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Märchenbasar

Das Leben der Hochgräfin Gritta

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Bis hierher hatte Thoms den aufmerksamen Kindern diese merkwürdige Geschichte vorgetragen. Es war spät geworden, denn so manche Fragen und Verwunderungsreden hatten sie verlängert. Die Schiffslaternen wurden angesteckt; sie wünschten gegenseitig gute Nacht und gingen schlafen in die Hängematten, die die gute Marie ihnen bereitet hatte; sie schliefen ziemlich beruhigt, überhaupt fing es an, ihnen auf dem Schiffe zu gefallen. Am andere Morgen gingen sie hinauf, ein lauer Wind wehte; eine schöne Küste mit blau abgezeichneten Bergen lag ihnen zur Seite, das Meer war herrlich, die Fische spielten in den Fluten; sie freuten sich alle auf den Abend. Die Sonne neigte sich zum Untergang; das Schiff kam mehr zur Ruhe, als der alte Thoms sich bereit setzte. Nachdem der alte Jude war herbei gekommen und die Kinder sich um ihn versammelt hatten, begann er, sein Haupt an den Mast gelehnt und aufs Meer schauend, während er kurze Rauchstöße aus seiner Pfeife blies:
„Als wir durch das Tor kamen, schlüpfte sie an den Wächtern vorbei in die kleine Straße hinein; nun bog sie von einer Straße in die andere, bis sie an dem Hinterpförtchen eines Hauses anklopfte. Ein Weilchen – und es wurde geöffnet; mit gewandter Hand packte sie mich und zog mich ins Haus, so dass mir der Korb mit Früchten entfiel und ich darüber stürzte; als ich aufstand war rings um mich Dunkelheit. Erschrocken und doch auch neugierig tappte ich der Wand entlang, fand eine Tür, klinkte auf und stand in einer großen Halle. Das Licht fiel von oben herein und beleuchtete die saphirblauen Wände; der große weiße Strahl eines Springbrunnens flog in der Mitte in die Höhe und plätscherte leise wieder hinab. Umher standen Gebüsche von in Gefäßen gezogenen Pflanzen; sie waren an vielen Orten ganz dicht und hoch; ich glaubte, als ich eintrat, hinter den Büschen ein leises Lachen zu hören, auch einige Gestalten verschwinden zu sehen. Als ich eine Weile mich umgesehen und der großen Herrlichkeit dieses Gemaches gar nicht satt werden konnte, setzte ich mich auf den Rand des Bassins; da klopfte mir die Sklavin auf die Schulter. Ich wollte schelten und fragte, warum sie mich allein gelassen. Sie legte den Finger auf meinen Mund und sagte: „Hab‘ ich dich so weit gebracht, so kannst du mir noch folgen, es soll dir nichts geschehen, aber ich muss dir die Augen verbinden.“ – Ich bedachte, dass ich in ihrer Gewalt war, und ließ es geschehen; sie nahm mich an der Hand und führte mich fort; nach einer Weile zog sie an einer Schnur, die einen Vorhang öffnete. „Hier, wenn du willst, löse deine Binde“, sagte sie und ließ mich los; es war alles still um mich, ich hörte keinen Laut. Nachdem ich die Binde abgenommen, sah ich mich in einem kleinen Gemach. Das Laub wiegte sich vor den offenen, bis zur Erde reichenden Fenstern, es füllte das Fenster und machte den ganzen Raum schattig; die Blätterschatten spielten auf den weichen Polstern, die an den Wänden entlang liefen und einen bunten Teppich umschlossen. Als ich so stand, bewegten sich die grünen Vorhänge; sie öffneten sich, ein Mädchen trat hervor; wo wäre der Maler sie zu malen? Sie war von blendender Weiße, und ihre sanften schwarzen Augen, von sammetartigen Wimpern beschattet, strömten einen schwermütigen Glanz. Der leise Hauch ihrer rötlichen Wangen, wer konnte sein sanftes Wechseln beschreiben? Sie atmete ängstlich und streckte zwei weiße, schlanke Arme nach mir aus; ich stürzte ihr zu Füßen. – „Verzeih meiner Sehnsucht, schöner Jüngling“, begann sie, „die dich zu mir herbrachte! Ich sah dich am Tische meines Vaters; man nannte mich sonst die Kalte, aber da ich dich sah, hörte ich auf kalt zu sein; ich fühlte, dass du mir bestimmt seist.“ Sie zog mich an ihre Seite auf den Sitz; ich sträubte mich dagegen, da ich zu ihren Füßen sitzen bleiben wollte, und ich, hingerissen von ihrer wunderbaren Schönheit, sprach ihr unbefangen meine Liebe aus. Wir plauderten lange. – Wenn sie fröhlich sich freute, dass es ihr gelungen mich herzubringen, oder wenn sie sonst scherzte, klappte sie leise mit ihren Flügeln; diese waren nicht wie die andern von matter Farbe, sie waren vom feinsten Purpur mit Gold vermischt. Als sie traurig über unsre Trennung weinte, ließ sie die Flügel hängen; ich hatte Mühe sie zu trösten. Bald kamen Sklavinnen, die unterbrachen uns. Es waren elf schöne Mädchen, die leise mit ihren bläulichen Flügeln im Zimmer herumschlurrten; sie brachten Früchte und kühle Getränke. Während eine Sklavin die Laute schlug, hatte ich Zeit sie anzusehen; denn wenn sie sprach, wagte ich nicht, meine Augen zu ihr aufzuschlagen, nur den Wohllaut ihrer Stimme trinkend. Es wurde später, und sie sagte mir, dass wir scheiden müssten. Ich überschüttete mit Tränen und Küssen ihre Hand; dann kam die Sklavin, die mich hergeführt, verband meine Augen und wir entfernten uns. Als wir dem Meere nahe waren, ließ die Sklavin mich los und floh eilend davon; ich nahm die Binde von den Augen. Es war schon dunkel; ich hatte noch meines Herrn Kapitän Geschenke zu besorgen. Schnell ließ ich die Matrosen die Ballen auf die Schultern nehmen, ich selbst war noch zu begeistert von meinem Abenteuer, als dass ich etwas tragen oder denken konnte. Als wir in des Königs Palast kamen, war der Kapitän schon dort, sehr aufgebracht, dass ich so spät erst kam. Der König saß auf roten Polstern, umgeben vom großen Hofstaat, der Kapitän saß neben ihm. Einzelne geflügelte Knaben, alle in rosenroten Röcken mit Goldsäumen, flatterten bedienend umher mit Getränken und Früchten. Die Wände, vom hellsten Lichte angestrahlt, im Kristallglanz, spiegelten alle Herrlichkeiten des Saales. Ich war sehr frohen Mutes, als ich die Stoffe aufrollte und sah, dass sie bei dem hellen Lichte sehr schön sich machten. Der König war sehr gnädig; uns wurden in seiner Nähe Polster hingelegt, und ich bemerkte während des Gastmahls, dass seine Blicke mehrmals mit Wohlgefallen auf mir ruhten. Auf einmal stand der Anführer, den wir zuerst im Walde gesehen, mit zornblitzenden Augen auf; er schritt auf den König zu und sagte ihm etwas ins Ohr. Des Königs Blicke sprühten Feuer; ich sah mit gespannten Sinnen allem diesem zu. Der Anführer hatte sich zurück auf seinen Platz begeben; da stürzten zwei Sklaven aus dem Haufen hervor, packten mich und brachten mich zu den Füßen des Königs, mit dem Antlitz zur Erde. – „Wahrlich, es ist, es ist!“ rief dieser, „der Zorn treffe ihn des mächtigen geheiligten Königs!“ – Der König sprach immer von sich selber wie von einer dritten Person. – „Sein Zorn möge dich vernichten! Wie kommst du, Kot seiner Sohlen, dazu, dass dich der Flügel der Prinzessin Merkusuli streifte?“ Ich wurde auf diese Worte mir nichts dir nichts wieder aufgepackt, und bald befand ich mich in einem dunkeln Loch. – Wie ich allein war, überließ ich mich erstaunungsvollem Schmerz; ich sann hin und her über den Namen Merkusuli. Der Morgen dämmerte durch ein kleines Loch, als mir die Worte des Königs einfielen, der Flügel der Prinzessin Merkusuli habe mich berührt. Ich trat näher ans Licht und erblickte auf meiner Schulter ihren Flügelabdruck; meine Schöne musste mich zufällig damit berührt haben: sie war also die Prinzess Merkusuli! Ich zog den Rock aus und bewunderte den Gold- und Purpurstaub, bis ich vor großer Liebesmacht beinah verschied. Der Kerkermeister kam; nach langem Fragen kriegte ich heraus, der König wolle mich wahrscheinlich hinrichten lassen, weil nur die Prinzessin Merkusuli diesen Staub auf ihren Flügeln trage und ich daher bei ihr gewesen sein müsse. Als ich fragte, wer sie sei, sagte er, sie sei die Tochter von des Königs Bruder, und er erziehe sie, da der Bruder nicht mehr lebe, um sie später zur Königin zu erheben. Als er am zweiten Tage kam, antwortete er mir gar nicht; ich war von allem abgeschlossen, und meine Angst mehrte sich, je länger die einsame Zeit vorwärts schritt. Ich hatte mich eines Abends niedergelegt, beklommenen Herzens, da weckte mich etwas; ich rieb die Augen, der Kapitän stand vor mir und neben ihm eine verhüllte Gestalt; er befahl mir zu schweigen, ich solle schnell meine Kleider anziehen und ihm folgen. Als ich fertig war, führte er mich durch eine Tür fort, die ich nicht bemerkt hatte. Wir kamen in die freie Luft und gingen durch mehrere Straßen bis an das Meer, die Gestalt folgte uns. Das Schiff war segelfertig; als wir hinaufsteigen wollten, fiel mir auf einmal die Prinzessin Merkusuli ein. Ich sagte dem Kapitän, er solle mich zurücklassen, ich bleibe. – „Du bleibst, Geliebter?“ sagte eine zärtliche Stimme neben mir, und ich lag zu der Prinzessin Merkusuli Füßen, denn sie war die verhüllte Gestalt; sie erhob mich, und ich schwankte freudetrunken auf das Schiff. Unsere Abfahrt ging schnell von statten; der Mond stand groß über dem Meere und beleuchtete die bunten Felsen, Merkusulis Heimat; sie hatte die Schleier abgelegt, und ich hatte das Glück, sie in ihrer Schönheit zu bewundern. Das Wunderbare war, dass als wir von der Insel uns entfernten, ihre beiden Flügel gleich Rosenblättern abfielen und sie nun wie andre Menschen war. Sie lächelte und beruhigte mich, als ich dachte, dieser Verlust könne sie kränken, und erzählte mir, wie sie gehört, dass ich gefangen sei, und wohl diese heimliche Tür gekannt, sich aber nicht früher hingewagt, bis sie den Schiffskapitän davon benachrichtigt, der auf alles eingegangen sei. Wir trennten uns nun, weil sie sich zur Ruhe begab.“
Als Thoms so weit erzählt hatte, ermahnte er, dass es Zeit sei, nun auch schlafen zu gehen. Am andern Tage verhielt sich das Wetter noch immer schön, und am Abend fuhr Thoms fort zu erzählen.
„Am anderen Morgen harrte ich lange vergeblich auf dem Verdeck, die Prinzessin kam nicht. Ich fragte den Kapitän; der wendete sich von mir ab, ganz gegen seine Art; er sagte, er könne es nicht wissen, wo sich alle weggelaufenen Prinzessinnen befänden. Mein Herz ward schwer, und ich ahnte Unglück. Am Abend kam sie nicht, am andern Morgen nicht, meine Fragen wies der Kapitän ab mit dem Befehl, ich solle das Maul halten. Stiller Gram bemächtigte sich meiner; ich konnte mir die Sache nicht erklären und ich musste mehr wie einmal an die Kisten denken, denn es fing ein Argwohn in mir an zu dämmern. Meine Kameraden erzählten mir noch, dass, ehe der Kapitän mich zurückgebracht, wieder eine Menge Kisten angekommen seien. Was konnte der Kapitän in diesem Lande erhandelt haben? — Nach fünf Tagen brach abermals ein Sturm los, der uns an eine fremde Insel verschlug. Wir kriegten einen gewaltigen Schreck, als wir einen großen Schatten am Ufer auf und ab spazieren sahen, ohne dass wir ein Wesen gesehen hatten, das ihn warf. Eine fühlbare Magnetkraft trieb uns dem Lande zu; der Kapitän legte an, da es nicht anders ging. Da wir einmal so weit waren, konnten wir auch frisch Wasser einnehmen; denn wenn man uns was tun wollte, konnte man es, eben so gut auf unserm Schiffe uns anfallen als auf dem Lande. Der menschliche Schatten in eigentümlicher Gewändertracht schien sich zu erstaunen; er war durchsichtig grau, und man sah die Berge und Felsen der Insel durch ihn schimmern; plötzlich lief er hastig davon. Der Kapitän fasste Mut, er dachte, es müsse getan sein, und untersuchte die Insel nach allen Seiten. Als wir aus einer kleinen Sandschlucht heraus kamen, in der wir vergeblich Wasser gesucht, sahen wir, während keiner von uns ein Wort vor Angst sprach, nach dem Strande. Siehe da, ein graues Gewimmel füllte ihn, einen Schatten sah man durch den andere, während ein leises schluchzendes Flüstern die Luft durchdrang. Der Gewänderschatten eilte auf uns zu und zeigte uns den übrigen Schatten. Ich betrachtete sie. Welche verschiedene menschliche Schatten, und auch Häuserschatten, Baumschatten, kurz, Schatten von allem, was in der Welt existiert, liefen da herum! Alte griechische Tempel, gotische Kirchen, Moscheen, Sommerhäuser, Monumente, Bauernhäuser, Kuhställe, Hundehütten; die Schatten der Menschen waren in den verschiedensten Trachten. Wilde in Tierhäuten, Griechen in Gewändern, Ritter im Harnisch, alte Herrn in Allongeperücken, steifröckige Damen, kurz, aus den wunderlichsten Trachtzeitaltern. Der Schatten im Faltengewand eilte auf uns zu und fing an, mit uns zu sprechen; wir verstanden ihn nicht. Darauf nahten sich mehrere kolossale Häuserschatten, Tempel- und Kirchenschatten: jeder sprach eine verschiedene Sprache, keinen verstanden wir, bis zuletzt ein deutscher Bauernhausschatten uns fragte, wer wir seien. Mein Kapitän sagte mit einer tiefen Verbeugung, dass sein Schiff das Unglück und zugleich das Glück gehabt hätte, fügte er schnell hinzu, an diese Insel verschlagen zu werden; die allerhöchsten Schatten möchten doch die Gnade haben, ihn das fehlende Wasser in seine Tonnen füllen zu lassen. Der Bauernhausschatten übersetzte dies den andern Schatten. Der Kapitän erwartete mit Zittern die Antwort; die Schatten schienen sehr zufrieden über seine höflichen Reden, und das gutmütige Bauernhaus wurde durch sie gebeten, uns die Quelle zu zeigen. Am Abend lud uns die Schattengesellschaft zu sich ein; ein besonders großer, dicker Herrnschatten führte den Vorsitz im Reden. Sie zerstreuten sich, und wir sahen nur, während das Bauernhaus uns zur Quelle führte, einige der riesenmäßigen Schatten an den Bergen, die vom Abendrot beschienen, entlang schweben. Mein Kapitän näherte sich etwas dem Bauernhausschatten und suchte eine Unterhaltung anzuknüpfen. „Dürfte ich wohl die Ehre haben, etwas Näheres über das Volk der Schatten zu erfahren?“ – Das Haus schien gern auf seine Wissbegier einzugehen. „Alle diese Schatten, die du hier siehst, sind die Schatten der verschiedenen Häuser und Paläste, welche sie vor ihrem Umsturz oder die Menschen vor ihrem Tode werfen, kurz, aller Dinge, welche einst auf der Welt bestanden. Schatten sind keineswegs, wie man glaubt, unbeseelte Dinge; nein, die Schattenseiten der Dinge und Wesen, die da existierten, dauern länger als die Lichtseiten. – Es existieren mehr Schattenseiten an allem in der Welt. Du glaubst gar nicht, was für Schatten aller Zeiten mit einander dieses Eiland bevölkern, denn sie brauchen sehr wenig Platz, da sie sich nie stoßen, sondern durcheinander gehen, auch natürlich einer in den andere über geht.“ – Bald waren bei diesen merkwürdigen Erzählungen die Tonnen gefüllt und auf das Schiff gebracht. Der Mond schien, und das freundschaftliche Haus rief uns und führte uns in ein ungeheures, monddurchleuchtetes Tal; um die Berge kamen die Schatten herzu von allen Seiten, es sollte ein schattenhafter guter Abend werden. Sie schwammen durcheinander und schienen zu sprechen, der Bauernhausschatten brachte uns auf ein Plätzchen inmitten der Berge. Die Köpfe der Schatten ragten gerade bis an uns; sie machten sich auch nichts daraus, wenn wir ihnen zuweilen darauf traten. Nicht weit von uns hatte sich der Schatten des Gewändermannes hingestellt, er schien mich von der Seite anzuschielen. Auf einmal bemerkten wir, dass die Schatten sich teilten, und eine alte Domkirche fing mit einem griechischen Tempel an, ein Menuett zu tanzen. Darauf folgten Sommerhäuser, Bibliotheken, Glyptotheken, Kapellen, Schlösser; darunter mischten sich die Menschenschatten in den verschiedensten Kleidungen, die ganze Arche Noah der Tiere, Statuen, Bäume: kurz, alles, was Schatten auf der Welt geworfen hatte. Das Bauernhaus zeigte uns besonders den alten Abrahams-, Evas- und Adamsschatten, die die Aufsicht führten. Cäsar und Don Quixote unterhielten sich eifrig; Götz von Berlichingen mit der Königin von Saba, Apollo, Judith, die Jungfrau von Orleans, Diogenes, Madame de Pompadour und Karl der Große tanzten Lanners Tänze mit einander. Maria Theresia tanzte mit Mohammed ein Menuett; eine Menge Könige und Kaiser und was für Schattengeschöpfe mehr, folgten, ich habe nur diese von all den wunderlichen Erscheinungen behalten. Ich bemerkte indessen, dass der faltenreiche Gewändermann mich noch fortwährend anstarrte; endlich winkte er das Bauernhaus zu sich und flüsterte ihm etwas zu, worauf dies zu mir kam. „Höre“, zirpte es, „es interessiert sich ein Schatten für dich; er hat eine so zarte Neigung für dich gefasst, dass er wünscht, dich kennen zu lernen; wenn du ihm auch dann noch gefällst, hat er einen Plan mit dir vor; doch das wirst du später erfahren. – Kennst du den großen Plato? – Er ist’s.“ – Ich hatte mein Leben nichts von Plato gehört und weiß noch nicht, wer er ist. – „Ich habe nicht das Glück, so wahr ich keine Landratte bin“, sagte ich. – „Folge mir!“ – Eine Herzensangst ergriff mich, als ich mich dem Mann näherte; er lud mich zu einem Spaziergange ein, trotzdem folgte ich, weil ich ihn zu erbittern fürchtete. – „Ich bin die Schattenseite Platos“, sagte er, als wir an den Bergwänden empor wandelten. „In mir ist eine feine Liebe, ich fühle eine platonische Zuneigung zu dir.“ Er erzählte mir entsetzlich viele Dinge vor; ich hörte aufmerksam zu und verstand nichts. Auf einmal starrte er mich lange an und sagte: „Du verstehst mich. So einen mochte ich immer, dem ich meine langen, langen hinter dem Berge haltenden und um die Ecken kommenden Gesprächsweisen angedeihen lassen könnte. Du bist dazu ganz köstlich geeignet.“ – Als wir vom Spaziergange zurückkehrten, war ich schachmatt, und es war mir, als habe ich in meinem Vaterland Pflaumenbrühe genossen. Wir brachten den anderen Tag herum, ohne den Schatten zu sehen; ich genas nach und nach am kräftigen Sonnenlicht von dem nächtlichen Spaziergang. In der Nacht mussten wir wieder auf das Schattenfest. Der Schattenmann im Faltenwurf verfolgte mich wieder, und ich musste mit ihm auf den Gipfeln der Berge lange hin und her wandeln. So ging’s am dritten und vierten Tage. Am sechsten um Mittag wollten wir fort, am fünften waren wir wieder auf dem Schattenfest. Nachdem der Gewandschatten seine Promenade mit mir gemacht, flüsterte er eifrig und lang mit dem Bauernhausschatten. Zu Ende des Festes, als die Schatten sich zurückzogen, machte sich das Bauernhaus an meine Seite und fing mir an zu erzählen. Denkt euch meinen Schrecken, der Gewänderschatten wollte mich hier behalten, da sich seine Seele unwiderstehlich zu mir hingerissen fühle; er habe ihm vertraut, dass er schon mit einigen starken Schlagschatten gesprochen habe, dass sie mich erschlagen und mein Schatten dann sogleich und für ewig bei ihm verweile. Das gutmütige alte Bauernhaus sagte, es sei mir zugetan und habe nicht unterlassen können, mich zu warnen gegen diesen hinterlistigen Mord. „Auch deinen Kapitän bedroht Unglück: denn es hat ein sehr schöner Schatten, die Königin von Saba, Freundschaft für ihn gefasst; sie wollte ihn auch morgen umbringen lassen.“ – Ich war außer mir vor Schrecken und küsste das alte Haus herzlich auf seine Tür; darauf eilte ich, – denn ich war im Gespräch mit dem alten Haus etwas zurückgeblieben, und teilte dem Kapitän alles mit. Als ich aber von ihm sprach, da ließ der Kapitän augenblicklich die Segel lüften. Das Schiff war schon segelfertig, aber es ging nicht aus der Bucht heraus; da kam das alte Haus und sagte, wir müssten alle vom Verdeck ins Dunkle, so dass wir keine Schatten mehr würfen, die von der Insel angezogen würden. Wir dankten noch dem ehrlichen Bauernhause, und ich versprach, es lieb zu behalten, bis mein Schatten einst ganz mit ihm vereint sein werde. Wir krochen unter, stießen ab und kamen glücklich aufs hohe Meer. Wir gingen nun wieder aufs Verdeck und erblickten, wie die Schatten, die durch irgendeinen Zufall unsre Abreise erfahren haben mussten, zornig am Ufer auf- und abschwankten.“ –
Hier unterbrach der Jude den Erzähler durch ein heftiges Niesen, worüber die Kinder alle so erschraken, dass mehrere von ihnen einen hellen Schrei erschallen ließen. „Hab‘ ich’s nicht gedacht“, sagte der Jude, „du alter Thoms würdest mit deiner Schattengeschichte den armen Kindern Furchtgedanken erwecken? Da haben wir’s nun, kaum dass es mir im Gehirn ein bisschen kribbelt und ich niese, so weichen sie schon vor dem Schatten meiner Nase zurück.“ – Die Kinder protestierten aber stark dagegen und sagten, sie würden es mit jedem Schatten aufgenommen haben. Jedoch folgten sie dem guten Rat des Juden, jetzt den Schlaf zu genießen. Sie waren aber am andern Tage eiliger wie sonst in allen ihren kleinen Geschäften und Angelegenheiten; so sehr eifrig sehnten sie sich nach der Erzählstunde. Sie kam, wie alles, was man sehnlichst herbei wünscht, sehr langsam. Sie fanden sich jedoch in etwas betrogen, als der Erzähler schon fern von den Schatten, von denen sie noch allerlei seltsame Erwartungen hegten, fortfuhr: „Ich könnte noch viele Schattenseiten hier hervorheben; aber ein großer Streichschatten warnte mich, ich solle sie nicht alle aufdecken, sonst werde er sich verlängern und ein Nachtschattengeschirr über mich ausleeren.
Wir waren schon wieder auf hohem Meere, ich suchte meine Trauer zu zerstreuen. Wie ich so in meinen Mußestunden mich auf dem Verdeck herumtrieb, kam ich auch in die Küche; eine Menge von Töpfen erregten immer meine Aufmerksamkeit. Als ich den Koch fragte, wozu diese seien, sagte er, für uns; ich roch aber den Duft von Speisen, die wir nie aßen. Darauf sah ich auch, dass alle diese Speisen heimlich in des Kapitäns Kajüte gebracht wurden. Ich versuchte einmal dahin zu kommen, aber alles war verschlossen; jetzt stieg die Idee in mir auf, dass er die Prinzess Merkusuli eingesperrt. Einer der Schwarzen war mein Freund gewesen; ich gab ihm gewöhnlich mein Teil von geistigen Getränken; einmal sparte ich diese lange zusammen, ich wollte endlich mich überzeugen. Ich lud ihn aufs Hinterverdeck zum Trinken mit mir, er ward immer gesprächiger, ich suchte ihn immer wieder auf die Kisten zu bringen; als er mehr und mehr getrunken, lallte er gedankenlos in den blauen Himmel hinein: „Es wird diesmal ein guter Verdienst sein, es sind lauter Schneegänschen, ich lasse sie den Mittag heraus aus ihren Kasten. Ach, die armen Mädchen!“ Er schaute sich, kaum als er dies gesagt, erschrocken um, sprang auf und lief fort. Nun wusste‘ ich’s, er musste diese Mädchen aus den verschiedenen Städten geraubt haben; ungefähr so reimte ich mir’s zusammen. Ich war außer mir vor Zorn, aber wusste mich doch so zu verstellen, dass man an mir nichts merkte. Den andern Tag erblickten wir in der Ferne einen Hafen, es war der Hafen der großen Stadt in der Türkei, Bagdad; am Abend landeten wir. Der Sklave wich seit jener Zeit mir immer scheu aus, und ich dachte oft darüber nach, ob er es seinem Herrn wieder gesagt. Den andern Tag, als ich den Koch sah die Speisen zubereiten, warf ich in einen der Töpfe einen Stein, den ich noch von der Schmetterlingsinsel bei mir hatte; ich hatte hinein graviert: Antworte! – Sie musste diesen Stein wieder erkennen, und fand ihn eine ihrer Gefährtinnen, würde die ihn gewiss vorzeigen. Ich ging zurück aufs Verdeck; da trat der Kapitän auf mich zu und lud mich zu sich in die Kajüte ein. Er war so freundlich wie lange nicht, und ich dachte immer, es gereue ihn; er sagte, er wolle mir etwas sagen, dann ließ er Wein kommen. Allein kaum hatte ich davon getrunken, so überfiel mich eine große Müdigkeit. Der Kapitän schwamm vor meinen Augen hin und her, und ich wusste nichts mehr; nur meinte ich schrecklich poltern zu hören, als bewege man schwere Gegenstände fort. Den andere Morgen rieb ich mir die Augen; ich befand mich in meiner Hängematte. Halb schlaftrunken begab ich mich zu meinen Kameraden an die Arbeit; diese fragten mich, warum ich seit gestern Vormittag vom Verdeck gewesen sei, und einer erzählte, es seien unterdessen alle die Kasten transportiert worden. Kaum hatte ich dies gehört, fuhr es wie ein Blitz mir durch die Seele; ich eilte halb wahnsinnig zum Kapitän, drang bei ihm ein, und fragte nach der Prinzessin; er ward so zornig, dass er mir befahl hinaus zu gehen, und sagte, ich solle darüber schweigen, sonst werde er mich in dieser fremden Stadt zurück lassen. Dies war möglich; obwohl ich unterwegs von einem der Sklaven etwas Türkisch gelernt hatte, so kannte ich doch niemand, um mich zu verteidigen; ich versank in die finsterste Schwermut. – Ich war öfters in Bagdad, um mich zu zerstreuen. Wenn ich in der glühendsten Sonne durch die Straßen mit schönen Palästen ging, in deren kühlen Kiosks die reichen Türken auf weichen Teppichen saßen, mit kostbaren Turbanen und Schals, umgeben von Sklaven, und der bläuliche Rauch ihrer Wasserpfeifen emporstieg, wenn ich den Bazar entlang ging, die Juwelen und Kostbarkeiten erblickte, das Gewühl der Kaufenden und Handelsleute, so ergriff mich eine noch heftigere Sehnsucht und Schmerz; ich ging dann gewöhnlich durch eine abgelegne Straße zurück. Hier war niemand vor den kahlen Häusern in der Mittagshitze zu sehen; nur manchmal ragte eine Reihe bunter Blumen über die Mauer, und die weißen Schleier einer Türkin wehten herüber, die aus dem obern in den untern Raum des Hauses ging. Von diesen Häusern gefiel mir eins besonders, dass etwas in die Straße hervorstand; es war schön gebaut, und ich stand oft davor. Einstmals ergriff mich in dem Augenblick, als ich es anschaute, eine unwiderstehliche Müdigkeit, dass ich mich schnell nach einem Platz umsah zum Schlafen. Die rechte Seite des Hauses bildete ein Eck, das hervorstand, und dadurch einen Schatten; ohne mich lange zu besinnen, nahm ich da mein Lager ein und überließ mich dem Schlaf. Ich mochte wohl eine Stunde so gelegen haben, als es mir war, als werde ich von einem Regen von Prügeln zerbläut; ich öffnete die Augen, musste sie aber gleich wieder schließen, denn es kam aus einem kleinen Fenster über mir ein Regen von Goldorangen, süßen Feigen und Datteln herabgeströmt. Nach einer Weile hörte es auf, ich sah oben nur eine kleine Hand, die einen in der Sommerluft wehenden Vorhang ins Fenster zog. Ich stand noch lange, dann steckte ich von den Früchten so viel ein, als ich tragen konnte, und ging.
Am zweiten Tag wählte ich mir wieder diesen Platz zum Schlafen aus Neugier. Kaum dass ich eingeschlafen, erweckte mich ein Regen von Früchten; so ging’s den dritten, vierten und fünften Tag. Am sechsten Tag fiel jedoch nur eine Goldorange allein herab, wie ich sie selten von solcher Größe und Schönheit gesehen; ich ging, nachdem ich mich wieder vergeblich nach der Geberin umgesehen. Am andern Tage war ich so voll Schwermut, dass ich auf dem Schiffe liegen blieb; ich ward durstig. Die Orange fiel mir ein; ich holte sie und wollte sie öffnen, da fiel sie in zwei Hälften, und ich fand, dass sie nur mit Bast gefüllt, aber inwendig war ein Zettel verborgen. Ich rief einen schwarzen Sklaven, er übersetzte den Zettel: „Geh auf den Bazar, da wird eine Alte kommen, die dich zu der führt, die dich liebt!“ Ich war voll Hoffnung und Angst; sollte es Merkusuli sein? – Sie konnte ja nicht türkisch! – Ich dachte, um mich zu zerstreuen, wolle ich dies Abenteuer wagen; ich eilte auf den Bazar hin- und hergehend und schaute jeder Alten unter die Nase, die ich sonst nicht gerade würde angesehen haben. Endlich winkte mir von ferne eine durch das Gewühl, und ich folgte durch eine Menge Straßen zu einem großen, schönen Hause. Die Sklavin klopfte, und es wurde aufgetan; ich kam durch ein prächtiges, kühles Vorgemach von rotem Marmor, der Boden war glatt wie Spiegel, und ich wäre beinah gefallen; dann in einen hohen Saal. Ich harrte des Abenteuers, was da kommen sollte; ich spiegelte meinen abgetragnen Anzug im Fußboden. Der Saal war mit grünem Samt behangen, der Fußboden von bläulichgrünem Marmor; ein Springbrunnen in der Mitte; von smaragdgrünen, durchsichtigen Steinen tropfte helles Rosenwasser, dessen Düfte das Gemach durchzogen. Da öffnete sich von einer goldnen Schnur gezogen der Vorhang, und aus den innern Gemächern kam ein Zug Sklavinnen von großer Schönheit. Sie trugen goldne Gefäße, aus denen Weihrauch dampfte; aber gleich dem Mond unter Sternen wandelte in ihrer Mitte eine geschmückte Frau; sie setzte sich in die Mitte des Saals und schaute mich lange an. Erschrocken vor dem Glanz ihrer Augen blieb ich demutsvoll stehen. „Komm näher“, sagte sie; ich näherte mich und warf mich nieder. Sogleich legte man mir ein Polster neben sie hin. Sie lud mich ohne weiteres ein, von den Getränken, die man brachte, zu genießen, und legte mir fortwährend von den köstlichsten Speisen vor, so dass ich zuletzt sehr heiterer Laune ward. Als sie dies merkte, gab sie einen Wink, und eine rauschende Musik begann. Nun flüsterte sie mir ins Ohr, sie habe mich unter ihrem Fenster schlafend erblickt und sei die, welche mit den Früchten mich damals beregnet habe. „Ich liebe dich“, fügte sie lächelnd hinzu, „und will dich prüfen. Wenn du mir in sechs Monatszeiten noch gefällst, werd‘ ich dich zu meinem Gatten wählen!“ Ich schlug die Augen nieder, das Bild der Prinzessin Merkusuli stand lebhaft vor mir, ich begann gefasst: „Edle Bannu!“ – was soviel wie bei uns Herrin heißt – „ich bin Eurer nicht würdig; wäre ich es –, so hätte ich dennoch kein freies Herz zu bieten“, wollte ich hinzusetzen, als der Vorhang sich öffnete und einige Sklavinnen mit Sorbet kamen. Ich blickte sie an, das Wort blieb mir auf der Zunge: ich sah mitten unter ihnen die Prinzessin Merkusuli! Halb starr vor freudigem Schreck bemerkte ich endlich, dass die Augen der schönen Türkin auf mir ruhten. Im Flug fasste ich meine Gedanken zusammen: wenn ich ihr sagte, dass ich sie nicht liebe, so durfte ich nicht mehr kommen; stellte ich mich, als liebe ich sie, was sollte Merkusuli denken! – Das letzte musste ich wählen, sonst war ich für ewig von Merkusuli getrennt; indem ich meine Blicke mit Gewalt von der Prinzessin ablenkte, die niedergeschlagenen Auges mich nicht sah, sprach ich: „Wenn ich Eurer würdig wäre, wie glücklich könnte ich sein!“ „Du bist der, den ich erwartete“, sagte die Türkin. – „Prüfe mich erst!“ rief ich ängstlich, denn die Sklavinnen, die zu Paaren vor dem Teppich gingen, ihre Gefäße absetzten und sich dann teilten, waren schon vorbei, bis auf jene, an deren Seite die Prinzessin ging. Sie hatte verschämt die Augen gesenkt und wollte den Becher niedersetzen, als sie mich erblickte; der Becher entglitt ihren Händen, und der Saft träufte von ihren weißen Fingern. Ich sagte:
„Die Rebe, wenn im vollen Trieb sie ist, der Jugend
Fängt sie zu weinen an vor Übermut und Lust.
Der Gärtner sieht’s, ach! denkt er sich im Herzen
Wenn Reben weinen und von schneeigen Glocken
Träufelt der Saft, vergehen meine Schmerzen.
Denn sie versprach’s, zu folgen meinem Locken
Mit Augen, Hand und Mund und Herzen
Zu kommen dann, zu lindern meine Schmerzen.“
Sie fasste sich schnell und sagte:
„Ach, endlich kommst du nun, mein Lieber,
So lang die Reb‘ nicht weinte, weinte doch mein Herz zu dir hinüber
So lang‘ nicht träufte Wein, von weiblichen Schneeglocken
Träuften von meinen Augen Tränen,
Weil ich nicht folgen konnte deinem Locken.“

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