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Das Leben der Hochgräfin Gritta

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Ich wendete mich wieder zu der Gebieterin; sie glaubte, ich scherze über das Vergießen des Sorbets, und achtete meiner Rede nicht. Ich verlebte diesen Abend selig, weil ich von Zeit zu Zeit das Glück haben konnte, Merkusuli von der Seite anzusehen. Aber welcher Schmerz! – Sie schien stolz und kalt, da sie meine Artigkeit gegen ihre Gebieterin sah. Als ich fort musste, war die schöne Türkin noch sehr freundlich und sagte, sie habe sich in mir nicht betrogen. Ich langte glücklich auf dem Schiffe an und ging unter Sorgen und Hoffnungen schlafen. Am andere Abend holte mich die alte Sklavin wieder ab. Die Gebieterin erzeigte mir alle Artigkeit; aber die Prinzessin Merkusuli sah mich nicht an und floh jede Gelegenheit, wo ich ihr etwas zuflüstern konnte. Die schöne Türkin sprach mehr und mehr von ihrer Liebe zu mir, und die sechs Monde nahten ihrem Ende. Einmal war ich allein im Saale. Da kam Merkusuli herein, die mich nicht da vermutete, sie wich scheu zurück, ich hielt sie am Schleier, stürzte zu ihren Füßen und erzählte alles. Freudetrunken reichte sie mir die Hand und erzählte mir ihr Schicksal: wie der Kapitän mit ihr in einen Raum des Schiffes gegangen sei, und unter dem Vorwande, ihr Stoffe zu zeigen, habe er einen großen Kasten geöffnet und sie, trotz ihres Sträubens hineingeworfen; dann habe er den Kasten verschlossen. Als er fort war, ertönten eine Menge dumpfer Stimmen, die ihre Leiden klagten, was sie nicht genau verstand. Um Mittag kam ein Sklave, um sie herauszulassen; zu ihrem Erstaunen stiegen aus allen andern Kasten auch eine Menge schöner Mädchen. Nachdem alle gespeist hatten, wurden sie wieder eingesperrt. Jeden Tag erzählte eine andre die Geschichte ihres Raubes; sie machten allerlei Versuche zu ihrer Befreiung, die nicht gelangen. Eines Tages bemerkten sie, dass das Schiff stille stand; man hatte einen Schlaftrunk in ihre Speisen gemischt, denn sie erwachten erst, als man auf dem Sklavenmarkt die Kisten öffnete. Ein vornehmer Türke , der sie kaufte, verliebte sich so sehr in sie, dass er sie zu seiner Gattin erwählte. „Aber diese meine Gebieterin, seine Schwester“, sagte Merkusuli, „zu eifersüchtig auf das Regiment im Hause, wollte es nicht leiden und erbat oder erzankte mich, gleich als ich kam, zur Sklavin.“
Kaum hatte sie ausgesprochen, so hörten wir Tritte und der Zug kam. Ich brachte diesen Abend äußerlich vergnügt, aber innerlich traurig zu; es war keine Hoffnung, dass ich je mit Merkusuli entfliehen könne. Bald wollte sich die schöne Türkin entscheiden, dann musste ich fort. Die Angst, jede Minute von ihr getrennt zu werden, quälte mich fortwährend; nur einmal sahen wir uns allein, und meine Tränen vermischten sich mit den ihren. Eines Abends empfing mich die Gebieterin sehr ernst; mein Herz klopfte, ich dachte, sie werde mir sagen, daß sie sich mit mir vermählen wolle. Sie hieß die Sklaven abtreten und begann. „Eine meiner Sklavinnen, die mein Bruder gekauft, weil er sie wegen ihrer großen Schönheit und edlem Wesen heiraten wollte, erbat ich mir damals von ihm, weil ich, wie bisher, im Hause herrschen wollte und nicht eine Frau sehen, die durch ihre Launen mich quälen könnte. Aber seine Leidenschaft entzündete sich aufs neue, als er sie neulich erblickte; ich will sie nun fortschaffen“, – mein Herz pochte wie ein Hammer, und ich lauschte eifrig – „und zwar durch dich“, fuhr sie fort. „Komme morgen Nacht um die zwölfte Stunde an die kleine, nach Morgen gelegne Pforte dieses Hauses, wo man sie dir übergeben wird. Fahre sie in einem Kahn auf die unweit vom Lande gelegne Insel, dort wird man sie dir abnehmen.“ Man meldete uns, die Speisen seien aufgetragen, ich war ausgelassen lustig und warf selige Blicke auf die über meine Fröhlichkeit erstaunte Merkusuli; die schöne Türkin hatte große Freude an mir. Am andern Morgen fand ich einen Schiffer, der mir sagte, sein Kahn sei für mich bestimmt; ich packte meine Habseligkeiten ein und schaffte alles heimlich auf den Kahn. Ich hatte mir vorgenommen, einen großen Teil um die Stadt zu fahren und in den ferneren Teilen ein sicheres Asyl für mich und Merkusuli zu suchen. Spät in der Nacht schlich ich mich durch eine offne Gitterpforte in den Garten. Es war um die Zeit, wo die Pahlen blühen, alles hing voll weißer Blüten; ich hatte Mühe, mich zu fassen, daß ich von ihrem Duft und der Erwartung nicht schwindelte. Ich wartete lange, da ertönte von den Türmen der Minaretts der zwölfte Stundenruf, die Pforte klirrte in ihren Angeln, und eine verschleierte Gestalt wurde herausgeschoben. Es war Merkusuli; beinah hätte mich der Bruder der schönen Bannu ertappt, der unter den Blütenpflanzen hin- und herstreifte: in einem golddurchwirkten Schlafrock und roten Pantoffeln, verliebte Blicke nach den Gemächern seiner Schwester sendend, in denen er die schöne Sklavin verborgen wähnte. Ich trug meine im Schleier verborgene Beute in den Nachen, den ich mit Lebensmitteln ausgestattet. Es war eine herrliche, helle Nacht. Merkusuli war voll Staunen und Freude, sich bei mir zu finden; wir fuhren, der Welt und des Kahns vergessend, den wir treiben ließen, wohin er wollte, auf dem schönsten vom Mond beschienenen Wasser. Auf einmal erweckte uns ein Geschrei aus unsere Träumen. Der Kahn eilte gerade unter den Schnabel eines großen Schiffs; ich erkannte es als ein deutsches Fahrzeug und rief, man solle uns an Bord lassen. In dem Kapitän erkannte ich einen früheren Herrn von mir. Ich teilte ihm mein Schicksal mit; er wurde heftig erzürnt über den Seeräuber und versprach mir, Vorkehrungen beim Sultan gegen ihn zu treffen und mich mitzunehmen. Vor unserer Abreise schickte ich der schönen Bannu noch einige Diamanten von der Schmetterlingsinsel mit einem Brief. Denn wahrlich, bei dem größten Mastbaum, der je den Wind durchschnitt, ich bin immer großmütig gewesen. Aber wer sollte jetzt glauben, daß die alte Dame Thoms, die in einem kleinen Hause, hinter den Weidenbäumen am Strand wohnt und zuweilen gleich mir ein Gläschen Grog liebt, die Prinzessin Merkusuli ist? Jeder würde behaupten, sie sei des Torfhändlers Tochter Hanna, und ihr Sohn nicht der Enkel des Königs der Schmetterlingsinsel, sondern sein Enkel. Aber ich liebe sie so herzlich wie immer; manchmal kniee ich noch vor ihr nieder, wenn sie des Morgens ihre Nase kaum aus ihrem Federbett steckt (sie hat nämlich seit einiger Zeit eine eben so lange Nase bekommen wie die Torfhändlerstochter Hanna sie hat, mit der ich, wie die Leute meinen, verheiratet sei), und sage zu ihr: „Schönste Prinzessin, wenn du heut saure Bohnen, wie man sie auf der Schmetterlingsinsel zurichtet, mit Speck und Essig kochst, so bringe ich dir von meiner nächsten Seereise den besten Tabak mit.“
Hier endete Thoms. „Das ist eine schöne lange Geschichte gewesen! Ihr habt gewiß viel hinzugesetzt?“ sagte der Jude. „Vielleicht alles“, erwiderte Thoms, „deswegen ist sie auch so schön. O, ich könnte euch Dinge erzählen, die so seltsam sind, wie des Teufels seiner Großmutter ihre Kaffeehaube.“ Bei diesen Worten klopfte er das Pfeifchen aus, was immer ein Zeichen zum Aufbruch war, und die Kinder liefen hinab.
Thoms erzählte nach dieser noch viele Geschichten, und Gritta wußte bald die Tage nicht mehr zu zählen, an denen sie, bei ihm sitzend, die Sonne untergehn sahen. Sie hatten sich nach und nach zufrieden gegeben, daß sie der Kapitän nirgends absetzte und stets lachte, wenn man ihn daran erinnerte. Auch sprach Frau Maria viel von dem schönen Lande, nach dem sie schifften, und sie vergaßen der Heimat. Eines Tages kam Frau Maria die Treppe herab und rief. „Heute gibt’s Sturm, geht nicht herauf zu Thoms! Er läßt euch grüßen und schickt eine Rolle Tabak, den soll Kamilla ihm schneiden. Der Himmel ist ganz grau überzogen, die Sonne geht tiefrot unter, und die Seevögel fliegen dicht über dem Meer und baden ihr Gefieder. Laßt’s euch nicht leid sein, geht früh schlafen heut!“ „Ja, der Himmel sieht so grau aus wie meines Großvaters Puderrock“, sagte Maieli, die hinterher lief. „Was muß doch ein Sturm wild sein“, rief Harmoni. „Ja, ja, da kann man geradezu im Meer ertrinken“, sagte Margareta und guckte mit großem Ernst auf ihre Schürze von blauer Klosterleinwand. Sie hatte sie unlängst aus ihrem Bündel geholt, und kein andrer hatte eine solche Schürze; sie sah sie an, als wollte sie sagen: „So geht’s, wenn man sich aufs Meer wagt.“ „Ich weiß wohl, du denkst an mich“, rief Kamilla, „daß ich damals so sehr zauderte, als wir vom Schiff sollten. Aber ich weiß auch, daß, wenn beim Sturm das Schiff ein Loch kriegt, aus dem wir herausfallen, so kommen wir zu den Meerprinzessinnen in den Kristallpalast, von denen Thoms erzählt, sie seien schöne Jungfern mit langen Haaren.“ – „Sie werden dich zum Frühstück essen“, meinte Margareta, „aber wißt ihr, ich binde mir ein Bündel mit allerlei Dingen um den Leib, da hab‘ ich alles, wenn ich irgendwo ankomme.“ „Gebt acht, was ich tue“, sagte Kamilla und lief nach Schiffszwieback, den sie sorgfältig in einen Pantoffel der Frau Maria packte und sich aufs Herz band; dann legte sie sich zufrieden nieder und sah von oben herab dem Treiben der andern zu. Sie rannten umher und packten in ihre Bündel alles, was ihnen lieb war. Frau Maria sah lachend drein und ließ sie gewähren. Margareta hatte so viel einzupacken, eine Menge Röckchen und Wäscheleinen und einen kleinen Teetopf. Petrina wollte eine Tonne getrockneter Pflaumen mit einem Strick an ihren Fuß binden; aber Kamilla verriet es, und die andern holten die Pflaumen heraus; es entstand ein großes Geschrei darum. Margareta rief, es sei gegen alle Sitte, vor dem Sturm so zu schreien. Kamilla allein lachte in Sicherheit von oben herab alle aus. „Ich packe den Scharmorzel in die Tonne“, rief Petrina, „ich salze ihn ein!“ Aber Scharmorzel wollte nicht; er lief hinter Gritta und leckte das Salz ab, das Petrina ihm auf den Pelz gestreut hatte. Derweile hatte Veronika, um trocken zu bleiben, sich in die Tonne gesetzt und den Deckel heraufgezwängt, aber es ward ihr zu enge und sie schrie um Hilfe, bis sie herausgelassen wurde. Endlich ließen sich alle bewegen, ruhig schlafen zu gehen; zuletzt saß noch Wildebeere im Eck auf der Erde und steckte in einen Sack all ihre Pflanzen; sie band ihn sich um und sprang auf ihr Lager. – „Schlaf nur gut in Gesellschaft von den Meerspinnen und Seekrebsen, die im Sack sind!“ rief Margareta, „gute Nacht bis auf Wiedersehn im kalten Wasser bei den Fischen! Aber nun seid still, daß Frau Maria lesen kann; ich bleibe noch lange wach und warte auf den Sturm.“ „Wir auch, wir auch!“ riefen die andern. Frau Maria saß schon lang und las in einem Gebetbüchelchen ihrer Mutter beim Schein der kleinen Lampe, während die Wellen einschläfernd gegen das Schiff schlugen. Die Kinder lagen alle still; eine Zeit blieben sie noch wach, doch es wollte kein Sturm kommen. Nach einer Weile stürzte der Teetopf herab, dann folgten die Leinen. Margareta atmete frei auf, legte sich auf die andere Seite und flüsterte: „Es dauert doch mit dem Sturme gar zu lang!“ Dann schlief sie sanft ein; es fiel noch Verschiedenes herab von Marias Hausrat, während alles im tiefen Schlaf lag. Als es um Mitternacht war, erwachte Gritta, weit das Schiff heftig schwankte; die Lampe war im Ausgehen, und die Tür stand offen, Frau Maria war fort. Ob sie wohl zu ihrem Manne gegangen war? – Gritta hörte nichts als das Toben des Sturms; Scharmorzel sprang zu ihr, sein zottiger Kopf lag an ihrer Brust, sie umfaßte ihn fest, denn ehe sie sich besann, stürzte eine große, kalte Woge über sie.
Eine sanfte Wärme durchdrang Gritta, als sie erwachte. Sie blinzelte ein wenig durch die Wimpern und sah das schwarze, zottige Fell und die klugen Augen des Scharmorzel, mit denen er sie ernsthaft anstarrte; seine rote Zunge fuhr mit Wohlbehagen über ihr Gesicht, als habe er es ganz in Besitz genommen. „Geliebter Scharmorzel“, sagte die Hochgräfin Gritta schläfrig, „ich bin dir dankbar für deine große Liebe, ein so tiefes Gemüt hatte ich nicht in dir geahnt, in der Todesgefahr treulich bei mir auszuharren. Ich dachte, du neigtest dich mehr zu mir, weil du Hühnerbeinchen und Speckschnittchen von mir erhieltst. Aber jetzt sei so gut und lecke nicht mehr, ich muß schlafen.“ Sie versteckte ihr Gesicht in seinen Pelz und fuhr fort zu träumen. – „Du – Gritta!“ rief eine Stimme, die wie Wildebeeres klang; sie fuhr aus ihren Träumen auf und sah, daß sie auf einem Sandstück von Felsen umgeben lag. – Auf einem Felsstein nicht weit von ihr saß Wildebeere, trocknete sich in der Sonne und hatte die Pflanzen aus dem grauen Sack um sich ausgepackt; sie war ganz grün von Schlamm und Meerpflanzen. „Denke, Gritta“, sagte sie, „alles ist naß geworden und sehr verdorben!“ – „Wo sind denn die andern?“ rief Gritta. „Da liegen sie ja umher, ich habe sie gezählt, sie sind schon richtig! – Es war doch eine schreckliche Kälte im Meer, an die Wissenschaft war gar nicht zu denken. Ich wollte noch etwas Seegras langen, aber es ward mir so wunderlich zu Mut von dem vielen Wasserschlucken, daß ich’s sein ließ.“ Gritta lief von einer zur andern und weckte sie; erstaunt blickten sie um sich. „Ach, was ist das schön, daß wir alle beisammen sind!“ rief Margareta. „Und was für hohe Felsen und nichts als gelber Sand!“ – riefen die andern. „Das ist eine seltsame Insel, ich möchte wohl wissen, wo hier das Brot wächst“, sagte Kamilla. – „Du hast bei den Meerprinzessinnen gegessen“, rief Margareta und lief, um die blaue Schürze zum Trocknen an eine Felszacke zu hängen. Die andern breiteten unter lustigem Gespräch ihre Röckchen im Sande aus. Nachdem der Freudensturm über die allgemeine Rettung sich etwas gelegt hatte, setzte Gritta sich nachdenklich an den Strand; Scharmorzel neben ihr hatte seinen Kopf auf die Pfoten gelegt und sah ebenso nachdenklich zu, wie das Meer Woge auf Woge dem Sandfleck zutrieb. „Ach, Scharmorzel, wo mag der alte Thoms, Frau Maria und der Jude sein?“ begann Gritta, „sind sie in dem grünen Meere oder gerettet, so wunderbar wie wir alle zwölf?“ – Scharmorzel sah sie melancholisch an. – „Alle dreizehn, wollt‘ ich sagen. Hast du Hunger? Ich kann dir weder Hühnerbeinchen noch sonst etwas geben. Aber wovon sollen wir leben? Sieh die Felsen, es ist gewiß nichts hinter ihnen, und sie sind so unübersteiglich hoch!“ – Gritta sah hinauf und erblickte eine Ziege, die herabkam; sie sprang den gefährlichsten Weg, – bald mußte sie unten sein. – Scharmorzel stand auf der Lauer, sie langte an, und nun lief er hinter ihr her; beide verschwanden hinter einem Felsblock. Gritta lief hin. „Er wird sie gefaßt haben!“ dachte sie und sah neugierig herum. Blütenduft drang ihr entgegen aus einem dunklen Höhlengang, an dessen Ende grünes Laub schimmerte. – „Ach seht!“ rief Gritta freudig, „ich hab‘ ein Loch ins Paradies gefunden!“ Alle kamen herbeigelaufen, Gritta lief voran durch den langen, dunklen Gang. Am Ende standen sie vor einer grünen Waldwiese, übersäet mit Blumen und Schmetterlingen, die rings aus dem Wald hervor in die weite Freiheit eilten. Von Scharmorzel war nichts zu sehen. „Das ist am Ende wirklich das Paradies, in das wir hier eingedrungen sind! – Hier wollen wir wohnen!“ sagte Gritta. Margareta, die über ihre Schulter weg alles anguckte, redete zu ihrer blauen Schürze: „Wenn aber nun Wilde hier sind, von denen Thoms uns gesagt hat, daß sie die kleinen Kinder fressen wie nichts?“ Die blaue Schürze ward ganz dunkel vor Schreck, und Kamilla antwortete: „Mich fressen sie nicht, ich kann ihnen Tabak schneiden. Wenn ich nur erst den Apfelbaum sehe von Eva, es werden gewiß noch Äpfel dran hängen! Ob die wohl gut schmecken? Find‘ ich ihn, so wissen wir auch gewiß, daß hier das Paradies ist. Aber seht doch das Quellchen am Waldesrand! Ich laufe hin, wer durstig ist, komme mit!“ – Alle folgten, Margareta, die Hände in den Schürzentaschen und die Wiese betrachtend, kam langsam nach. Sie fand die andern bei der Quelle an der Erde, zwischen den Heidelbeeren und unter den Sträuchern voll Brombeeren herumsuchend. Doch die Hitze machte sie müde, und sie schliefen weich gebettet im hohen Grase ein. Nur Wildebeere suchte in einer Baumrinde Schmetterlingspuppen und Käfer, und Gritta spähte zwischen den Bäumen herum. Margareta legte sich auch unter einen Busch und hielt ein Gespräch mit ihrer Schürze, die zwischen Zweigen über ihr hängend im lauen Sommerwind wehte. Es handelte über die Gefahren des Paradieses. Ob Löwen und Tiger noch zahm wären, ob sich diese wilden Tiere wohl melken ließen, daß man Butter daraus machen könne; dann, ob nicht vielleicht ein kleiner Adam noch zurückgeblieben sein möge.
Der Tag verging; immer schwerer trugen die Flügel der Bienen, die durch die Wiese streiften, und sie wendeten sich zur Heimat. Die Käfer, die zu Abend erwachen, brummten wie Geläut; da weckte Grittas Stimme alle aus ihrem ersten Schlummer. „Wie könnt ihr so lange schlafen, vom Mittag bis zum Abend? Elfried und Veronika haben die Ziege gefangen mit dem Scharmorzel, und ich hab‘ Entdeckungen gemacht.“ „Hast du den Engel mit dem feurigen Schwert entdeckt“ fragte Kamilla und guckte ganz blau aus den Heidelbeeren, „er wird wohl nichts zu tun haben und kann uns ein wenig die Gegend zeigen, – und vielleicht hat er später Zeit, uns eine Suppe zu kochen oder ein Feuerchen anzuzünden, daß sein flammendes Schwert zu Nutzen kommt.“ „Ach ja, ach ja“, riefen alle. „O, wenn er wollte, so könnte er auch später meinen Rock flicken.“ „Meinen auch, meinen auch.“ „Er kann uns ein Stück aus seinem roten Rock mit Goldfransen leihen, den er auf dem Bild im Kloster an hatte. – „Nein, ich hab‘ eine Höhle entdeckt, in der wir wohnen können“, sagte Gritta, „ich habe mir den Eingang gemerkt: ein bunter Schmetterling, wie ich noch nie gesehen, flog hinein und immer wieder zu mir, bis ich ihm folgte.“ Nun sprangen alle auf und liefen mit Gritta nach der Höhle. Wenig Schritte in den Wald, so standen sie vor dem Eingang, ein Strauch hing von oben herab über ihn, und wilde Ranken hatten alles fast zugewachsen. Gritta riß die Ranken in die Höhe, daß die gelben Blüten herabflatterten. Ein Eichkätzchen sprang mit gesträubtem Schwanz davon und schaute vom wiegenden Zweige auf die Einwandrer, die Vögel flogen auf. Sie sahen manch heimlich angelegtes Nest voll buntgesprenkelter Eier. Endlich standen sie in der Höhle. – Durch zwei Löcher im Gestein fiel Licht herein und erhellte die braunen, moosüberwachsenen Wände. „Ach ja, hier wollen wir wohnen“, rief Margareta, „aber erst guckt in alle Spalten, ob kein Bär drin sitzt.“ Kamilla holte ein Feuerzeug von Thoms aus ihrer Tasche hervor, es war noch wohl erhalten; sie schoben das zerstreute dürre Laub auf einen Haufen und zündeten es an. Es flammte auf und erleuchtete das dunkle Gestein; sie legten Reiser hinzu und lagerten sich auf den Boden. Das bärtige Tier bekam seinen Platz nah dem Feuer; es schien nicht unbekannt mit anständiger Gesellschaft, denn es vertrug sich, nun es gefangen, mit Scharmorzel sehr gut, und er achtete seine Würde als Haustier, lag dicht neben ihm und fuhr ihm zuweilen in den Pelz, aber bloß aus Scherz. „Wenn wir nur erst hier eingerichtet sind“, sagte Margareta – „ich bau einen Herd unter das eine Loch der Höhle, und wenn wir erst Hühner haben und Eier und Kücheln und erst Töpfe und Schüsselchen, auf der Wiese Lämmer weiden, wie schön wird es dann sein!“ Sie verlor sich im Anschauen ihrer Schürze. Obgleich sie heute schon viel geruht hatten, so lockte doch die Stille zum Schlafen. Eh‘ Kamilla sich versah, nickten schon alle. „Hört ihr nicht einen Bären brummen?“ fragte sie und rückte nah an das Feuer, – „wollen wir nicht den Eingang versperren? Wenn hier ein Tiger oder Löwe wohnt, so wird er gewiß zur Nachtzeit wieder kommen. Aber ihr schlaft ja schon fest!“ – Es half nichts, keiner wachte auf. – Endlich schlief sie bei der Ziege ein. Am andere Morgen waren sie früh auf. Um die Höhle ward es lebendig von ihrer Geschäftigkeit, einige sammelten Gras und Moos zum Lager und breiteten es in der Sonne aus, Margareta baute den Herd von Felssteinen; Reseda und Elfried schafften eine Art Lehm von des Bächleins Rand herbei, Kamilla schnitzte mit Thoms Messer ein Milchgeschirr mühsam aus einem Ast, an den sie alle zwölfe sich mit voller Wucht gehängt hatten, um ihn abzubrechen, und wie überreife Früchte mit ihm herab zwischen die Sträucher fielen. Kamilla ging heimlich umher nach dem Apfelbaum des Paradieses und schlug sich durch Brennesseln und Dornen, wenn so ein rotbäckiger Apfel durch die Zweige blickte. Petrina baute ein Hüttchen für die Ziege aus Zweigen mit Laub gedeckt; es war an die Wand der Höhle geklebt, sie polsterte es mit Moos und schrie bald nach Gras, bald nach Lehm, was ihr die andere handlangten. Auf einmal kam eine zweite Ziege angelaufen, sie sprang wild und sah sich scheu um. Es schien, als flögen Brennesselzweige, wie von unsichtbaren Geistern gehandhabt, ihr nach und peitschten auf ihrem Pelz herum. Alle liefen erschrocken auseinander. Aber als sie still stand, lachten sie darüber, fingen sie und banden sie an ein Grasseil neben die andere.
Der Tag verging unter Arbeit. Die Milch der Ziege und Waldbeeren stärkten sie, auch Pilze, von denen Wildebeere erklärte, sie seien nicht giftig, und zur Beglaubigung einen verzehrte; es schmeckte zwar nicht zu gut, aber sie hatten den bewußten Apfelbaum des Paradieses noch nicht gefunden, und so nahmen sie vorlieb. Die andern Tage brachten neue Geschäfte und Erfindungen: sie machten es heller, reinlicher um die Höhle, rissen das Gestrüpp hinweg und bahnten einen kleinen Weg. Am Abend schliefen sie vergnügt und müde ein; es war, als werde über Nacht alles fertig, so schnell gelang es. Wildebeere allein half nicht, nur dann und wann ließ sie sich in der Ferne sehen, selbst in der Nacht kam sie nicht heim. Darüber machte Margareta ein bedenkliches Gesicht; sie erschien nur noch, wenn sie des Morgens beim Feuer saßen, mit verfrorner Nase und rieb sich die Hände an der Glut. Wollte Margareta ihr dann eine Strafrede halten und hielt sie zwischen den Knieen, um den Vorrat weiser Gedanken auszuspinnen, die Wildebeere zu Art und Sitte zurückführen sollten, so holte diese jedesmal gedankenvoll aus ihrem grauen Sack eine Menge vertrockneter Spinnen und Käfer und legte sie zierlich auf Margaretas braunen Zopf in Ordnung. – Überwand sie den ersten Schreck, so holte Wildebeere zuletzt noch Salamander und Frösche hervor; nun fuhr Margareta auf, und sie lief davon.
Es war an einem Sonntag Morgen, als alles in Ruhe prangte. Ein reinlicher Gang von gelbem Sand führte bis vor die Höhle, an der die Ranken herauf kletterten und unter einem grünen Laubdach die weißen Käse auf einem Brett beschatteten. Die Hochgräfin Gritta saß in sanftem Schlafe vor der Höhle auf einem Stein; die Sonne spielte friedlich auf ihrem Angesicht, und Scharmorzel ihr zur Seite schnappte nach den Fliegen, die sich störend nahten. – Eine große Sehnsucht drängte ihn zum Schlaf. Wie dehnten die Büsche ihre Zweige und flüsterten müde! Die Halme ließen die vollen Samenkapseln springen, ein Vogel pfiff, der vertrauungsvoll sich genaht, den Samen unter den Blättern abpickte und ihn auf Gritta regnen ließ. Dann wurde es wieder so still, daß es Geräusch erregte, wenn die Bäume aus Faulheit die Eicheln fallen ließen; doch Scharmorzel schlief nicht. Da knisterte es in den Zweigen, ein Regen von Eicheln stürzte herab, Gritta fuhr voll Schreck in die Höhe: aus den Ästen über ihr guckte Wildebeere. „Gib acht“, rief sie, „was da aus dem Walde kommt über die Wiese! Ein Wilder – er will euch fressen!“ Der Zweig knackte unter seiner Last, und sie war fort; Gritta lief in die Höhle. Kaum hatte sie gerufen: „Ein Wilder!“ als Margareta die Milch, die sie hielt, vor Staunen ins Feuer laufen ließ; die andern liefen herzu und blieben dicht bei einander stehen. Gritta stieg auf den Felsblock, der vor dem Luftloch der Höhle lag. Man konnte von da aus unter den Baumzweigen weg bis auf die Waldwiese sehen: es schritt wirklich über die Wiese etwas lustig daher. „Wenn das ein kleiner Adam wäre!“ rief Gritta. – Es war ein grünes Röckchen und in dem Röckchen ein Knabe; ein silbernes Jagdhorn hing an seiner Seite. Sie wollte ihn eben näher besehen, als der Wilde seine Schritte nach der Höhle wendete; woher mochte das kommen? – Sie guckte sich um, das Feuer hatte bis jetzt gebrannt, und der Rauch war als Wahrzeichen ruhig seine luftige Bahn gezogen. „Lösch aus!“ rief Gritta, Margareta goß Wasser hinein, Kamilla breitete ihr Röckchen darüber; aber die Rauchwolken stiegen von allen Seiten hervor. Es half nichts mehr, wußte Gritta wohl. – „Er wird nachspüren, wo der Rauch herkommt, und uns entdecken. Ich will ihm entgegen laufen und sagen, ich wohne allein hier, und ihn wo anders hinführen“, dachte sie, „damit er die andern nicht entdeckt, oder ihm sagen“ – sie wußte selbst nicht was. Sie lief zur Höhle heraus und durch das Gesträuch; die Zweige rührten sich vor ihr, sie hielt an. Die Äste bogen sich auseinander, und ein rundrotvollwangiges Antlitz blickte neugierig ihr entgegen, umkräuselt von einem stolzen Lichtschein blonder Härchen; das Kinn ragte stolz über einen feinen steifen Spitzenkragen. Der Knabe drang durch das Gestrüpp und stand vor ihr; er legte seine Hand an das silberne Jägerhorn, das über seinem Wämslein hing, als wolle er blasen, daß er einen Bären im Fang habe. Doch dann blieb er erstaunt und schweigend stehen und sah sie an, bis ein helles Lächeln ihm den Mund öffnete. – „Wir geruhen, dir gnädig zu sein“, sagte er und nickte mit dem Kopf, daß der goldne Haarschein in Wallung geriet. Grittas Angst war verschwunden. „Komm, kleiner Knabe“, sagte sie, faßte ihn bei der Hand und führte ihn nach der Höhle. Margareta guckte neugierig mit den andern aus dem Eingang. „Er sieht gar nicht fürchterlich aus“, flüsterte sie, „nußbraune Augen und weiße Zähnchen.“ – „Sieh, wie er lacht, der kleine Adam!“ sagte Maieli, „seine Nase ist sehr schön, und er trägt seinen Kopf auf einem Präsentierteller!“ „Das ist ein weißer Spitzenkragen“, sagte Margareta, „aber sieh die schönen Stiefelchen!“ Als der fremde Knabe sich von seinem Staunen erholt, schien ihm, daß sie sich vor ihm fürchteten. „Ich geruhe, euch nichts zu tun“, rief er vergnügt, „erst hielt ich euch für Waldgeister, von denen der Hirtenknabe mir erzählt hat, der nicht weit von hier die Ziegen hütet, daß sie ihm die Ziegen wild machten und schon zwei davon vertrieben hätten.“ – – Er gewahrte Grittas zwei lange Zöpfe, griff heimlich danach und fühlte sie an, fuhr aber erschrocken zurück, wie sie sich umsah. „Wer bist du denn?“ fragte Margareta. – Die größte Verwunderung spiegelte sich auf seinem Gesicht; er strich über das Spitzenkrägelchen, wiegte mit dem Kopf und sagte: „Ich! – Das Prinzchen Bonus von Sumbona! – Das wißt ihr nicht? – Ich gehe doch alle Tage unter das Volk spazieren.“ – „Ach“, sagte Gritta, „wir sind weit hergekommen übers Meer und wissen nichts.“ – – „Von weit her übers Meer? – Das könnte ich anhören!“ rief Prinz Bonus. „Wir wollen dir zu erzählen erlauben, kleines langzöpfiges Mädchen, aber schnell, ich höre gern Geschichten. Ihr übrigen braucht euch gar nicht um Unsere Gegenwart zu tun zu machen.“ Er setzte sich auf den Felsblock, holte Nüsse aus seiner Tasche und knackte. Gritta erzählte, oft hielt er verwundert mit Nußknacken inne oder sagte: „So geht’s, reist man ohne Marschall und Kämmerer!“ Kamilla hatte unterdessen ein Schnepfchen aus des Prinzen Jagdtasche gucken sehen; sie schlich hinter ihn und zerrte daran, bis es heraus war; dann rupfte sie es und steckte es an den Holzspieß über das Feuer. Wie der Bratenduft dem aufmerksamen Prinzen in die Nase stieg und seine Blicke auf die Schnepfe fielen, griff er bestürzt nach der Jagdtasche; als er den Verlust bemerkte, rief er: „Ach, das Schnepflein für meinen Vater! – Ich habe es mir vom Jäger schießen lassen, daß ich doch sagen konnte, ich hätte etwas geschossen, und nun steckt’s am Spieße hier!“ „Sei still und höre zu, du sollst auch davon essen!“ sagte Gritta. „Soll ich davon essen und soll ich helfen kochen? Ich will den Spieß herumdrehen.“ – „Nein, hör, ich erzähle weiter, wie wir über das weite Meer schifften und herkamen.“ Das Prinzchen hörte wieder zu, konnte jedoch nicht unterlassen, nach dem Feuer zu schielen; die Unruhe stieg bei ihm, je besser der Braten dampfte. Da tönten Jagdhörner und Hundegebell ganz in der Nähe im Wald; das Prinzchen raffte die Jagdtasche auf, sprang zur Höhle heraus, nickte und verschwand im Dickicht.

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