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Das Leben der Hochgräfin Gritta

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Als sie aus dem dunklen Eichwald trat, lag vor ihr eine mondbeglänzte Ebne, auf der zuweilen kleine Nebel schifften. In der Mitte stand ein stolzes Schloss: seine Fenster und vielen Zinnen blinkten im Mondlicht, der Wetterhahn auf dem Mittelturm leuchtete beim Drehen im Nachtwind wie gegoßnes Silber. Scharmorzel sprang lustig ihr voran durch das Gras, dass die hellen Tautropfen aus den Blumen aufsprangen. Als sie an die Anhöhe gelangten, auf der das Schloss lag, klimmte Gritta links herauf; denn sie wusste, dass sie links vom Schloßtor abbiegen musste, das hinter jungen Bäumen hervorsah. Sie ging an der Hinterwand des Gebäudes entlang; die Kellerfenster waren hell, neugierig blickte sie hindurch: vor dem prasselnden Küchenfeuer stand der Koch in weißer Schürze und Zipfelmütze. Die Küchenjungen sprangen hin und her, kletterten in den Rauchfang nach den Würsten, zogen die Hasen ab, rupften die Hühner, brachten die Zutaten, hackten, backten, klopften, stopften und lachten und stießen sich, wenn immer das Beste von allem in des Kochs Maul flog. – Gritta schlich weiter. – Noch ein Eckchen, so musste der unbewohnte Teil des Schlosses kommen, wo es spukte. Es kamen alte graue Mauern, ein Turm und dann noch einer, der tief in das Gebäude hinein lag; sie waren wild mit Ranken überwachsen. Gritta übersprang Steine, Dornen und Brennnesseln. Außer Atem hielt sie an und lauschte; da erblickte sie etwas Schwarzes zwischen beiden Türmen hängend. Es war der Brustharnisch eines Ritters; das Prinzchen hatte ihn zur größeren Sicherheit mit einem Netz in manch heimlicher Stunde umknüpft. Sie hockte sich hinein, er setzte sich in Bewegung, und es ging hinauf, der Strick raspelte an der Mauer; sie getraute sich nicht, hinab zu sehen in die schwindelnde Tiefe nach Schamorzel, der leise knurrte. Der Harnisch stieß an, Gritta steckte den Kopf heraus, sie war an einer Fensteröffnung angelangt. Kaum hatte sie sich umgeguckt, so sprang sie hinein, denn es schaute sich schrecklich tief hinab. –
Sie war in einem düstern Kreuzgang. Vor ihr stand das Prinzchen, seine Augen leuchteten vor Freude durch das Dunkel. Wie schön war’s, dass sie ihn wiedersah! – „Ach, Gritta“, sagte er, „ich seh dich wieder!“ – Er fasste sie zärtlich am Rock und zog sie mit sich. „Komm, dort in die Stube!“ Er holte einen Schlüssel heraus und Schloss ein Türchen in der Mauer auf; es knarrte und öffnete eine gewölbte Kammer. Ein alter Tisch stand darin; die Überbleibsel der Rüstung lagen in der Ecke, und ein mächtig großer Schrank schnitt ärgerliche Gesichter über die herumschwärmenden Geister. Der Prinz kletterte an der schrägen Wand herauf und machte ein kleines Fenster auf – nun wurde es heiter; der gestirnte Nachthimmel sah herein. Sie setzten sich auf den Tisch, schwiegen eine lange Weile still und schauten einander an. – „Ei, dir ist’s gewiss wohl gegangen“ sagte endlich das Prinzchen, „du hast eine so schöne lange Nase bekommen! – Ich bin dir so von Herzen gut – so lange warst du fort! – Deine Zöpfe sind viel länger gewachsen! – Aus Sehnsucht hab‘ ich manchmal wirklich nichts gegessen in dieser Zeit der Trennung. Wenn du willst, bleibe hier in dem alten Turm, bis ich König werde, dann wirst du Königin.“ – Gritta meinte, das gehe doch nicht; das wäre, als sei sie ein wildes Tier, und im Winter würde sie einfrieren. – „Ach nein“, sagte das Prinzchen, „es soll schon schön hier oben sein! Ich stelle meine Blumen um dich her, ich hole meine goldne Krone und alle meine Edelsteine, und du bist in der Mitte der schönste Edelstein und auch die schönste Blume.“ – Gritta lachte und sagte, sie wollten lieber in den Wald zusammen gehen. Sie flüsterten noch lange und erzählten einander, was sie erlebt hatten; doch die Zeit verging, das Prinzchen sprang endlich vom Tisch herab, um zur Tafel zu gehen, bei der es nicht fehlen durfte, denn der König hielt streng auf die rechte Zeit. Kaum konnte er scheiden, so viel hatte er noch zu sagen, bis Gritta ihn sanft zur Tür heraus schob. Er drehte den rostigen Schlüssel um, und sie war allein in der Kammer. Sie setzte sich wieder auf den hohen Tisch, rieb die von der Nachtkälte erfrornen Finger und zählte die verschwindenden Augenblicke.
Das Prinzchen Bonus lief schnurstracks nach dem Speisesaal. Der Koch hatte alle Prozesse mit den Speisen vollendet, sie prangten schon auf der Tafel. Mit weißgepuderten Zöpfen standen die Diener hinter dem Tisch und beobachteten den Dampf, der von den silbernen Schüsseln aufstieg. – Man hörte jede Fliege summen; augenblicklich entfernte auch der Leibkammerdiener solch einen Störenfried, ließ er sich hören, mit der Serviette; dann stand er wieder wie eine Mauerparade und lauschte, wie zuweilen der goldne Sessel mit den schwellenden Kissen nach seiner königlichen Last seufzte. Das Prinzchen setzte sich zur Rechten des königlichen Platzes auf seinen goldnen Stuhl nieder und amüsierte sich damit, bis der König kam, Brotkügelchen zu drehen, sie anzufeuchten, zu zielen und auf die lange Reihe zur Jagd ziehender oder tafelnder Vorfahren, die die Wand entlang gemalt, zu werfen. Schon mancher von den alten steifen Herren besaß eine Warze: er wusste nicht wo. – Eben hatte er die Nase eines dicken Herrn auf dem Korn, und die Diener duckten ehrfurchtsvoll den Kopf, dass die Kugel nicht in der Puderperücke hängen bleibe, als die Tür knarrte. Der Oberkammerdiener strich zum letzten Mal die Falten vom königlichen Sitzkissen, und der König trat ein. Alles flog herbei! – Der König sank in den Stuhl. Nachdem er den Tisch überblickt hatte, schaute er ungeduldig nach der Tür, denn die braungerösteten Semmelbröckchen zur Suppe — sie fehlten! – Da kriegte das Prinzchen Bonus eine so große Sehnsucht nach Gritta. – Es fiel ihm eine List ein fortzukommen. Er wollte nur erst etwas für Gritta zum Essen stehlen; während die königlichen Blicke noch auf der Tür ruhten, langte er mit geschwinder Hand einen großen braunen Pfefferkuchen unter dem Konfekt hervor und brachte ihn glücklich unter das Tischtuch. – Der König wandte sein Antlitz, da wankte der untergrabne Konfektturm; die Diener sprangen herzu, er stürzte und die Süßigkeiten rollten umher. „Was hast du gemacht?“ fragte der König, Unrat merkend. Das Prinzchen errötete und haschte nach dem fallenden Konfekt. – Der König ließ es dabei bewenden, schielte aber seinen Sohn von der Seite an, und da er ihn so aufgemuntert wie noch nie sah und auch die zerknitterte Halskrause bemerkte, fasste Verdacht in seiner Seele Raum. „Mir ist sehr schlimm“, sagte der Prinz und sprang auf, „ich muss fort.“ „Gehe“, sagte der König – aber er wollte nur sehen, wohin er ging. Kaum war er fort, so warf der König auf die dampfende Suppe einen letzten Blick, lief in sein Geheimkabinett, warf seinen Pudermantel über und schlüpfte zur Hintertür hinaus. Eben schlüpfte vor ihm her das Prinzchen aus dem Vorsaal in einen Gang hinein; der König schlüpfte nach, es ging durch viele dunkle Gänge, – nicht in des Prinzleins Gemach, nein, in den Gespensterteil des Schlosses. Den König ängstigte es, dass die Geister ihn in dem weißen Pudermantel für ihresgleichen halten könnten; da sah er, wie sein Söhnlein auf eine Tür zulief, um sie zu öffnen. Rasch sprang er auf ihn zu, wickelte ihm sein Taschentuch um den Mund, band ihn mit seiner Leibschärpe, nahm ihm den Pfefferkuchen ab und praktizierte ihn in eine dunkle Ecke. Nun besann er sich, was konnte in der Kammer sein? – Sollten es vielleicht ein paar von den kleinen Landstreichern sein, von denen ihm der Gouverneur Pecavus so viel Schlimmes erzählt hatte, um die der Prinz so viel trauerte, als man ihn gewaltsam von ihnen getrennt und nicht mehr allein in den Wald gelassen, weil man sie nicht fangen konnte? Was sollte es anders sein? – Der König Schloss die Tür auf.
Gritta hatte unterdes auf dem Tisch gesessen und gelauscht. Sie hörte draußen ein Geräusch, als wenn etwas niederfalle; es folgte eine kleine Stille, dann öffnete sich die Tür, und ein Kopf guckte herein. Nicht der des Prinzchens, nein, – ein runder, mit einem majestätischen Doppelkinn und großen glänzenden Augen. Gritta war pfiffig; – als die Gestalt nachfolgte und sie unter dem weißen Pudermantel etwas blitzen sah, wusste sie gleich, wer es war. – „Ich bin ein Diener“, sagte der König, der erst die Sache untersuchen wollte, – „weil der Prinz nicht kommen kann, schickt er mich mit einem geeigneten Gruß und Pfefferkuchen. – Diese wohlgesetzte Rede machte Gritta noch sicherer. „Hör!“ sagte sie, „mir ist sehr kalt, der Wind bläst hier so um das Schloss herum. Hole dort aus jenem Schrank den Pelzrock! Ich will mich drin einhüllen.“ Der König hielt den Pudermantel zusammen, öffnete die große Schranktür, überwand seine Würde, und stieg über die Außenwand in die schwarze Finsternis des Schrankes, um nach dem Rock zu fühlen. Aber paff, fuhr hinter ihm die Tür ins Schloss, und der erstaunte König war allein mit sich und den Schrankwänden. Gritta draußen schwieg mäuschenstill, kletterte an der schrägen Wand in die Höhe und öffnete das vom Winde geschlossene Fenster, schaute einen Augenblick in den Sternenhimmel und dachte nach, ob der Prinz wohl wegen ihr die Rute bekommen habe; dann nahm sie sich einen frischen Mut und stieg herab.
Sie spazierte mit dem großen Schlüssel in der Hand vor dem Schrank auf und ab; sie hielt ihn fest zwischen den Fingern, als hinge der König daran. Was kamen ihr nicht alles für Gedanken, was sie verlangen könne! Aber, zu großmütig, um von der eingeschränkten Position des Königs Anserrex Vorteil zu ziehen, dachte sie nicht weiter daran, räusperte sich schnell und begann: „Höre, König, du hast unrecht getan!“ „So mach auf!“ rief der König zornig, nachdem er sich von seinem Schreck erholt hatte. „Ich mache nicht auf!“ sagte Gritta, „ich denke mir wohl, dass jetzt auf dem königlichen Tisch die Schüsseln prangen. – Sie dampfen, alles wartet auf dich. Doch du kommst nicht, wenn du mir nicht etwas versprichst.“ — Gritta lauschte, was der König mache. – Seufzte er nicht nach den Speisen? – Der Gedanke nichts zu essen, erschütterte ihn gewiss sehr stark, denn der Schrank knarrte. „Du musst mir versprechen, freien Ausgang zu meinen Eltern zu lassen, und mir und ihnen erlauben, ruhig in der Stadt zu leben, sonst lass ich dich nicht heraus! – Dann sollst du die armen gedrückten Gänsebesitzer frei von der Steuer geben. Du kennst nicht ihre Not, weil der Gouverneur Pecavus dir nicht die Wahrheit sagt! – Er wird dir gewiss gesagt haben, der Kopf, die Füße, der Steiß und die Flügel seien die Hauptsache an der Gans, darum müssest du dir den Leib immer als Steuer geben lassen. Wenn die Gänsebesitzer ihre Gänse eintreiben, so wird ihnen am Tor schon die Hauptsache ihrer Gänse genommen: denn glaubst du, dass man aus dem Kopf, Füßen und Flügeln einen Braten oder eine Gänsebrust machen könne?“ — „Gänseklein!“ ertönte es aus dem Schrank. Gritta schwieg. „Ach!“ sagte der König mit schwacher Stimme, „wenn ich die Gänsesteuer freigebe, so hab‘ ich keine Gänsepasteten mehr!“ – „Was?“ – sagte Gritta, eilig vor den Schrank schreitend, „dir macht sogar der tiefgesunkene Gouverneur Pecavus weis, dass die Früchte dieser Steuerhärten alle in deinen Magen kommen? – Er treibt ja schon seit langem einen sehr ausgebreiteten Handel mit Spickgänsen! – Ich lasse dich nicht heraus, versprichst du mir nicht alles, was ich verlange. – Der Staub wird auf den Schrank fallen viele Jahre lang, und der Holzwurm wird deine Stundenuhr sein, wenn du herauskommst, – das heißt – wenn er den Schrank aufgefressen hat. — Ja, König! – Hundert Jahre werden darüber vergehen, die Türme der Burg fallen, und die Pasteten in Staub zerbröckeln, wenn sie nicht vorher aufgespeist sind; und du wirst noch nicht heraus sein! – Wer wird dich hier in dem Gespenster-Zimmer des Schlosses suchen?“ – Sie legte das Ohr ans Schlüsselloch! – Alles war still! „Versprich!“ sagte sie und klopfte mit dem Schlüssel ernst an die Tür. „Kind, mach auf!“ rief der König, „alles, alles erfüll‘ ich dir, du sollst selbst mit dem Prinzen Bonus Thronfolger spielen dürfen, wenn du aufmachst! — Der Staub ist so stark im Schrank, oder es steckt Nieswurz zwischen den Ritzen; ich muss niesen und kann nicht. O Kind, mach auf – ich – ich habe Hunger!“ Gritta Schloss auf, unbekümmert, ob der König sein Wort halten werde, obwohl ein König gewiss ein ganz anderer im Schranke ist, denn sie konnte ihn doch nicht länger hungern lassen, und sie hätte gewiss auch ohne Versprechen ihm geöffnet.
Er steckte den Kopf hervor, schob langsam nach, dehnte sich und schaute vergnügt umher. „Herr König!“ sagte Gritta und zupfte ihn am Rock. Der König zog schnell den Schlüssel aus dem Schrank und steckte ihn in die Tasche. – „Da ist ein Brief!“ Sie übergab ihm den Brief der Elfenfürstin, er steckte ihn zu dem Schlüssel und schritt zur Tür hinaus. „Wisst Ihr, Herr König“, sagte Gritta und lief dicht neben ihm her, „der Gouverneur Pecavus ist kein redlicher“ – sie wollte weiter erzählen, aber er lief so schnell, dass sie außer Wort kam. Beinah wäre Prinz Bonus von ihm vergessen worden, so beeilte er sich der Suppe entgegen, hätte dieser nicht, als sie an ihm vorbei kamen, wild gegen die Wand gestrampelt; er band ihn los – und rannte dann noch schneller, dass die Kinder nicht eilig genug nachtrampeln konnten.
Im Speisesaal harrten die Diener, in Aufregung über den wunderbaren Einfall des Königs, vom Essen wegzulaufen. Getröstet durch seine Wiedererscheinung sprangen sie herbei und rückten den Stuhl zu seinem Empfang zurecht, wobei der Leibkämmerer nicht ermangelte, eine Freudenträne über die glückliche Zurückkunft auf des Königs Hand zu vergießen. Der König entfernte den lästigen Pudermantel und ließ sich nieder. Auf seinen Wink erhielt Gritta ein Stühlchen dem Prinzen Bonus gegenüber. Sie konnten sich nur zuweilen anlachen, wenn sie sich streckten, denn eine große Kuchenpyramide war die Mauer vor ihren Blicken. Man speiste ganz still. – Gritta wusste nicht, ob der König gnädig oder zornig gesinnt sei; er schien alle weitern Gefühle bis nach dem Essen aufzusparen. Endlich erreichte dies sein Ende. Der König steckte das Schnupftuch in die Tasche und kriegte dabei den Brief zu fassen; er legte sich in den Stuhl zurück und brach das goldne Siegel von dem feinduftenden Papier. Eilig schnäuzte der Leibdiener die goldne Kerze. „Aber das ist Augenpulver!“ sagte der König. „Der Prinz lese, er putze sich aber vorher die Nase!“ Der Prinz las:
„Großmächtigster König! In Deinem Lande lebt, was Dir bis jetzt unbekannt sein wird, eine Königin. Sie herrscht in ihrem Reich, im Wald, und was für Dich nur ein kleiner Fleck sein würde, ist für sie ein Land. Du kennst das Geschlecht der Elfen nicht, aber Du wirst erfahren haben, dass sie Freunde Deiner Voreltern waren.“
„Was?“ sagte der König, „der Brief ist nicht von dem Kinde dort, sondern von einer Königin, die sich in meinem Lande ansässig gemacht hat, ohne mir etwas zu sagen?“ –
„Wir sind von Uranfang hier gewesen“, fuhr der Prinz zu lesen fort, „und also lange vor Dir, denn Dein Land ist das Paradies, deswegen es auch nur selten Winter wird, und wenn die Blüten fallen, kommen schon wieder Blüten.“ „Also stamme ich von der Familie Adam ab!“ sagte der König. – Der Prinz fuhr fort: „Gott-Vater, nachdem sein Zorn über Adams verbotnen Apfelbiß sich gelegt hatte, versetzte es wieder auf die Erde. Alle Engel und Geister, deren Spielplatz es im Himmel gewesen, flohen nun nach allen Seiten aus seinen duftigen Büschen und schwangen sich auf andre Himmelswiesen, um nicht mit hinab versetzt zu werden. Wir kleinsten Geister aber schliefen in den Blüten und Blumen, und als wir aufwachten, da waren wir schon in irdischer Luft und konnten nicht mehr hinauf. Das war die Strafe dafür, dass wir genascht hatten aus Gott-Vaters Bierkrug. Das süße Honigbier lockte uns an wie die Fliegen, wir konnten nicht widerstehen.“ „Ich hätte nicht so viel Wesen gemacht um ein bisschen Bier“, meinte der König, „aber was steht nun noch mehr in dem Brief?“ –
Der Prinz las weiter. „So klein mein Land ist, so vermag ich doch viel. Wenn Du mich vertriebest, würden die Quellen nicht mehr frisch rauschen, die grünen Wiesen verdorren, und die Zweige auf den Bäumen würden nicht mehr schwer belastet von Früchten sein. Das Laub würde nicht mehr die Sonnenwege beschatten, es würde verzehrt werden von den giftigen Insekten, auf die mein Volk stets Jagd macht, denn aller geheimen Naturkräfte bin ich mächtig, und vergnügt, Dir durch sie zu nützen.“ — „Eine artige kleine Person, die Königin! Wir wollen sie lassen, wo sie ist!“ rief der König. Prinz Bonus fuhr fort:
„Ihr seid ein guter Regent, König, alles könnte unter Eurem Zepter gedeihen; nur eins ist Euer Unglück: – der Gouverneur Pecavus. – Schon lange sehe ich, wie drohende Stürme Eurem Haupte nahen; aber heute bin ich zur Gewissheit gekommen, von wem sie ausgehen. Heute um Mitternacht hat mein Großvater, der Mond, eine Eule, die über den Wald nach dem Meere zuflog, aufgefangen; sie trug einen Brief unter dem Hals an eine Klosterfrau, von niemand anders als dem Gouverneur Pecavus geschrieben. Er war früher Mönch in einem fernen Land und hat dort schon sehr schwarze Taten vollbracht. Ich hoffe, dass, nachdem Ihr die Wichtigkeit des Briefes eingesehen, werdet Ihr die Botin, die kleine Hochgräfin aus dem alten Stamme der Rattenzuhausbeiuns, ehren und ihr um meinetwillen das zulieb‘ tun, was sie wünscht. Jeden, der ihr etwas zuleide tun sollte, warne ich vor meinem Zorn. Ich grüße Euch und bin Eure ergebene Freundin und Landesverbündete.“ – „Lies den Brief unseres Pecavus! Es wird nichts Übles darin stehen“, sagte der König. Prinz Bonus las:
„Sequestra! Ihr lebt doch noch im Wald, bei dem großen Eichbaum, nach dem Ihr hingezogen seid, als die Ratten Euch vertrieben haben, und ich hoffe, dieser Brief kommt zu Euch. Mir geht es glücklich. Ich sitz‘ in der Wolle, das heißt in dem Königspelz. Nachdem ich meinen Weg durch fremde Länder genommen, bin ich hier angelangt bei einem sehr dummen König!“ – „Was?“ rief der König. – „Bei einem sehr dummen König!“ – wiederholte Prinz Bonus, mit ausdrucksvoller Betonung. – „Obschon ich nun recht warm sitze, so suche ich mich doch noch höher zu schwingen durch einen Aufstand unter den Gänseverkäufern, indem ich den König dazu bewege, sie zu drücken. Vielleicht, wenn meine Pläne gelingen, werde ich selber bald König sein; dann könnt Ihr kommen mit allen Nonnen, und ich will Euch ein Kloster einrichten. Jetzt müsst Ihr auch wissen, dass ich die elf entflohenen Kinder entdeckt habe; die könnt Ihr gleich einstecken, wenn Ihr kommt. Allergeliebteste Sequestra, schickt mir doch ein Schmalztöpflein für den dummen König!“ – „Halt ein!“ rief der König, „ich weiß genug. Diener! – Ruft mir den Gouverneur Pecavus in mein Geheimkabinett!“ – Er sprang auf und ging selbst hinein. Alsbald erhob sich drin ein fürchterliches Toben, als werde alles umgeworfen. Gritta und der Prinz lauschten an der Tür, sie konnten nichts deutlich hören, es ertönte bloß ein wildes Geschrei durcheinander; auf einmal geschah ein Knall. – „Ach, wenn er nur meinem Vater nichts getan hat!“ rief der Prinz und öffnete. Da stand der König und zog eben noch zweimal mit seinem goldnen Zepter dem Gouverneur Pecavus etwas über. – Dieser hatte sich halb versteckt hinter eine Marzipankiste, das Hauptstudiermaterial im Geheimkabinett. Der Staub fuhr aus seiner Perücke, und seine Augen funkelten glühend hindurch; jämmerlich gekrümmt sprang er hervor und floh vor dem ihn verfolgenden König hin und her. Bald wollt‘ er sich auf den Schrank retten, bald kroch er unter dem Sopha durch; wie Flügel schwebte der schwarze Mantel in der Luft herum, wenn er die Hände weit vorausspreizte und allerlei unerhörte Worte schrie, wie „König Gänserich!“ und dergleichen. – „Ja, ins Loch lasse ich Sie setzen, schändlicher Pecavus!“ rief der König erschöpft und blieb stehen. „Die Stadtmiliz steht schon vor der Tür.“ – „Glaubst du, ich könne nicht fort? – König Anserrex!“ rief Pecavus, „ich bin stets frei und gehe allein fort auf einem Wege, wo deine Stadtmiliz mir schwerlich nachkommen wird.“ Bei diesen Worten fuhr er durch den Kamin in den Rauchfang hinein – er lachte noch einmal schauerlich – das Feuer flackerte auf, und er war verschwunden. Ja, es war der Pater Pecavi leibhaftig! Damals hatte ihn Gritta durchs Kamin herein- und heute durchs Kamin hinausfliegen sehen.
Der König, froh, dass er ihn los war, freilich auf eine sehr unheimliche Weise, steckte das Zepter wieder hinter den Spiegel und wischte sich die Asche vom Gesicht, die ihm angeflogen war, da ein großer Wind bei Pecavis Flucht aus dem Schornstein hereinblies. Dann nahm er seinen Nachtleuchter und sagte sanft: „Geh zu Bett, kleine Hochgräfin, ich werde dir ewig dankbar sein!“ Er küsste sie auf die Stirne und ging; Gritta winkte dem Prinzen heimlich „Gute Nacht“; zwei goldbordierte Bediente sprangen mit goldnen Leuchtern vor ihr her bis zur Schlafzimmertür, die sie sehr weit vor ihr öffneten, dann mit ihren Wachslichtern der Ersparnis wegen wieder fortliefen und sie im Dunkeln allein ließen. Aber ein kleines Lämpchen brannte doch und erleuchtete halb das Zimmer. Es war sehr herrlich, so herrlich wie Gritta es noch nie gesehen: die Wände waren golddurchwirkt und voll bunter Gemälde, in denen immer die Hauptperson ein Gantvogel war auf einer zackig geformten, goldnen Schüssel, in der einen Pfote eine Zitrone, in der andern einen Lavendelstengel haltend. Sie vermutete, es möge wohl des Königs Lieblingsgericht sein; denn auch oben an der Decke, wo die lieblichen Göttinnen mit langen Beinen hinter weißen Wolken sich versteckten und zärtlich herab sahen, hielt eine in der Mitte derselben mit feierlichem Anstand solch eine Schüssel. – Aus dem königlichen Schlossgarten strömten Düfte herein, und hinter dem dunklen Laub plätscherten die Springbrunnen. – Es war doch gar zu schön! Gritta verlor sich ganz im Anschauen. – Da öffnete sich leise eine Tapetentür, und eine allerliebst zierliche Hofmeisterin oder Schloßdame trat ein; sie praktizierte Gritta auf eine artige Weise Röckchen und Jäckchen aus und steckte sie in ein schönes kleines Bett; das Prinzchen mochte wohl früher darin geschlafen haben, denn es war fein gedrechselt und ganz übergoldet. Die Hofdame Schloss die seidnen Wände der Gardinen und trippelte davon, mit einem „Gute Nacht, liebes Kind!“ Gritta lag ganz still in dem seidnen Paradies; Düfte wehten zum Fenster herein und stahlen sich durch die Ritzen der Gardinen. Behaglich dehnte sie sich, so lang sie konnte, und legte sich von einer Seite auf die andre, bis sie still liegen blieb, nachsinnend über den alten Hochgrafen und die Mutter. – „Wie glücklich werden beide nun sein!“ dachte sie, „wenn sie eine schöne Heimat haben. Der König lässt sie gewiss holen; es wird mir nicht mehr Leid tun, dass der Vater nichts hat zum Maschinenbauen, und die Gräfin wird nicht mehr traurig sein, denn sie werden alles haben. Aber der kleine Tetel!“ – – Da raschelten die seidnen Gardinen und öffneten sich. Eine weiße Gestalt stand vor dem Bett, ihre wunderbaren Augen leuchteten durch das Dunkel: „Liebe Gritta“, sagte sie sanft, „ich bin die Ahnfrau vom Rutenbaum! Du hast mich erlöst, denn du bist die erste meines Geschlechts, die gewandelt, ohne die Rute zu verdienen, drum sei von mir gesegnet! – Bald verlasse ich die Erde. Hast du irgendeinen Wunsch?“ „Ach nein“, sagte Gritta — „nur der kleine Tetel“ — Die weiße Frau nickte, deckte sanft das verschobne Federbettchen über Gritta, blickte sie mit den dunklen Augen segnend an und war verschwunden; die Vorhänge rauschten zu. Gritta schlief ein, und goldne Träume spielten mit ihr.
Am andern Morgen flog ein frisch betauter Apfel in die Bettgardinen; Gritta erwachte, ein zweiter flog zum Fenster herein. Sie schlüpfte schnell in ihre Kleider, eh‘ die artige Hofmeisterin käme, der sie lieber selbst Dienste getan hätte. Es waren aber nicht mehr ihre Kleider, sondern neue von schöner Seide; als sie heimlich sich dreimal darin im Spiegel angeguckt, lief sie ans Fenster. Prinz Bonus wandelte ganz herrlich geputzt zwischen den morgentauigen, von des Königs eigner Hand gepflanzten Kohl-, Rüben- und Spargelbeeten und suchte aus Artigkeit für ihn die Kappes aus, die er auf ein grünes Blatt gelegt, ihm später präsentieren wollte. Er schrie: „Gritta, steh auf! Wie kannst du so lange schlafen, wenn die Welt schon ihr goldnes Taggewand angelegt hat?“ – Gritta war schon auf dem Weg zu ihm, als sie den Türmer blasen hörte; voll Ahnung lief sie an die Schloßpforte. Da stand der alte Hochgraf und die Hochgräfin vor dem Gittertor, und über der Hochgräfin Schulter schwebte auf seinem Reiseplatz der kleine Tetel; hinter ihnen stand Peter, und Scharmorzel, der die ganze Nacht ausgesperrt gewesen war, bellte mit freudiger Ungeduld. Unten lag die sonnige Au im Morgennebel, und Gritta meinte, sie sähe etwas Weißes flimmern, doch merkte sie nicht drauf, weil sie nicht schnell genug in dem dunklen Torweg an der Wand in die Höhe konnte, um den Schlüssel aus dem Mauerloch zu langen, in das ihn der Torwächter legte, weil, wenn geklopft wurde, gewöhnlich alle Leute früher aufwachten als er. – Bald lag Gritta dem Hochgrafen um den Hals.
„Weißt du, warum wir kommen, Gritta?“ sagte die Hochgräfin. „Heute Nacht im Traum hab‘ ich eine weiße Frau gesehen; die sagte, wir sollten hierher gehen, es sei alles herrlich und schön mit dem König. Da haben wir uns denn aufgemacht.“
Sie traten nun durch den Torweg in den Schlosshof herein. Während sich der Hochgraf erkundigte, wie alles gegangen mit Gritta, schaute die Gräfin nach den Zinnen. Sie leuchteten in der Sonne, und die Tauben umflogen sie in Schwärmen; ihr weißes Gefieder blinkte beim Wenden, dann ließen sie sich nieder zu den Hühnern, die auf den reinen Steinen des Hofes geschäftig hin und her eilten. Vor einer kleinen runden Tür mit Steintreppe sammelten sie sich alle. Die kalekutischen Hähne kullerten, als erwarteten sie etwas; die Hähne stolzierten voll Aufmerksamkeit auf und ab. Perlhühner und Haubenhühner liefen gackernd durcheinander und legten ihre Eier im Kreis vor die Tür zierlich in den weißen Sand. In der Mitte des Hofes trieb der Brunnen seinen Silberstrahl in die Luft; die runden Spiegelscheiben in den Fenstern blinkten, und wo sie offen standen, trieb der Wind mit den seidnen Vorhängen sein Spiel und ließ die bunten Scherben sehen, in denen die Schloßjungfern dunkelrote Nelken zogen.
„Ei, wie herrlich ist hier alles! – sagte die Gräfin, „und wir? – Wir sind zwar rein gewaschen, aber schau einmal, Gritta, was da viel Löcher in deines Vaters Rock sind! Ich hatte keine Seide zum Nähen und“ — Sie schwieg erstaunt. – Aus der Turmtür, um die sich das Hühnervolk drängte, trat der König heraus, in einem goldnen, mit roten Tulpen bestickten Schlafrock. Mild und blühend lachte sein Antlitz, wie die Hoheit selbst und doch so heiter, nicht ermüdet, wie man vermuten sollte nach einer so geschäftsvollen Nacht, denn der Koch hatte eine Morgenpastete sondergleichen gemacht. Schnell warf er die goldnen Weizenkörner unter das Gefieder, als er den Grafen erblickte. Er nahm sich kaum Zeit, ein paar weiße Eier der artigen Hühner in den Rockärmel zu stecken, kam auf ihn zu und sagte, er habe gleich erraten, wer der liebe Gast sei, und bedaure höchlich, dass der Hochgraf zu Rattenzuhausbeiuns schon so lange in seinem Land sei, ohne zu ihm zu kommen. Er war so mild und gnädiglich und spazierte die Treppe nicht eine Stufe voran beim Hinaufsteigen, und auf seinen Lippen war ein unerlöschbares Lächeln. Der Graf folgte mit tiefen entzückten Verbeugungen. Oben angelangt, ließ der König noch einmal auftragen, der Gäste wegen. Der Hochgraf und die Hochgräfin mussten zu seiner rechten und linken Seite Platz nehmen, er fischte mit seiner Gabel den besten Stücken in den Pasteten nach. Unterdessen erzählte der Graf von einer Maschine, junge Kükel, Hasen, Rehe und Gänse auszubrüten. Die Gräfin wollte mehrmals sagen, dass Hasen und Rehe nicht in Eiern auf die Welt kämen; aber der Graf, der in gelehrten Ansichten keinen Spaß verstand, gab den Bescheid, die Frauen verständen davon nichts.
Gegen Ende der Mahlzeit machte der König ein tiefernstes Gesicht, räusperte sich und sprach mit tiefgefühltem Wohlwollen und Liebeslächeln zum Grafen. „Umarmen Sie mich, edler bewährter Freund! Ich erkenne Ihren großen Genius! Vermählen wir unsre Kinder mit einander! Dies wird das schönste Band zwischen mir und Ihnen sein, fester als alle Kükelmaschinen. Zwar hatte ich meinem Prinzen eine ernstere Staatsverbindungsvermählung zugedacht; aber sehen Sie, Lieber, diese Ihre große Fähigkeit der Staatsmaschinenkunst würde ja alle politischen Staatsverbindungen bei weitem übertreffen. Sollten Sie nicht als königlicher Hofschwiegervater Ihren Wirkungskreis haben? Das sollte mir Leid tun! Zweitens, da das Äpflein nicht weit vom Stamme fällt, so vermute ich, dass das Töchterlein eine talentvolle Königin werden wird; ja, gestern hat sie schon vor mir ihr Licht nicht unter den Scheffel gestellt.“ Der Graf verbeugte sich tief. – Gritta war über alle Maßen erstaunt; sie legte einen Pfefferkuchenmann, dem sie soeben den Kopf abgebissen, erschrocken auf den Teller. Aber das Prinzchen neben ihr reichte ihr mit bittendem Blick eine verzuckerte Pomeranze und fragte: „Willst du? – Ich langweile mich so sehr allein!“ – Sie nickte und nahm die Pomeranze.
Eben fischte der König dem letzten Brocken in der Sauce nach, als der Turmwart von neuem blies. Gritta lief zum Fenster, um zuerst zu erfahren, was es neues gäbe. O Wunder! Vor dem Tore standen zehn Mädchen! – Schier wär‘ die kleine Hochgräfin zum Fenster herausgesprungen, denn die voran an dem Schloßtor rüstig klopfte, war niemand anders als Margareta! Gritta sprang die Treppe herab und lag in ihren Armen. Was war sie lang geworden! – Gritta wünschte sich ein Schemelchen, um hinauf zu steigen und ihr ins Gesicht zu sehen, in die braunen Augen, so freundlich wie immer, und ihre Wangen zu küssen, so rot wie der schönste Apfel. Sie lief nun von der einen in der anderen Arme, bis sie endlich außer Atem stille stand. Eben wollte sie anfangen zu fragen, da erschien der König an der Pforte. „Ach, was für artige kleine Jungfern!“ rief er, „das sind also die Landstreicher! – Ach, hätte ich doch noch zehn Söhne! Nun, so wollen wir gleich heut Nachmittag Hochzeit halten, ohne Vorbereitung von großen Spargelkrautpforten und Volksgeschrei, denn es wird nichts davon erfahren. Ich muss so immer, wenn ich von meinen Reisen komme, acht Tage inkognito bleiben, bis sie sich zum Schreien zurecht gemacht haben, und dann hinaus spazieren fahren, um zum Empfangstor wieder hereinzukommen. – Aber in die große Stadtkirche muss gleich geschickt werden, um alles zurecht zu machen!“ „Nein, Euer Majestät!“ – sagte Margareta zum König, indem sie ein solches Knixchen aus ihrem Sittenspeicher holte, dass er ganz gerührt wurde. „Wenn Gritta heiraten soll, so lasst die Trauung bei uns sein in unserm Waldkloster!“ Der König nickte, etwas verwundert über das Waldkloster, und ging nachgrübelnd umher, ob er es nicht eigentlich auflösen müsse, weil sie ihm sonst die Gänseweide im Wald niedertreten könnten; aber großmütig ließ er später den Gedanken fallen. „Was ist das für ein Waldkloster?“ fragte Gritta. „O, wir haben uns ein Kloster im Wald gebaut“, sagte Margareta, „schön und zierlich, von Rohr, Lehm und Feldsteinen, mit kleinen Zellen und Fensterchen! Es ist alles rings herum dicht verwachsen, und ein Gänglein ist in der Mitte des Klosters, da fliegen die Vögel aus und ein und bauen ihre Nester an die Wand.“ – „Wie kommt ihr zu dem allen?“ rief Gritta, voll Freude, dass es ihnen immer wohlgegangen war. „Das will ich dir erzählen! Wir wollen uns dort auf die Turmtreppe setzen, das Prinzchen hat doch schon die andern hinaufgelockt auf den Taubenschlag. Es wär‘ uns auch gar nützlich, hätten wir zwei Zuchttauben. – Also du warst uns abhanden gekommen, und wir liefen überall herum nach dir, doch alles vergeblich. Wie wir nun so ganz unglücklich in die kreuz und quer rannten, erblickte ich etwas Weißes aus Blumen und Distelkraut ragen. Es sah seltsam aus; ich dachte erst, es wär‘ eine große weiße Pusteblume; aber – Gritta, ich bitte dich, erschrick dich nicht – sie bewegte sich, der alte Jude Abraham vom großen Meerschiff erhob sein weißhaariges Haupt und sah uns an! – Was das für eine Freude war! – Er erzählte uns, sie hätten sich damals alle vom Schiff auf einen Kahn gerettet; er wär‘ aber so voll gestopft gewesen, dass, als Frau Maria uns noch habe holen wollen, die Leute sie fest gehalten hätten, weil es nicht möglich gewesen sei, dass das Schiff uns noch tragen konnte. Sie seien nun vom Sturm unweit der Stadt Sumbona ans Land verschlagen worden, von wo bald alle wieder abgereist waren, weil der Gouverneur niemand in die Stadt ließ. Nur er sei da geblieben, um sich erst eine kleine Summe mit Weben zu verdienen vor seiner Abreise, weil er immer gehofft, in die Stadt zu kommen. Da dies ihm nicht gelungen, zog er sich in den Wald zurück, und lebte jetzt in einer kleinen Hütte. – Wir blieben nun beim alten Abraham und waren die erste Zeit sehr traurig um dich; – doch fort wagten wir uns nicht, um dich zu suchen, denn der Gouverneur Pecavus ließ im Wald Jagd auf uns machen. Den Jägern war befohlen, jegliches Wild unserer Art einzufangen. So bauten wir uns denn ein Kloster; – hätten die Elfen nicht dabei geholfen, so wär‘ es wohl nie fertig geworden. Wildebeere kam nämlich eines Tages zu uns, und seit der Zeit war des Nachts immer ein heimliches Treiben: es pochte, hämmerte und bohrte, und immer war am andern Tag darauf das Kloster wieder weiter fertig, und immer schöner ward es. Als es ganz fertig war, machte uns der alte Abraham einen Webstuhl nebst Spinnräderlein und lehrte uns Spinnen und Weben; dann nahm er zu unserm großen Leidwesen Abschied, um in sein Vaterland zu gehen. Wir gaben ihm Briefe mit an unsre Eltern; er versprach, bald wieder zu kommen und uns Nachricht von ihnen zu bringen, und dann wollte er für immer bei uns bleiben, um seine Knochen unserem Kloster als Reliquien zu schenken. So haben wir uns denn ganz eingesponnen und eingewebt im Wald; viel dachten wir an dich, und die Zeit verging. Vor ein paar Tagen noch schenkten uns die Elfen eine goldne Glocke in unsern Klosterturm, mit schönen Figuren drin eingegraben, die sie selbst in dem Wald des Nachts gegossen und graviert haben. Heute Morgen auf einmal kam Wildebeere, rief uns wach und erzählte alles, was dir begegnet ist; sie hatte alles von den Elfen erfahren. Früher hatte sie uns nie Nachricht von dir gebracht, wahrscheinlich weil sie sich bloß um die Wissenschaft bekümmerte; wir machten uns gleich auf den Weg hierher. Aber wie schön ist es jetzt im Kloster! Ein jedes hat sein eignes Geschäft: Reseda läutet alle Morgen und Abend, Petrina muss das Kapellchen ausfegen; Lieschen muss es schmücken mit Blumen, sie kann die so schön aus bunten Federchen zusammenbinden, die die Vögelchen vor der Klostertüre fallen lassen, wenn Elfried sie füttert u. s. w. Sonst arbeiten wir zusammen, schwingen den Flachs und spinnen ihn; dazu kommen öfters in den Dämmerstündchen die Elfchen und erzählen uns die schönsten philosophischen Gedanken, und wir spinnen alle so vergnügt im Mondenschein. Dann weben wir und bleichen, wobei wir sehr vorsichtig zu Werke gehen, weil wir bemerkten, dass die kleinen Elfchen gern unter der Leinwand sitzen und allerlei Spuk darunter treiben. Harmoni hat ein wunderbares Instrument zustande gebracht, bei dem ihr die Elfchen beigestanden; darauf musiziert sie in der Kapelle und hält alle unsre Stimmen zusammen. Maieli hat die Kapelle gemalt; aus den beiden wird etwas. Du glaubst nicht, wie schön die Kapellenbilder sind. Ich bin nun die Äbtissin und wünsche nichts, als dass du als Königin unser Kloster genehmigst und es „Zu den zwölf Landstreicherinnen“ nennst. Wir besitzen einen Klosterschatz von Bienen, die sich bei uns eingewohnt und ganz zahm und verständig sind; wir brauchen sie als Boten, sie schwärmen von uns zu den Elfchen und von dort wieder her und von einem zum andern, um uns bei Gelegenheiten und Geschäften zu rechter Zeit zusammen zu rufen; von denen sollst du jährlich ein Töpfchen ihres klarsten Honigs als Abgabe haben. Doch jetzt muss ich fort ins Kloster. Wir haben heute das erste Elfenbier gebraut, das möchte überlaufen; dann muss ich auch noch helfen, in der Kapelle die Hochzeitsanstalten machen, und wir müssen uns putzen: da habe ich keine Zeit zu verlieren.“ Sie rief die andern vom Taubenschlag und zog eilig mit ihnen ab, außer Kamilla, die zurück blieb, um den Weg nach dem Kloster zu zeigen.
Am Nachmittag, als der Wald vom Sonnenschein durchglänzt in voller Pracht stand, zog der Brautzug nach dem Klösterchen. Ihm voran ging der alte Hochgraf mit Gritta und Scharmorzel, auf Kamillas Schritte achtend, die als Wegweiser durch den Wald sprang. Sein Bart glänzte weiß und gestrählt über ein neues Wams, und er sah vergnügter als je aus. Dann kam die Hochgräfin mit dem kleinen Tetel; sie war ein wenig still und traurig, trotz ihres prächtigen Seidenrockes mit langer Schleppe, denn sie dachte daran, dass der kleine Tetel nicht die Herrlichkeit des Waldes sähe. Nach ihr kam der König und das Prinzchen mit Peter Hand in Hand. Der König hatte das Gefolge am Waldessaum zurückgelassen. Dieser Umstand und ein leichter Sommerschlafrock, nicht der schwere Thronpurpur, stimmte sein weiches Gemüt zu einer milden Fröhlichkeit. „Sieh! Prinz“, sagte er, „was meine Pantoffeln nass werden auf dem grünen Boden; was ist das?“ „Das ist Tau, lieber Herr Vater!“ – „Ach so! Ich bin seit so vielen Jahren nicht in einem Wald gewesen! – Ich glaub‘, ich war mein Leben kaum einmal drin; man hielt das sonst nicht für einen passenden Ort für die Königswürde, weil Krone, Zepter und Thronmantel gar leicht konnten an den Sträuchern hängen bleiben. – Was ist das? – Wiegt sich dort auf dem schwankenden Zweig in der Sonne ein Krammetsvogel?“ – „Das ist ein Zeisig!“ sagte der Prinz – „Ach was!“ rief der König, „was heißt das, Zeisig! – Solch einen Vogel gibt es nicht; ich weiß wohl von dem Rebhuhn, von der Schnepfe, dem Wasserhuhn, der Wachtel, dem Krammetsvogel, der Lerche, dem Haselhuhn, dem Birkhuhn, Fasan und dergleichen, aber von keinem Zeisig hab‘ ich je gehört. – Horch wie es pfeift!“ – und einem unwiderstehlichen Drang nachgebend legte er sich ins kühle Moos. – „Was pfeift da so süß?“ – „Eine Nachtigall!“ sagte der Prinz. – „Ach“, rief der König, „gewiss ein Rebhuhn! Ja, es schmeckt meinem Ohr zu gut!“

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