennen, und dass er bloß aus wissenschaftlicher Neigung geforscht habe, was diese großen Puppen enthielten. Der Anführer ließ sich hierdurch beschwichtigen, betrachtete uns mit Verwunderung und sagte, er wolle dem König unsere Ankunft melden. Sie zeigten uns hierauf eine bequeme Lagerstätte für die Nacht und einen Ort, wo wir süßes Wasser fanden, um unsere Tonnen zu füllen; einer der Geringeren, die bei uns blieben, uns Hülfe zu leisten, erzählte auf unsere Fragen, dass die Insel dem großen Schmetterlingsfürsten gehöre und dass die Puppen auf den Blumenbäumen die Kinder der ganzen Stadt seien, die hier ein Jahr lang an der Sonne gebrütet würden, bis sie ausfliegen. Die Glöckchen seien dazu, dass wenn etwa der böse Vogel Rock komme, um die Puppen zu stehlen, dann gleich die Wärter herbeilaufen, um ihn zu verjagen. Die Adeligen seien die vornehmen Puppen und die Geringeren so wie die Kartoffelraupenpuppen und Kohlraupenpuppen. Diese nannte er nicht; da ich aber diese Geringeren ansah, erkannte ich, dass es diese Gattung war. – Er erzählte noch viel über die Staatseinrichtung; dann legten wir uns zum Schlafen. Andern Tags wurden wir durch eine Deputation zum König gerufen. Die Sonne durchleuchtete die Straßen; ich kann die Herrlichkeit der Häuser gar nicht beschreiben; manche waren von Rubin, manche von Smaragd, andere waren gelb, andere blau, alles von dem Feuer der Sonne durchdrungen. Es kamen viele Leute vor die Türen, uns zu sehen; nur Frauen bemerkte ich nicht, sie schienen mir hinter dem Behang der Fenster hervorzulauschen. Endlich kamen wir in den Palast des Königs. Das ganze Dach schien mir aus einem Diamant zu bestehen, indem sich die Sonne tausendfältig abglänzte, und ihre Strahlen brachen sich untereinander in den mannigfaltigsten Farben. Wir zogen zwischen einer dichten Hecke von Hofkavalieren durch, die, mit den schönsten Flügeln begabt und in eine smaragdgrüne Seide gekleidet, uns begrüßten. Der König, umgeben von seinen Kammerherren und Hofherren, auf einem Thron von blitzenden Steinen, hatte schöne und besonders große Schmetterlingsflügel; eine goldene Krone schmückte sein Haupt. Er empfing den Kapitän aufs freundlichste, betrachtete ihn mit der größten Neugier, ließ sich von ihm über unser Land erzählen; kurz, es war ein sehr wissbegieriger Herr; er schien vorher gar nicht gewusst zu haben, dass es außer seiner kleinen, auf dem Meere schwimmenden Insel noch Land gebe. Die Kammerherren schwirrten daher. Bald wurde die Tafel aufgeschlagen und Speisen in köstlichen Gefäßen aufgetragen; wir wurden von schönen Schmetterlingsknaben von zartem Aussehen in herrlichen Gewanden bedient. Sie kredenzten lieblich schmeckendes und berauschendes Getränk und wehten dem Erhitzten mit ihren Flügeln Luft zu. Bei jedem Kompliment, das der Kapitän den Hofleuten machte, klappten diese mit den Flügeln, was wohl so viel wie bei uns der Diener sein soll. Ich glaubte mehrmals, dass sich die Vorhänge des Saales bewegten und Frauengesichter hindurch sahen; jedoch schien kein anderer es zu bemerken, so glaubte ich, dass ich mich wohl geirrt habe. Nach Tische beurlaubten wir uns beim König, um unser Schiff noch mit notwendigen Vorräten zu versehen. Der Kapitän übergab mir einige europäische Stoffe, die ich mit meinen Kameraden am Abend dem König überbringen sollte. Ich hatte meine Arbeit getan und legte mich aufs Verdeck hin in die Mittagssonne und besah den wunderbaren Farbenschmelz des Eilandes mit seinen Felsen, die in der Sonne strahlten. Den Vormittag hatte sich allerlei Schmetterlingsgesindel, auch Frauen darunter, die aber nur Sklavinnen waren, am Strande herumgetrieben; jetzt aber war wegen der Hitze alles leer. Da sah ich über die Ebene eine kleine Sklavin daher kommen; sie trug einen Korb mit Früchten und war in weiße Flore gehüllt. Sie eilte aufs Schiff zu und spähte umher; da sie mich erblickte, winkte sie mir; ich kam. „Wollt Ihr von diesen Früchten kaufen?“ fragte sie; ich bedeutete ihr, dass ich kein Geld habe. „Nun, so helft mir sie tragen, denn sie drücken in der Mittagshitze gar zu schwer“, sagte sie, „ich will Euch auch ein Paar davon schenken.“ Ich sagte, dass ich mehr ihrer angenehmen Gesellschaft wegen mitgehen wolle. Sie wickelte sich noch fester in ihre Schleier, und ich folgte ihr.“

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