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Märchenbasar

Das Leben der Hochgräfin Gritta

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Als sie am andere Morgen erwachte, fühlte sie unter ihrem Kopf sich etwas regen im Brokatkissen; sie war erst bestürzt, da sie sich nur undeutlich des nächtlichen Besuches erinnerte, aber bald besann sie sich auf die große Artigkeit der liebenswürdigen Rätzinnen und fühlte Verwunderung und Freude über die neue Einwohnerschaft. Sie nahm das Kissen und legte es an die Sonne und stellte sich dann ans Fenster. „Sag einmal“, fragte sie den alten Müffert, der eben mit einem Krügelchen Wasser ins Zimmer trat, um seines Lieblings Blumen zu begießen. „Sag, holst du mir morgen frische Blumen aus dem Tal?“ Sie überhörte seine Antwort und schaute hinab in den Wiesengrund, der von dem azurblauen Himmel bestrahlt mit seinen grünen Büschen und Grasflecken vor ihr lag. Kleine bewegliche weiße Fleckchen, in denen sie erst nach längerem Hinschauen Gänse erkannte, weideten im Grünen, und ein kleiner Bauernbube war dabei; sie sah nicht, wie er auch so freundlich nach dem Erker blickte. „Siehst du da den kleinen Jungen?“ fragte sie. „O ja“, sagte Müffert. Gritta schwieg. Als sie zu den Übrigen herunter kam, fand sie alles in Not durcheinander: eine unberufene Katze hatte den Papagei gerupft, darüber erhielt alles Ohrfeigen. – Es war etliche Tage später, an einem schönen Morgen, als der kleine Bauernjunge, der vor dem Felstor die Gänse der reichen Müllerin hütete, bitterlich weinte. „Nun ist’s aus mit dir“, rief sie, „erst lässt du eine Gans laufen, um dem alten Grafen aus dem Sumpf zu helfen, und heute wieder eine, um dem Müffert Blumen zu suchen. Jetzt geh, aus dir wird nichts!“ In gesteigertem Zorne gab sie ihm einen Puff, dass er nicht wusste, wie er sich vor der Tür befand. „Da hast du ein Stück Brot und deinen Lohn, nun lauf.“ Der Junge ging in den Stall zu seinen Gänsen und setzte sich auf einen Stein, der sich in der Mitte desselben befand; es war eine angenehme Federviehwärme. Die eine stand unbeholfen auf, die andere schüttelte ihr glänzendes Gefieder; sie zogen den Kopf ein und streckten ihn vor, fielen von der auf jene Seite, bis sie alle bei ihm waren, dann legten sie den Kopf auf seine Knie, wo sie Platz fanden, die hinteren streckten ihren Hals über die vorne standen, von Zeit zu Zeit ihn erhebend, um zu schnattern. So waren sie auf der Wiese gewöhnt zu tun, wenn er auf einem kleinen Rohr blasend in ihrer Mitte saß. Er weinte, streute ihnen sein empfangenes Brot und hielt eine lange betrübte Abschiedsrede. Eine küsste er auf ihren schönen, weiß und weich befiederten Flügel, stopfte seinem Liebling den letzten Bissen Brot in den Hals und ging. Sie schnatterten ihm nach und verfolgten ihn bis zur Tür. Er guckte sich um: – sie wussten nicht, dass er morgen nicht wiederkomme. Der Span war vor die Klemme gesteckt, und nun wohin?
Da stand er vor der Tür; es wehte ein kalter Herbstwind, und die Blumensterne wiegten sich auf ihren Stengeln, als wollten sie bald ganz davon fliegen und die Stiele leer lassen. Er ging durch den Hohlweg, um die Burg noch einmal zu sehen: da lag sie auf dem felsigen Bergkegel! Dort das Türmchen der kleinen Gräfin. – Wie viel hundertmal zog er mit seinen Gänsen da vorüber! – Wie lange hatte er oft hinauf geschaut! – Er ging ohne Besinnen und pflückte Blumen. Beinah war ein Strauß zusammen gepflückt, da fiel ihm ein, er wollte sie dem alten Müffert bringen und ihm Adieu sagen; so ging er hinauf zu. Von ferne schon sah er Gestalten vor dem Schlosse stehen und hörte den Takt von einem Liede. Es war ein Mann, der ein Marmottchen tanzen ließ und große Wunder von sich und seinem Tierchen erzählte. Da kam die Gräfin angesprungen, mit dem Brokatkißlein Grittas in der Hand, ihr nach Elior und alle andern Pagen mit großem Lärm. „Ei sieh einmal, Gritta“, rief sie dieser zu, die sich mit Müffert an den Sprüngen des kleinen Marmottierchens freute, „ich kroch da oben in dein Mauseloch, deinen Turm; da liegt ein Kissen in der Sonne, es ist ein Leben und eine Bewegung darin, und wie ich nachsehe, da sind es Ratten.“ – „Pfui! Und das sind Ratten!“ riefen alle Pagen mit großem Geschrei. „Ich werfe Kissen und Ratten in den Abgrund.“ Die Gräfin, dies sagend, näherte sich ihm. „Ach, um des heiligen artigen Johannes Willen, was machst du? – Das Kissen ist von der Mutter, und die Ratten sind die Rattenfürstin mit ihren sieben fürstlichen Söhnen!“ „Hinab mit der Brut!“ rief die Gräfin Krautia, denn so hieß sie, „was hast du für komische Einbildungen.“ „Gebt sie mir“, sagte der Marmottenmann, „ich kann jetzt gerade ein paar brauchen zum Kunststücke Lernen.“ „Da!“ sagte die Gräfin, reichte sie hin und drehte um ins Schloss; die Pagen folgten mit Gritta, die bittend ihr zur Seite lief, Müffert verschwand traurig, dass er nichts hatte, sie auszulösen. Der Marmottenmann packte das Kissen zusammen und machte sich bereit zu gehen. Der Bauernknabe nahte sich ihm. „Gebt mir die Ratten mit dem Kissen für das Geld“, bat er. Der Mann sah ihn verwundert an. – „O ja, mein Junge, die kannst du haben, ich finde überall Ratten und nahm sie bloß, weil sie gleich bequem eingepackt sind.“ Peter gab seinen Lohn und erhielt das Kissen; er wollte eine Weile warten, bis Müffert vielleicht käme. Da kam in stürmischer Eile Gritta den Gang entlang gerannt, sie schaute sich um nach dem Marmottenmann. „Ach!“ rief sie, da sie ihn nicht sah, „ach, ich wäre ihm zu Füßen gefallen, er hätte es mir gewiss gegeben.“ Schon machte sie sich bereit, den Felsweg hinab zu laufen, ihm nach, da nahte sich der Knabe, das rotberänderte Mützchen schwebte zum Gruß durch die Luft. Er gab ihr das Kissen; ohne etwas zu sagen, drehte sie sich freudig auf dem kleinen Absatz um und verschwand in der Burg, während er mit großen Augen nachsah. Er wäre jetzt fortgegangen und in die weite Welt gelaufen, wäre Müffert nicht gerade herausgekommen. „Ich stand hinter der Tür, Bube, und sah, wie du den Mann bezahltest; wo hast du denn das Geld her?“ – „Es war mein Lohn, die Müllerin hat mich fortgejagt.“ – „Ach!“ sagte der alte Müffert, indem er sich traurig an seinem Haupte kratzte, „warte noch. – Nun ja, jetzt fällt es mir ein; – kannst du nicht Page werden?“ – Er besah ihn sich vom Kopf bis zu den Füßen. – „Ei, warum kannst du nicht? – Ich will dich zur Gräfin führen, du musst dich keck und munter anstellen, musst einen Diener machen, gleich nach ihrer Hand greifen und sie küssen. Ach Gott, bei unserer früheren Herrin, da brauchte einer nur zu sagen ‚Gott, wie arm bin ich‘, so tat sie, was sie konnte, ihm zu helfen.“ – Sie gingen ins Schloss; in einem Gang trafen sie die Gräfin, die erhitzt und rot bis an die Stirne war. Der Graf hatte auf die Bitten Grittas vorher gewagt, eine Einwendung gegen das Weggeben des Kissens zu machen, und die Gräfin war jetzt heftig erzürnt auf sie. Der Gänsejunge stellte sich vor sie, zog sein Zipfelmützchen ab und küsste ihr die Hand. Obwohl er nachher sich den Mund abwischte, wie es Kinder gewöhnlich tun, schaute sie ihn doch freundlich an. „Was will der Junge?“ fragte sie. „Page werden!“ sagte Müffert. „So? Nun, einen kleinen Pagen mehr können wir immer brauchen. Pfui, wie schmutzig ist er! Lass dich anders ankleiden. – Du sollst“, sagte sie nach einigem Besinnen, „Turmwart werden, ja, dies ist am besten. – Lass dir ein kleines Horn geben und wohne auf einem der Türme unserer Burg.“ – Der kleine Gänsejunge wurde also Turmwartel, blies morgens und abends vom Turm herab in den Gau und schaute sich um in die Weite, wo ihm der Wind unter die Nase pfiff. Gritta hatte sich schon bei ihm bedankt. Der kleinen Hochgräfin wurde nicht wohl unter ihrer Stiefmutter und der Pagen Regiment; sie gewann den Turmwart lieber als alle andere nach Rosenöl duftenden Paglein. Sie spielte mit einem goldnen Ball, einem alten Erbstück der Rattenzuhausbeiuns’schen Familie, die Treppe nach dem alten Turm hinauf. Wenn so der goldne Ball hinaufflog in den spitzgewölbten Turm und der Peter schrie: „Ich hab ihn!“ und der Ball dann die alten Stufen wieder herabrollte und Gritta lachte und selbst über die Stufen fiel, um ihn aufzuhalten, so waren beide guter Dinge. Der Turmwart durfte nicht hinweg von seinem Platz; so kletterte denn die kleine Gritta die Stufen des Abends hinauf. Wenn sie um den Wendelstock bog, so schaute sie durch ein Loch der Mauer in seine Hirtenknabenkammer. Das Licht schien durchs Gaubloch auf das Heu des guten Hirtenknaben; die Peitsche stand dabei, und auf einem Brettchen an der Wand lag seine Pfeife; ein zahmer Vogel, den er halbtot mit einem zerbrochnen Beinchen gefunden und geheilt hatte, saß gedankentief in einer Ecke und zirpte für sich hin. War er nun hier nicht, so streute sie dem Vogel ein paar Körnchen und lauschte; – hörte sie nichts unter sich regen oder die Gräfin Krautia nach ihr rufen, so stieg sie weiter; nach einer zweiten Wendung sah sie den Knaben schon auf- und abmarschieren, aber nun ging’s noch an einem alten Steinbilde an der Seite der Wendeltreppe vorbei, und dazu gehörte Mut. Der ernste Steinkopf ragte in einer Halskrause mit spitzer Nase aus der Wand. Müffert hatte oft von diesem Bilde als von der Frau Gote erzählt. Gritta machte jedes Mal einen sehr artigen, furchtsamen Gruß, wenn sie vorbei kam, und bat: „Frau Gote, sei sie so gut und behüte sie mich vor den Pagen, dass keiner herauf kömmt!“ Da war es denn auch sonderbar, dass kein Page, wenn er nach ihr rief, sie finden konnte, weil eine neckende Stimme sie immer von einem Ort zum andern lockte. – Dann hielt Gritta noch auf der vorletzten Stufe an, in deren Ecke sie einen kleinen Garten angelegt von Moos und den schönsten Gartentempelchen aus alten Scherben; darin weidete Topfhenkel, die Kuh, und Topfdeckelknopf war der Hund. Hier wehte ihr höhere Luft entgegen, die kühl um den Turm blies. Sie legte ihre runden Ärmchen, nachdem sie Peter begrüßt hatte, auf die alte Steinmauer und schaute hinaus in die Ferne; die Vöglein flogen unter ihr um den Turm, der mit vielem Moos und Gras auf den Felsen an den Mauerritzen bewachsen war. Dann ging’s tief, tief hinab. – Unten waren all die silbernen Seen, die grünen Büsche im Tal, gegenüber die Berge, die so weit in die Ferne gingen, und drüber der Himmel, so dicht am Turm, und doch sah es sich so hoch hinauf.
Peter erzählte Gritta, wenn sie all diese Herrlichkeiten anschaute und bald dort bald dahin zeigte, wo sie gern sein möchte, von seinen Gänsen. Hatte sie nun recht tief gefühlt, wie schön seine Lieblingsgans, die lange Grasknapserin, sei, so ging er mit ihr und half ihren Garten noch schöner bauen; nicht selten hatte er ihr eine Hängebrücke gemacht oder ein Tempelchen mit schönen Bäumen. Wenn es so weit gekommen, dass die Luft kälter um den Turm wehte und die Sonne allmählich unterging, schied Gritta. „Morgen!“ sagte sie vergnügt, und „Morgen!“ sagte Peter und lachte noch vergnügter. Gritta lief schnell die Treppe herab, aber noch schneller an der Frau Gote vorbei; der Turmwart lauschte noch lange auf den Tritt ihrer Füßchen: hatten sie ausgetrappelt, so wendete sich seine Nase wieder dem Tal zu. Und sie schliefen beide ruhig die Nacht durch, wenn Gritta nicht gescholten wurde. – Eines Morgens blies der kleine Turmwart besonders laut, kam dann herunter zur Gräfin ins Kabinett gelaufen und meldete einen Zug Menschen. Die Gräfin flog vom Sopha auf, gab ihm eine Ohrfeige, lief dann viermal im Zimmer umher und rief, indem sie ihm unter Tränen einen Kuss gab: „Ach was machen wir? – O wenn’s die Vormünder sind!“ – Alle Pagen wurden zusammen gerufen. „Verrammelt die Türe“, rief die Gräfin. „Ach und könnte man doch die Brücke schnell abbrechen!“ „Ohne in den Abgrund zu stürzen, braucht es ein Hänggerüst“, sagte der Graf, „um sie von unten los zu machen.“ – Es wurde also für jetzt nur alles, was zu finden war, zum Türverrammeln gebraucht. Die Pagen schleppten aus allen Ecken und Enden das Gerümpel herbei; als alles, was im Schlosse gefunden, vor der Türe aufgepackt war, lagerten sie sich dahinter.
Es verging eine Weile, bis sich Schritte über die Brücke nahten. Sie horchten auf, – es wurde geklopft. – Da keine Antwort erfolgte, begann eine Stimme: „Das vom wohlweisen Rat eingesetzte Gericht, nämlich Summa drei Vormünder, verlangten mit der Gräfin und Fräulein zu Rattenwege zu sprechen!“ Es pochte nochmals an. – „Ich spreche nur durch die Türe“, rief die helle Stimme der Gräfin. – „Selbmäßige Gräfin soll morgen mit ihren Herrn Vormündern, zeitjetzigen Herren, auf das ihr zur Wohnung angewiesene Schloss reisen, bis zu ihrer Mündigkeit dort verharren, auch sich nicht in dieser Zeit ohne derselben Willen vermählen, noch sonst etwas von dem tun, was diese für untunlich halten. In Folge dieses hat sich die Jungfrau Nesselkrautia Bollena Anna Maria Rattenweg, Gräfin, binnen heut und morgen früh zur bereitwilligen Fügung in alles, was rechtens, ihren Herren Vormündern zu stellen.“ – Hier endigte der Bierbass des wahrscheinlich ältesten und dicksten, in seiner Allongeperücke schwitzenden Herrn Vormundes. – „Ich will nicht!“ rief die Gräfin. Der eine Vormund wollte in Zorn ausbrechen; der andere hielt ihm den Mund zu; der Schreiber trat vor und fuhr mit trockner Stimme fort: „Sollte benannte Jungfrau Nesselkrautia Bollena Anna Maria Rattenweg, Gräfin, sich binnen der festgesetzten Zeit nicht stellen, so wird sie und der sie ihrer Pflichten enthält, durch ihre Herren Vormünder gestraft. Fiat!“ – Hierauf wendeten die Leute um und ihre Schritte verhallten auf der Brücke.
Es war am Abend dieses Tages, als sich die kleine Gritta in ihrem Türmchen zur Ruhe gelegt hatte. Der eine Fensterflügel stand offen, und die Nacht mit ihren Sternen sah herein; da unterbrach den Wind, der um den Turm sauste, eine feine Stimme, die etwas zornig klang: „Weißt du, kleines Mädchen, dass ich damals in großer Angst war mit meinen geliebten thronerblichen Häuptern? Weißt du auch, wie schrecklich ich die Gräfin jetzt strafen kann?“ – Es wurde Gritta angst und bange, sie hielt sich die Händchen vors Gesicht; denn die Augen der Ratte, die zur Seite herüberguckte mit einem goldnen Krönchen auf, sprühten gar wunderlich funkelnd. – „Ich weiß wohl, was morgen geschieht, wie man die Gräfin wegschleppen und deinen Vater bestrafen wird.“ – Hier fing Gritta an zu weinen vor der gräulich bösen Stimme. – „Aber“, fuhr sie fort, indem sie unter ihrem Kopfe in dem Brokatkissen auf und ab spazierte, „aber wegen dir könnte ich dies alles ändern, um deiner gastlichen Aufnahme willen, und ich will es auch. Die Ratte, die dich erzogen, rät zwar davon ab und redet von allerlei künftigen Zufällen, auch bliebe dann die böse Dame hier; sie gehört indessen zu den leichtsinnigen ihres Geschlechts und denkt nicht viel darüber nach, uns mit Falle und Gift zu schaden.“ Die Ratte verschwand; als Gritta etwas beruhigt, schlief sie ein.
Alles war den andern Morgen auf den Beinen. Mit allem was von Messern im Schlosse war, bewaffneten sich die Pagen. Auch mussten die Stuhlbeine herhalten, die sie oben mit Nägeln spickten, so dass sie wie Streitkolben aussahen, die man Morgensterne nennt. – Kühn schwangen sie sie durch die Luft, rannten mit erhitzten Köpfen treppauf treppab, wider einander und vorbei, indem der Mut gewaltig in den Pagenherzen pochte. Die Türe zu verrammeln half nichts. Die Brücke konnte auch nicht abgebrochen werden, weil das hängende Gerüst fehlte. So hatte die Gräfin eine offene Verteidigung vor der Tür zu Stande gebracht. „Stellt euch hinten an, kleine Mannschaft!“ rief und kommandierte die Gräfin, mit einer in der Eile geschärften Feuerzange bewaffnet, den kleinen Pagen zu, „lasst etwas Breite zwischen euch, dass Müffert das heiße Geschütz hindurch tragen kann.“ Sie stellte sich dann vorn auf, an der Brücke und dem Abgrunde zunächst, Gritta zur Seite mit Kochtöpfen, die sie vor sich aufgereiht, um auf der Gräfin Befehl sie loszuschleudern. Die andern hatten auch solche Wurfgeschütze um sich stehen. Der Graf erschien mit dem alten Gerümpel und türmte ein Bollwerk davon in die Höhe, das zu letzter Not zum Werfen benutzt werden konnte: japanische Waffen, alte Uhren, künstliche Schnitzereien, Blechhandschuhe, Tapeten, rostige Rüstungsstücke, Porzellanaufsätze, Allongeperücken und andere Sachen der verschiedensten Art. – Alles war fertig. Die Gräfin Krautia kam vom Anordnen zurück und stellte sich an ihren Platz, indem sie noch einmal das Ganze nach hinten zu überschaute. – Man harrte in atemloser Stille mehrere Minuten; es waren nur noch 5 bis Schlag 10 Uhr, da bog der Zug langsam um die Ecke im Tal. Die Gräfin lauschte über das Gerümpel. Der Zug war sehr groß, sie rief die Heiligen in ihrem Herzen an; denn dass es so viele waren, das hatte sie durch die Türspalte gestern nicht gesehen. – Doch sie schwieg und alles um sie. Indem lief etwas blitzschnell zur Tür heraus, zwischen den Beinen der Pagen hindurch auf den Steg hinüber. Sie gaben nur auf den Zug Acht, den man auf einer etwas hohen Felsplatte gehen sah. Aber Gritta hatte gesehen, dass es eine Ratte war, die unter das Ende der Brücke lief. So viel sie sehen konnte, nagte das Tier an alten Binsen und Gras, und Erde und kleine Steine rollten in die Tiefe. Doch nun blickte sie auch nach dem Zug, der schon ganz nah war. Der dicke Ratsherr und älteste Vormund mit Allongeperücke, scharlachner Weste mit über den Bauch herablaufenden zwei Reihen goldenen Knöpfen und schön besetztem Rock. Dann die beiden andern Vormünder folgend, auch bepudert und frisiert. Hierauf Gutsknechte und sogar Stadtmiliz hinterher. Sie langten auf dem Gipfel an und gingen dem kleinen Holzsteg zu. – Die Gräfin Krautia blickte sich um, die hintersten Reihen der kleineren Pagen waren gelichtet; eben lief noch einer mit zusammengehaltenen Höschen davon, die Angst usw. – Mit dem Mute der Verzweiflung drehte sich die Gräfin um. Jetzt stand der Zug vor der Brücke; da sah sie, dass der vorderste Ratsherr zusammenschauderte, seine Glieder zitterten vor Schrecken, die Knöpfe seiner Weste wackelten blinkend hin und her, sein Fuß weilte auf dem Brückenrand. „Kaaaanonen!“ – stotterte er mit matter Stimme hervor. „O Herr Ambrosius Zipperlein! Nein! Nein!“ Doch stieß ihn der Hinterste an und flüsterte ihm etwas ins Ohr, was wie Kochtöpfe klang, worauf er die Tramontane ein weniges wiedergewann. Es waren die von Gritta auf das Bollwerk in Reihe gepflanzten Kochtöpfe, deren runder Schlund nach außen stand und die Henkel nach oben; es sah in der Tat sehr gefährlich aus. Gefasst wollte der Herr Vormund weiter schreiten, da wankte vor ihm das Brett und stürzte sausend in die Tiefe. Es sprang etwas Schwarzes blitzschnell hinab. „Die Ratte!“ schrie Gritta voll Freude, wurde aber gleich wieder blass vor Angst über den schwankenden Herrn Ratsherrn. „Herr Kollege!“ riefen die hinter ihm, „halten Sie sich und schwindeln Sie nicht! – Er wendete sich zu ihnen: „Fürchterliche Hinterlist! Grässlich angelegter Plan!“ Die drei flüsterten jetzt eine Weile zusammen. Zuletzt wies er auf einen Vorsprung unter der Burgtür, indem er rief. „Sie sehen! Sie sehen! Es geht!“ und der Zug ging wieder ab. – Auf der anderen Seite war alles in Verwunderung über das Wunder. Jeder schrieb es seinem Heiligen zu, und die kleine Gritta schwieg, weil niemand ihr geglaubt hätte. Sie hatte richtig erraten, dass die Belagerung von unten angehen werde. Alles harrte in Erwartung, die Gräfin über den Rand des Gerümpels gebogen. – Sie wussten, dass ein schmaler Felspfad, kaum zu erklettern, von unten heraufführe auf den Vorsprung unter ihr. Zwei, drei Stunden vergingen; da erschien um die Ecke biegend auf dem Vorsprung, sieben Ellen unter der Schloßtür, die Perücke des magersten und, wie es schien, ernstesten und eifrigsten Herrn Vormundes, in Schweiß gebadet. Müffert holte seinen ganzen Vorrat kochenden Hirsebreis herbei. Die Gräfin befahl dem Grafen, Gritta und Elior das Herabwerfen der Töpfe und heißer Grütze. Die Übrigen blieben in Ordnung stehen, für den Fall, dass der Block erstiegen werde. Die Soldaten hatten bloße Säbel, nur einer hatte ein Gewehr. Der dicke Herr gab den fürchterlichen Befehl, vor dem er selbst erschrak, zu feuern, aber ja nicht auf die Gräfin. Eine Kugel pfiff daher und dicht an der Gräfin Kopf vorbei; sie hob ihn stolz auf. Hatte sie vorher das Kanonenfieber gehabt, so hatte sie jetzt das Kriegsfeuer. Ungeschützt stellte sie sich auf den höchsten Aufsatz des Gerümpels. Gritta mit den kleinen, von der Arbeit feurigen Bäckchen, hatte nun auch Mut, schleuderte vereint mit dem Grafen, Peter und einem Pagen alle möglichen Dinge auf jeden Soldaten, der herauf zu klettern suchte, während Müffert von Zeit zu Zeit kam und heiße Grütze auf ihre Köpfe ausleerte. Mit einiger Wehmut, wenn er wieder einen zurückgetrieben hatte, schaute er jedes Mal seinen schwarzen Kochtöpfen nach. Doch nun kamen sechse zu gleicher Zeit. Die Gräfin sprang von der Barrikade herab, befahl, der Graf solle mit Gritta, Elior, Peter und ihr Hand anlegen. In einem vereinten Stoße flog das Gerümpel in die Tiefe, die Soldaten bis auf den Absatz mitnehmend. Der kleine Peter hatte sich Venus und Amor, einen porzellanenen Kaminaufsatz, gerettet und schleuderte ihn auf den fern am Ende des Felsabsatzes sich gesichert haltenden ältesten Herrn Vormund, mit der halblauten Gedankenfolge: „Der lässt die andere für sich fechten und stellt sich selber ins Trockne“. Er zerbrach mit großem Geprassel an ihm. In demselben Augenblick streifte ein wohlgezielter heißer Kellenwurf seine Wange und ein Teil blieb an seiner Nase hängen. „Haltet ein!“ ertönte seine Stimme. Die Soldaten mit Brandflecken und Blaumalen hörten auf, in die Höhe zu klettern, sämtlich mit der Idee, lieber ins Kriegsfeuer zu gehen als länger diese Kitzeleien auszuhalten. „So mag sie denn in ihr Unglück rennen! So heiraten Sie, heiraten Sie, kleiner Engel“, rief er ihr zu, während er heftig seinen getroffenen Backen rieb. „Die Zeit wird kommen, die Zeit wird kommen, wo die Reue folgt. – O, müssen sich nicht die steinernen Ureltern auf ihren Gräbern herumdrehen! – Soldaten, blast Trauerfanfaren! Wie wird das schöne rote Gold jetzt rinnen?“ setzte er privatim für sich hinzu. – „Wär’s nach mir gegangen, so hätte sie nie geheiratet!“ „Ach, hätte ich sie nur und nicht der Graf gekriegt!“ murmelte der Zweite für sich. „Wäre sie nur Nonne geworden, dann wäre es nach meinem Willen!“ sagte heimlich der Dritte zu sich selber. – Die Soldaten hatten unterdessen die Reste der Grütze so gut wie möglich abgekratzt, und alle zogen ab. Die Gräfin lachte ihnen nach, und der älteste Vormund, mit Tränen auf den speckigen Wangen, rief. „Frevle nicht! O frevle nicht!“

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